Auf den Wogen des Lebens
Kapitel 6
Beim Reichsarbeitsdienst
Als 1944 unsere Abiturklasse zwangsweise aufgelöst wurde, bekamen wir zu unserem Erstaunen das Notabitur
und wurden vor die Wahl gestellt, entweder in die Munitionsfabrik nach Epe oder als Flakhelferin zur Luftwaffe an den Flughafen nach Rheine zu gehen. Dort sollten wir Scheinwerfer bedienen, damit die anfliegenden feindlichen Flugzeuge besser abgeschossen werden könnten. Das erschreckte uns.
Einige Tage später meldete ich mich, zusammen mit einigen Mitschülerinnen, in der Munitionsfabrik in Epe. Ich war kräftig genug, um täglich zwölf Stunden lang an der Maschine am Band stehend zu arbeiten. Ich fräste nun Führungsrillen in Granaten. Wenn ich das Tempo nach einiger Zeit schwerer Arbeit nicht mehr halten konnte, kam der Vorarbeiter, spornte mich an oder bezichtigte mich der Sabotage. Ich strengte mich immer mehr an, fast bis zur Erschöpfung. Zwischendurch aber ging ich zur Toilette und legte von Mama eingepackte Butterbrote an die Waschplätze der russischen und polnischen Zwangsarbeiterinnen. Einige von ihnen hatten meine Zeichen bald verstanden und gemerkt, dass ich sie regelmäßig mit Essbarem versorgte, so gut ich konnte.
Eines Tages rutschte mir eine schwere Granate aus der Hand, glitt schmerzend an meinem Bein entlang und schlug eine Wunde. Ich wurde nach Hause geschickt und legte mich zwei Tage lang ins Bett. Meine Mama versorgte die Verletzungen. Am zweiten Tag meldete sich ein Kontrolleur, unerwartet, nicht angemeldet, im Auftrag der Fabrik. Er erfragte Einlass und betrat ziemlich unverschämt fordernd mein Schlafzimmer. Er schaute sich die Verletzungen an und befand, dass ich am nächsten Tag wieder arbeiten müsse. Über die Art, wie er meine Mutter und mich behandelt hatte, und über seinen Befehl, am nächsten Tag wieder arbeiten zu müssen, ärgerte ich mich. Ich meldete mich per Telefon freiwillig bei einer Meldestelle für den weiblichen Arbeitsdienst und bekam umgehend einen Stellungsbefehl zum Arbeitsdienst
.
Fünf Tage später saß ich im Zug und fuhr ganz alleine über Berlin nach Ostpommern in das Arbeitsdienstlager. Auf dem Weg dorthin besuchte ich für einige Stunden unsere Fotografen Bernd und Ria Mirbach in Berlin. Nach der Weiterfahrt fand ich in PomeiskePomeiske, Landkreis Bütow, Pommern, heute Pomysk Wielki [8], Treuenfelde an der polnischen Grenze das Arbeitsdienstlager und meldete mich, gehorsam und pünktlich. Ich lebte mich schnell ein und fand auf den ersten Blick
eine Kameradin, mit der ich mich anfreundete. Inge wurde ein Leben lang, bis heute, meine Freundin.
Am Sonntagmorgen wollte ich zur Heiligen Messe und bat um Ausgehurlaub. Vorwurfsvoll schaute mich die Führerin an und gebot mir, vorher alle hölzernen Plumpsklos im Lager zu scheuern. Ohne zu murren befolgte ich den Befehl und bekam danach sogar ein Fahrrad gestellt, um ins nächste Dorf radeln zu können. Ich grollte ihr nicht.
Ich arbeitete als Arbeitsmaid täglich auf einem kleinen, sehr einfachen, ärmlichen, kinderreichen Bauernhof. Ich kochte den Schweinetopf, fütterte die Schweine, hackte Rüben, die ich aus einer eisgefrorenen Miete holte, wusch die Wäsche der großen Familie mit der Hand, putzte, stopfte, bügelte und half beim Dreschen. Bei den Mahlzeiten aßen wir alle mit unserem Löffel aus einem großen Topf, der im Wohn-Schlafzimmer auf einem riesigen Tisch stand. In dem einzigen, gezimmerten großen Wandbett schlief die ganze Familie. Ich packte in der Bauernfamilie tüchtig mit an, denn ich sah, dass die Bäuerin wieder ein Baby erwartete. Ich wurde gebraucht. Ich fühlte mich nicht missbraucht. Der frühmorgendliche Weg zu meinem
Bauernhof war jedes Mal ein Erlebnis. Ich stapfte durch den dicken Schnee und sah in der Luft glitzernde Sternchen, die durch die gefrorene Luft verursacht wurden. Ein Wintermärchen, unwirklich und endlos! Der Weg war weit und unbeschreiblich schön.
Immer näher rückte nun die Ostfront. Wir hörten das bedrohliche Grollen und Donnern von Geschützen in der Ferne. Es begann ein unverständliches Putzen und Vorbereiten im Lager. Wir backten Plätzchen und Kuchen, brieten große Braten. Wir durften aber nichts davon essen. Unsere Führerin sagte, dass alles für die bald eintreffenden deutschen Soldaten geschehe. Wir fragten uns ängstlich, ob die Front schon so nahe gerückt war. Aber dann hörten wir wieder tagelang keinen Lärm der anrückenden Front. Man beruhigte uns. lm Radio hörten wir immer wieder Sondermeldungen, Siegesmeldungen. Eines Morgens wurden wir mit Spitzhacken und Schaufeln ausgestattet, mit einem großen Pferde-Schlitten an den nahen Ostwall
Der Pommernwall, im Volksmund Ostwall
(Pommern-Stellung oder Pommernlinie) war eine von 1932 bis 1945 angelegte Linie von Befestigungen in Pommern von Landsberg an der Warthe bis etwa Stolpmünde.Siehe Wikipedia.org [9] gebracht. Wir sollten das Eis mit Spitzhacken aufhacken und den Wall erhöhen! Aber all unser Mühen war vergeblich und die Aktion wurde abgebrochen. Wer hatte uns diesen unsinnigen Befehl gegeben? Am nächsten Tag ging ich wieder auf meinen Bauernhof und tat meine gewohnte Arbeit. Aber schon bald danach stand morgens ein Leiterwagen mit zwei angespannten Pferden vor der Türe. Der Bauer, der eigentlich beim Volkssturm Dienst tun musste, war heimgekehrt und half beim Aufladen der als wichtig erachteten Dinge seines Hausstandes. Ich wusste, dass dies ein Flüchtlingswagen war. Aber die vom Bauern organisierte Auswahl der als lebenswichtig erachteten Dinge, wie ein kleiner Wohnzimmerschrank, eine Standuhr, verstand ich nicht. Ich schwieg, denn im Grunde war ja doch alles vergeblich. Ich wollte die Hoffnung auf Rettung nicht zerstören. Der russische Zwangsarbeiter bot mir an, mich mit ihm zusammen irgendwo zu verstecken. Er wolle mich beschützen, wenn sein Volk siegreich einrücken würde. Er ahnte nicht, wie es den russischen Zwangsarbeitern ergehen würde, wenn sie befreit
würden. Oftmals wurden sie als Deserteure
streng bestraft und nach Sibirien zur Zwangsarbeit geschickt.
Ich wollte zurück ins Lager. Dort angekommen, sah ich, dass auch die Arbeitsmaiden große Flüchtlingsschlitten gepackt hatten und bereit zur Abfahrt waren. Wir bekamen jeder einen Umhängebeutel mit Essbarem und stiegen auf. Wir fuhren zum nächsten Bahnhof. Dort wurden wir in anrollende, schon mit Flüchtlingen überladene Viehwaggons, die aus dem Osten kamen, gestopft. Inge und ich suchten uns einen halbwegs trockenen Platz im aufgeschütteten Stroh und kuschelten uns aneinander, rieben uns immer wieder gegenseitig die eiskalten Hände und Füße. Uschi, eine Kameradin, hatte schon nach zwei Tagen erfrorene Zehen.
Der Zug zog an und hielt bald wieder auf freier Strecke. Das geschah immerzu, alle zehn oder zwanzig Kilometer kamen wir zum Stehen. Als der Zug auch mal in einem Bahnhof anhielt, sahen wir, dass von braunen Schwestern im Bahnhof Lebensmittel verteilt wurden. Eilig stiegen wir aus, ergatterten etwas von den Fleischstücken und liefen am Zug mit den normalen Abteilen entlang und baten immer wieder vergeblich um Einlass. Ein paar Soldaten, die uns beobachtet hatten, nahmen uns später in dem geschlossenen Postwagen auf. Wir dankten ihnen mit unseren gerade bekommenen, riesengroßen, gebratenen Fleischstücken, die sie sich dann mit den schon im Wagen sitzenden Familien mit kleinen Kindern teilten. Die Fahrt ging weiter nach Westen, und wir konnten endlich etwas schlafen. Das restliche Essen aus unseren Beuteln, wie Wurst und Fleisch, Kuchen und Plätzchen, wurde auf Alle im Wagen aufgeteilt. So oft der Zug anhielt, sprangen Inge und ich in unseren Arbeitsdienstuniformen heraus, um irgendwie Essbares zu finden. An den Bahnhöfen wurden mehrfach Butterbrote verteilt und Suppen ausgeschenkt. Die Soldaten blieben fast immer im Wagen! Wir ahnten, warum! Waren sie Deserteure? Irgendwann kamen wir am Bahnhof Zoo in Berlin an. Wir suchten wieder meine in der Nähe wohnenden Verwandten auf. Ria erkannte mich zunächst nicht, so vergammelt, ungepflegt und abgemagert standen wir vor ihrer Tür; zwei verdreckte Arbeitsmaiden! Wir blieben nur einige Stunden, da die Fliegerangriffe auf Berlin immer häufiger wurden. Und Inge drängte - nach einer Grundreinigung unserer Körper - zur befohlenen Weiterreise. Laut Stellungsbefehl mussten wir uns in Seyda in Sachsen melden. Wir kamen tatsächlich irgendwann dort an, froh, dass wir noch beieinander waren.
Charlotte, eine Maid aus Sachsen, zeigte uns, wie man im Lager überleben konnte, wie man etwas zu Essen ergattern konnte. Es gab einen Privatkeller, der voller Kartoffeln war. Nachts konnte man durch ein Kellerfenster einsteigen und sich bedienen. Die Kartoffeln wurden von uns geschabt und auf dem Bullerofen der Baracke geröstet. Bei unserem Hunger schmeckten sie uns, mit etwas Salz bestreut, köstlich. Im Lager gab es nur dünne Suppen, von denen man nicht satt wurde. Charlotte wusste auch, dass Oschatz ganz in der Nähe lag. Man konnte den Ort zu Fuß oder mit einem Bus erreichen. Schon an einem der nächsten Tage machte ich mich in aller Frühe auf, um meinen Günter in seiner Kaserne aufzusuchen.
Dorthin zu kommen war nicht schwierig, aber in die Kaserne hinein zu kommen, erschien hoffnungslos. Die beiden Soldaten, die am Eingang Posten standen, ließen mich nicht hinein. Ich wartete und wartete und flehte sie immer wieder an. Da öffnete sich auf einmal das Tor und ein hoch mit Orden und Zeichen dekorierter, etwas älterer Offizier kam zusammen mit einigen Soldaten heraus. Ich rannte auf ihn zu und bat ihn um Hilfe. Er blieb tatsächlich stehen, schaute lächelnd auf mich herab, hörte sich meine Bitte an und versprach, dass Günter am Abend ab zehn Uhr Nachturlaub bekommen würde.
Aber dann ist es doch schon dunkel und späte Nacht!
brach es aus mir heraus. Alle Soldaten lachten laut. Er aber strich mir väterlich über den Kopf und ließ sich lächelnd das Telefon reichen. Ich hörte, wie er es organisierte, dass Günter ab Mittag für sechs Stunden Ausgehurlaub bekam. Günter kam Punkt zwölf Uhr strahlend und glücklich lächelnd zum Tor und zog mit mir zusammen für sechs Stunden durch Wald und Feld. Ich sah ihn zum letzten Mal!
Bald waren die meisten Arbeitsmaiden aus Treuenfelde von Ostpommern aus im Lager eingetroffen. Ein freudiges Wiedersehen! Wir wurden aber schon einige Tage später wieder abtransportiert, nach Halle an der Saale. In einem Heim der Straßenbahner quartierte man uns ein. Wir bekamen kurze Instruktionen und mussten schon am nächsten Morgen als Kassiererinnen Straßenbahndienst tun. Liebe, kleine Schaffnerin! Kling, kling, kling! Sag, wo fährt dein Wagen hin? Kling, kling, kling!
Immer wieder hörte ich diese Schlagermelodie, gesungen, gepfiffen, gesummt, hinter mir erklingen.
Wie Leipzig und Dresden wurde auch Halle bombardiert. Schlotternd vor Todesangst flohen wir in die Bunker. Eines Tages wurde unser Heim getroffen! Unsere Kameradin aus Hamburg, Batschi, die krank im Bett gelegen hatte, wurde aus dem Haus geschleudert und war auf der Stelle tot. Alle anderen Maiden hatten Straßenbahndienst getan und waren gerettet. Batschis Eltern reisten an und meine Freundin Inge versuchte sie zu trösten und bei allen Formalitäten für den Abtransport der Toten zu helfen. Die untröstlichen Eltern hatten ihre einzige Tochter verloren!
Wir aber wurden nach Hause geschickt. All unsere verbliebenen Habseligkeiten waren verbrannt. Das Heim war unbewohnbar. Wir nahmen voneinander Abschied, tauschten Adressen aus und traten den unbekannten Heimweg an. Wir besaßen Freifahrtscheine für Bus und Bahn, unsere Uniform und einen Stellungsbefehl, der uns die baldige Rückkehr nach Halle zum erneuten Dienstantritt befahl. Wir Mädchen aus dem Münsterland, Doris, Elisabeth und ich, taten uns zusammen und begannen eine tagelange Odyssee gen Westen. Wir fuhren mit der Bahn, mit Bussen, mit Militärfahrzeugen, mit angehaltenen Autos, immer weiter gen Westen. Am Niederrhein erkannte Doris, dass ihr Vater dort in einer Kaserne sein musste. Ein Militärauto brachte uns gemäß Vaters Anschrift dorthin. Wir wurden mit weißen Oberhemden frisch ausgestattet und konnten abends im Offizierskasino zu Abend speisen. Es war für uns wie Weihnachten! Weiße Tischdecken, Servietten, leckeres Essen! Am nächsten Morgen aber wurden wir mit einem Reiseplan und etwas Geld in der Tasche auf die letzte Etappe unserer Heimreise geschickt. Wir drei Westfalenmädchen fanden tatsächlich heim; nach Stadtlohn, nach Ochtrup und nach Gronau. Doch schon einige Tage später wurde Stadtlohn bombardiert und Doris fand den Tod. Zu meinem Erstaunen war unser Papa schon vom Militär heimgekehrt. Er war entlassen worden, wegen Altersbeschwerden!
Nach einigen Tagen fing ich an, einen Rucksack zu packen, um nach Halle zurückzukehren. Ich hatte doch den Fahneneid geschworen! Nach einer heftigen Diskussion mit unserem Papa erkannte ich endlich, dass es heller Wahnsinn war, noch einmal gen Osten aufzubrechen. Unser Papa zeigte mir auf einer Karte die Frontlinien. Ich blieb bei meinen Lieben.
Auch im Westen rückte die Front immer näher. In der Stadt fühlte man sich nicht mehr sicher. Unser Papa organisierte einen Leiterwagen mit zwei Zugpferden. Wir packten Matratzen und Wäsche, Tisch und Stühle und einen großen Spiegel obenauf. Wir starteten unsere Flucht ins Venn zu Tante Gertrud Hogen. Wir kamen nur langsam voran, denn wir Mädchen trugen schwere Rucksäcke und Affen
, so wurden unsere Militärrucksäcke genannt. Auf einmal kreiste ein Tiefflieger über uns. Wir erkannten, dass unser obenauf liegender Spiegel den Piloten irritiert hatte. Wir Mädchen sprangen in den Moorwassergraben und tauchten so tief wir konnten ein. Papa deckte den Spiegel ab. Der Flieger drehte ab. Ob es ein englischer Aufklärungsflieger gewesen war, konnten wir nicht erkennen.
Tante Gertrud quartierte uns im ausgeräumten Schweinestall ein. Wir fühlten uns sicher und geborgen. Dennoch gruben wir bald Einmannlöcher und einen Graben, in den wir bei Angriffen hätten flüchten können. Auch unsere dicke Tante Gertrud wollte den Sicherheitsgraben ausprobieren. Sie sprang behände hinein und kam nicht mehr heraus. Erst als mehrere Männer aus der Bauernschaft zu Hilfe gekommen waren, konnten wir sie retten!
Am Karsamstag sahen wir immer wieder deutsche Soldaten von der holländischen Grenze aus ins Landesinnere zurückströmen. Ein Soldat kam herein und riet uns, eine weiße Fahne zu hissen. Als Tante Gertrud das hörte, rief sie: Dat moat nich sinn. Ick heff nuit de rote Fahne rut doahn, nu do ick auk nich de witte rut!
Während der Nacht hörten wir das Rollen von Militärfahrzeugen und von schweren Geschützen in Richtung Gronau. Nach einer längeren Pause verstummten die bedrohlichen unheimlichen Geräusche, um bald danach wieder einzusetzen. Durch einen Feldstecher erkannten wir, dass es nun fremde Fahrzeuge waren, die über die Heidestraße rollten. Über den Feldweg kam ein Motorrad zu uns und der uniformierte Fahrer fragte etwas in englischer Sprache. Wir begriffen, dass wir die weiße Fahne hissen mussten. Unser Papa hatte in der Nacht aus Betttüchern mehrere Fahnen vorbereitet und wir konnten sie nun schleunigst, auch gegen Tante Gertruds Willen, auf dem Haus und den Stallungen und Scheunen anbringen. Der Fahrer schenkte uns noch Schokolade, dann fuhr er davon.
[9] Der Pommernwall, im Volksmund
Ostwall(Pommern-Stellung oder Pommernlinie) war eine von 1932 bis 1945 angelegte Linie von Befestigungen in Pommern von Landsberg an der Warthe bis etwa Stolpmünde.