An der Schleeschule
Ostern 1956 wechselte ich in die SchleeschuleDas Ernst-Schlee-Gymnasium war ein Neusprachliches Gymnasium in Hamburg-Groß Flottbek am Ohlenkamp zwischen Kalckreuthweg und Osdorfer Landstraße. Es wurde nach dem Reformpädagogen Ernst Schlee benannt.Siehe Wikipedia.org [1], das neusprachliche Ernst-Schlee-Gymnasium
, und kam in die Klasse 5b. Wie das Christianeum war auch die Schleeschule eine reine Jungenschule. Das Lehrerkollegium bestand ausschließlich aus Männern. Die einzige Frau war die Schulsekretärin. Das neue Schulgebäude war erst ein halbes Jahr zuvor in Betrieb genommen. Mein Schulweg war nicht länger als 300 Meter. Ich musste nur den Kalkreuthweg kreuzen und durch den Malerwinkel in den Ohlenkamp gehen. Meine Klasse war in einem der Pavillons im südlichen Teil des Schulgeländes untergebracht.
Die Einschulung begann etwas merkwürdig, denn unsere Klasse bekam keinen Klassenlehrer ab. Aber es gab einen Lehrer, der unsere Klasse kommissarisch führte. Er hieß Bodo Skok, war klein von Gestalt, und wir Fünftklässler fanden ihn richtig nett. Die Schulleitung muss aber anderer Meinung gewesen sein, denn sonst hätte sie ihm die Klasse sofort gegeben. Doch Mitte der 1950er Jahre waren die Lücken, die der Krieg auch in die Lehrerschaft gerissen hatte, evident. So wurde er schließlich doch zu unserem Klassenlehrer ernannt. Wir Schüler jubelten. Wir jubelten zu früh, denn als wir älter wurden, tanzten wir ihm auf der Nase herum. Drei Jahre blieb er unser Klassenlehrer, Ostern 1959 verließ er die Schule.
In der 7. Klasse war im Fach Deutsch die deutsche Grammatik dran. Der Autor unserer Grammatik-Bibel
, einem recht schmalen Buch mit getöntem Deckel, hieß Hans Thiel, soweit ich mich erinnere. Daher hieß das Buch im Schuljargon Der Thiel
. Wir bimsten in dem Schuljahr Rechtschreibung und Interpunktion, wovon ich heute noch profitiere.
Unser neuer Klassenlehrer wurde Kurt Bode. Er war ganz anders als Bodo Skok. Rückblickend muss ich sagen, dass er ein sehr guter Lehrer war. Da es wohl zu wenig Fachlehrer gab, unterrichtete er uns auch in Erdkunde, obwohl es nicht zu seinen Fächern gehörte. Dabei referierte er Fakten zum behandelnden Land aus einer Kladde. Ihm war wohl selbst zu sehr bewusst, dass Erdkunde nicht zu seinen Stärken gehörte. Deshalb charakterisierte er seinen Unterricht selbstironisch als lichtvoll
. Er lehrte uns beispielsweise, dass man in Ägypten mit einem Bein im Kulturland und mit dem anderen in der Wüste stehen
könne. So schlecht war sein Unterricht wohl doch nicht, denn wie Recht er hatte, konnte ich einige Jahre später selbst verifizieren. Das schrieb ich einem früheren Klassenkameraden mit der Anmerkung, dass der Satz aus dem lichtvollen Erdkundeunterricht
stammte. Als mein Klassenkamerad meinen Brief in der Klasse vorlas, soll Kurt Bode süßsauer gelächelt haben.
Beim Stichwort Main
kommt mir sofort wieder sein lichtvoller Erdkundeunterricht
in den Sinn. Ich lernte, dass es ein Maindreieck und ein Mainviereck gibt, und dass im Viereck der Spessart liegt. Dann schweifen meine Gedanken weiter zu dem Film, der 1958 in die Kinos kam und der mich begeistert hatte: Das Wirtshaus im Spessart
mit Lilo Pulver und den beiden grandiosen Charakteren Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller.
Wenn wir Arbeiten schrieben, warnte er uns vor dem Schummeln mit den Worten: Mein Auge sieht, wohin es blickt.
Ich glaube, dass ich der einzige war, der wusste, dass es ein Zitat aus dem Evangelischen Kirchengesangbuch war, ein unvollständiges zumal.
(Vollständiges Zitat)Aus Christian Fürchtegott Gellerts Kirchenlied Preis des Schöpfers
. Dort heißt es im 2. Vers: Mein Auge sieht, wohin es blickt, / die Wunder deiner Werke; / der Himmel, prächtig ausgeschmückt, / preist dich, du Gott der Stärke...
[2]
Jedenfalls tat es seine Wirkung.
Ich hatte keine Ahnung, zu welchem Unterrichtsfach das folgende Projekt gehörte, aber ich vermute im Nachhinein, dass es sich um Biologie gehandelt haben musste. Eines Tages fuhr Kurt Bode mit einigen Schülern, auch ich war dabei, mit in seinem Ford 17m in die Lüneburger Heide. Dort stachen wir Soden mit Heidekraut und anderen Heidegewächsen ab und verstauten sie dann in dem großen Kofferraum. Obwohl der Wagen durch die Last stark in die Knie ging, schafften wir es, unsere Beute zur Schule zu transportieren. Dann gestalteten wir mit den Heidekrautsoden, Kiefern und Wachholdersträuchern und einigen Feldsteinen eine Heidelandschaft rund um den Klassenpavillon. Alles sah so echt aus, dass man denken könnte, jeden Moment könne sich aus dem Heidekraut eine Kreuzotter schlängeln. Der Garten fand viel Anerkennung in der Schule. Später erfuhr ich aus einem Brief meines Klassenlehrers, dass der Direktor plante, den Garten in die Internationale Gartenbauausstellung 1963 in Hamburg einbeziehen zu lassen. Was daraus geworden ist, wurde mir nicht überliefert.
Unser Mathelehrer hieß Herr Thießen. Er war auch ein sehr sympathischer Lehrer. Im Krieg hatte er ein Bein lassen müssen, das durch ein Holzbein ersetzt worden war. Da ihm das Gehen nicht leicht fiel, holte ich ihn zu den Mathestunden aus dem Lehrerzimmer ab, um seine Aktentasche zu tragen. Ich war also sein(e) Ge(h)hilfe.
Ab der 7. Klasse unterrichtete uns Dr. Hannes Arnold in Latein. Er genoss keinen Respekt unter uns Schülern. Einer der respektlosen Schnacks über ihn lautete: Hannes von der Alm hat die Büx voll Qualm
. Um ihn zu provozieren, fragten wir ihn während der Klassenarbeiten gelegentlich, was ein im Übersetzungstext vorkommendes Wort bedeuten würde. Seine stereotype Antwort lautete: Lass weg, wenn du es nicht weißt
. Einmal hat er aber doch unbeabsichtigt die richtige Antwort gegeben. - In Vertretungsstunden las er uns aus seinen LandserheftenDer Landser
ist der Titel einer von 1957 bis 2013 wöchentlich erschienenen Reihe kriegsverherrlichender Heftromane. Im Untertitel wurden dort Erlebnisberichte zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges
angekündigt. Faktisch enthielten sie jedoch pseudodokumentarische Abenteuergeschichten aus einer unpolitischen Sicht deutscher Landser vor der Kulisse des Zweiten Weltkrieges. In diesen Heften wurde der Mythos der sauberen Wehrmacht
propagiert.Siehe Wikipedia.org [3] vor. Da vollbrachten deutsche Stuka-Piloten wahre Heldentaten. Auf der Seite der Engländer kämpfte ein gewisser Sgt. Baker. Hannes hatte die Verharmlosung des Dritten Reiches und die Verherrlichung des Krieges wohl noch nicht überwunden. Da gab es wohl noch Einiges aufzuarbeiten...
Dann kann ich mich noch gut an Albert Feser erinnern, ein freundlicher und milder Mensch, der uns in Kunst unterrichtete. Damals ahnte ich noch nicht, dass er ein in Hamburg angesehener Landschaftsmaler war. Vor kurzem habe ich über ihn als späte Ehrung einen Wikipedia-ArtikelAlbert Feser (1901-1993) war ein impressionistischer Maler und Kunsterzieher. Er war ein Vertreter der Freilichtmalerei.Siehe Wikipedia.org [4] geschrieben. Einige seiner Bilder entdeckten meine Frau und ich bei einem Besuch im Café Louis C. Jacob an der Elbchaussee.
Und dann war da der Deutschlehrer Reinhard Jacobsen. Er war für die Schulzeitung Der Schlee-Schüler
nicht zu verwechseln mit der Schülerzeitung Die Pauke
[5] zuständig, in der die Schulleitung die Eltern über schulische Ereignisse informierte. Auf ihn bin ich heute noch sauer, obwohl er sicherlich längst unter der Erde ist. Aber dazu muss ich etwas ausholen:
Als wir nach Jerusalem umgezogen waren, gaben Thomas und ich eine kleine Zeitung heraus, die etwa vierteljährlich erschien, aber nach sechs Exemplaren wegen meines Schulwechsels nach Kairo einschlief. Darin berichteten wir über unsere Erlebnisse im Heiligen Land und schickten sie an unsere Verwandtschaft und alten Klassenkameraden. Einige dieser Berichte veröffentlichte Herr Jacobsen in dieser Schulzeitung. Von meinem Recht auf geistiges Eigentum wusste ich damals noch nichts. Sicherlich hätte ich nichts dagegen gehabt, wenn er uns gefragt hätte. Aber das tat er nicht. Er missbrauchte rücksichtslos unser Recht. Anschließend(!) schrieb er uns: Dass ich eure Aufsätze stilistisch etwas geglättet habe - ohne sie dabei zu verfälschen - werdet ihr mir wohl zugestehen?
Was aber dem Fass den Boden ausschlug, war etwas anderes: Meinen Aufsatz über Weihnachten, in dem ich darüber lästerte, dass man an jeder Ecke mit Stille Nacht, heilige Nacht
beschallt wurde, glättete
er so stark, dass von meinem Running Gag nichts mehr übrig blieb und ich seinen
Artikel richtig langweilig fand.
In jedem Jahr wurden wir Schüler aufgefordert, für die KriegsgräberfürsorgeDer Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge wurde 1919 gegründet und ist ein eingetragener gemeinnütziger Verein mit humanitärem Auftrag. Er erhält und betreut Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft im Ausland.Siehe Wikipedia.org [6] zu sammeln. Das war eine bundesweite Aktion. Wir gingen von Haus zu Haus und putzten Klinken für die gute Sache. Unsere Schule schoss Jahr um Jahr den Vogel ab und unsere Klasse war die erfolgreichste der Schule mit über 5.200 D-Mark. Bester Einzelsammler war wie immer unser Klassenkamerad Peter Krug.
[2] Aus Christian Fürchtegott Gellerts Kirchenlied
Preis des Schöpfers. Dort heißt es im 2. Vers:
Mein Auge sieht, wohin es blickt, / die Wunder deiner Werke; / der Himmel, prächtig ausgeschmückt, / preist dich, du Gott der Stärke...
[3]
Der Landserist der Titel einer von 1957 bis 2013 wöchentlich erschienenen Reihe kriegsverherrlichender Heftromane. Im Untertitel wurden dort
Erlebnisberichte zur Geschichte des Zweiten Weltkriegesangekündigt. Faktisch enthielten sie jedoch pseudodokumentarische Abenteuergeschichten aus einer unpolitischen Sicht deutscher Landser vor der Kulisse des Zweiten Weltkrieges. In diesen Heften wurde der Mythos der
sauberen Wehrmachtpropagiert.
[4] Albert Feser (1901-1993) war ein impressionistischer Maler und Kunsterzieher. Er war ein Vertreter der Freilichtmalerei.
[5] nicht zu verwechseln mit der Schülerzeitung
Die Pauke
[6] Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge wurde 1919 gegründet und ist ein eingetragener gemeinnütziger Verein mit humanitärem Auftrag. Er erhält und betreut Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft im Ausland.