Erinnerungen an meinen Großvater
Am 1. Mai 1949 starb mein Großvater im Alter von nur 69 Jahren. Es war das erste Mal, dass ich mit meinen 14 Jahren so unmittelbar mit dem Tod konfrontiert wurde. Zwar hatte ich im Krieg um mich herum viel Tod, Zerstörung und Leid gesehen. Aber dies war doch etwas anderes. Er war der Freund meiner Kindertage, der immer auf meiner Seite stand, wenn die strengere Großmutter anders wollte, als ich, der die Süßigkeiten, die ich ihm schenkte, für mich bewahrte, um sie mir zurück zu schenken, wenn bei mir Saure-Gurken-Zeit
war. Hierzu muss ich sagen, dass wir Kinder nur wenige Süßigkeiten bekamen, so dass es immer etwas Besonderes war. Man holte sich vom Krämer
für ein paar Pfennige Bonbons. Da gab es Goldnüsse, Himbeerbonbons, Seidenkissen, Pfefferminzbonbons in rosa und weiß. Oder man kaufte sich Brausepulver oder Salmis
, die wir Kinder uns als großen Stern auf den Handrücken klebten, um ihn dann genüsslich abzulecken. Diese Herrlichkeiten wurden in winzigen weißen Tüten mit ganz kleinen blauen Sternchen verkauft. Und in eben diesen Tütchen sammelte mein Opa die Bonbons für mich.
Ich war als Kind ein ganz schlechter Esser. Oft hat er mich erlöst und mich gegen Mutter und Großmutter verteidigt, so dass ich mein Essen stehen lassen durfte. Wir saßen uns an den Schmalseiten des Küchentisches gegenüber. Wenn das Essen mir mal wieder nicht schmeckte, und ich auf meinem Teller herumstocherte, fixierte ich Opa, um seinen Blick einzufangen. Er aber sah wohl absichtlich nicht in meine Richtung. Wenn das nichts brachte, erinnere ich mich, gab es folgenden Dialog: Opi, kannst du das nicht essen???
Von ihm kam dann ein unfreundliches Gebrummel: Sei artig und iss deinen Teller leer!
So ging es noch eine Weile und ich wusste genau, dass es nur eine Sache von kurzer Zeit war, bis durch ihn die Erlösung kam. Ob das alles pädagogisch so gut war, bleibt mal dahin gestellt, aber ich liebte ihn dafür umso mehr.
Ich muss noch hinzufügen, dass man wunderbar mit ihm spielen konnte, nicht die üblichen Spiele, nein, er wusste immer irgendwelche verrückten Sachen, die mir Spaß machten, die ich aber anderen Menschen nicht verraten durfte (sicher wäre es ihm peinlich gewesen).
Da meine Mutter berufstätig war, und die Großmutter auch vormittags einer Beschäftigung nachging, war ich die meiste Zeit mit meinem Großvater allein in der Wohnung. Er war schon früh invalide
(Rentner).
An eines unserer Lieblingsspiele, kann ich mich noch sehr gut erinnern. Jeden Morgen legte ich mich nach dem Wachwerden mit meinem Kopfkissen ans Fußende meines Bettes. Als Opa dann kam, um mich wie jeden Morgen zu wecken, stellte ich mich schlafend. Er schimpfte dann: Die verflixte Deern, nun hat sie doch schon wieder ihr ganzes Bettgestell umgedreht!
Dann fing er an, an demselben rumzurücken, was aber zu dem Spiel dazu gehörte. Das war der Moment, wo ich jedes Mal rief: Nein Opi, ich hab’ mich nur ans Fußende gelegt!
Ach so!
Opa dann: Ich hatte geglaubt, du hast dein ganzes Bett umgestellt!
Ein wirklich simples Spiel, aber lange Zeit gehörte es zu unserem Morgenritual.
Beim morgendlichen Waschen ging es mit ihm viel unkomplizierter zu, als mit meiner Mutter. Da wurde der Waschlappen etwas angefeuchtet, mir einmal ganz kurz und ganz zart ins Gesicht gedrückt und fertig war die Prozedur. Herrlich! Meine Haare wurden nur oberflächlich gekämmt. Was der Kamm nicht schaffte, erledigten die vielen Haarklemmen, die er mir auch nur sehr oberflächlich ins Haar schob, um die widerborstigen Haare zu bändigen. Haufenweise zog meine Mutter mir eben diese Klemmen wieder aus meinem Haar, wenn von ihr - leider - am Abend, das was Opa bei mir an Körperpflege versäumt hatte, nachgeholt wurde. So’n Schiet!
Mein Großvater war ein großer stattlicher Mann, mit Händen, so groß wie Klosettdeckel
. Sicher hatte er Angst, mir weh zu tun.
Aber auch ich war ganz auf seiner Seite, wenn es mal Krach
zwischen den Großeltern gab. Für mich war Oma immer die Schuldige, weil sie laut schimpfte, während Opa die Ruhe selbst war, aber oft ironisch wurde, was Kinder ja noch nicht durchschauen können. Ich weiß, dass ich dann, wenn möglich, auf seinen Schoß krabbelte, um ihn zu trösten und ihn auf seinen Kaiser-Wilhelm- Bart zu küssen, was er aber in Gegenwart anderer Personen gar nicht mochte.
Einmal spendierte meine Oma mir - was so gut wie nie vorkam - unterwegs ein Stück Kuchen. Aber ich sollte es auf keinen Fall Opa erzählen. Sicher weil es etwas sehr Ungewöhnliches war und ich Opa immer alles Wichtige aus meinem Leben erzählte, aber wohl auch beiden Großeltern gerecht werden wollte, fiel ich gleich mit der Tür ins Haus: Opi, wir haben keinen Kuchen gegessen!
Diese Geschichte hat meine Mutter mir mal erzählt.
"Mein Opili!" Wie habe ich ihn als Kind geliebt! Da ich ohne Vater aufwuchs, war er meine einzige männliche Bezugsperson. Wenn man von den Schrecken des Krieges einmal absieht, hatte ich eine glückliche und liebevolle Kindheit, an der mein Großvater sicher seinen Anteil hatte.
Bis zu meinem 10. Lebensjahr wohnte ich mit meiner Mutter und meinen Großeltern zusammen in einer großen Wohnung. Als wir im März 1945 ausgebombt wurden, trennten sich auch die Wege zwischen mir und meinem Großvater. Wir haben ungefähr - der damaligen Not gehorchend - ein Jahr in verschiedenen Stadtteilen gewohnt. Als wir danach alle wieder zusammen zogen, war vieles anders geworden. Der Krieg, der Existenzkampf danach - mein Großvater war ein gebrochener Mann geworden. War er ernsthaft krank? Man sprach damals nicht viel über Persönliches, schon gar nicht über Krankheiten.
Hinzu kam meine beginnende Pubertät, ich hatte ganz andere Interessen, neue Freunde und Spielkameraden.
Unsere gemeinsame Zeit war vorbei! Wir hatten uns verloren! Das ist mir natürlich in meinem damaligen Alter noch nicht bewusst gewesen.
Eines Tages ging es ihm sehr schlecht. Als ich los lief, um den Hausarzt meiner Großeltern zu holen, rief er mir mit wohl seiner letzten Kraft zu: Keinen Arzt, keinen Arzt!
Er wollte sterben! Aber das wollte ich nicht zu lassen! Ich rannte um sein Leben! Telefon hatte zu der Zeit ja kaum jemand. Als ich nach einiger Zeit zurückkam, sagte meine Oma mir, er sei ganz friedlich eingeschlafen.
An seine Beerdigung kann ich mich noch sehr gut erinnern. Sie fand an einem sehr kalten Maitag statt und es war eine Erdbestattung. In der Kapelle, bei der Trauerfeier, habe ich wie ein Schlosshund geheult. Auch weiß ich, dass ich etwas später am offenen Grab furchtbar gezittert habe, vor Kälte, aber auch vor innerer Erschütterung. Da ich das alles zum ersten Mal erlebte, konnte ich nicht fassen, dass nun ein geliebter Mensch in diese Grube versenkt und ihm dazu noch Erde hinterher geworfen wurde.
Außer meiner Mutter hatten meine Großeltern noch drei Kinder, die jetzt alle mit ihren Ehepartnern und mit Oma, Mutti und mir, ein nahegelegenes Lokal ansteuerten - zum Fellversaufen!
so nannte es einer meiner Onkel. Ich verstand die Welt nicht mehr. Eben am Grab waren sie - so schien es mir wenigstens - noch betroffen und jetzt wurden alle innerhalb kurzer Zeit puppenlustig! Da ich die Einzige zu sein schien, die hier überhaupt trauerte und immer noch vor Kälte schlotterte, flößte irgendwer mir einen Schnaps ein, mit den Worten, dass ich mich danach wohler fühlen würde. Aber der Schuss ging nach hinten los. Überhaupt nicht alkoholerprobt, aber durch den Schnaps sehr mutig geworden, beschimpfte ich nun die ganze Gesellschaft. Sie seien ganz "falsche Fuffziger und große …" (das Wort mag ich hier nicht wieder geben)! Ich bekam noch zu hören, dass mein Großvater auf seiner Wolke beleidigt wäre, wenn wir nicht richtig feiern würden, was mich nur noch mehr empörte.
Meine Mutter war mal wieder der einzige Mensch, der mich zu verstehen schien. Sie nahm mich kurz entschlossen an die Hand, um diese Gesellschaft, die sich, - da bin ich mir heute ganz sicher, über mich amüsiert hat - zu verlassen. Zu Hause haben wir uns noch lange über Opa unterhalten, was mir sicher besser bekommen ist, als das in meinen Augen unmoralische Besäufnis.