Der 17. Juni 1953 darf nicht vergessen werden
Am 17. Juni 1953 schossen und walzten modernste, russische Panzer einen Volksaufstand in der jungen Deutschen Demokratischen Republik
(DDR) mit äußerster Brutalität nieder. Aus einem Streik der Bauarbeiter in der damaligen Stalinallee in Berlin gegen willkürlich erhöhte Arbeitsnormen war rasend schnell ein allgemeiner Volksaufstand in — laut Zeitzeugen — nahezu 500 Städten geworden.
Die DDR umfasste die sowjetische Besatzungszone und den sowjetischen Sektor von Berlin, obwohl für die deutsche Hauptstadt das Viermächteabkommen über Berlin
galt und von den Siegermächten rein rechtlich nur gemeinsam verwaltet werden durfte. Aber das kümmerte im Kalten Krieg den Kreml und das SED-Regime überhaupt nicht.
Den hunderten stählernen Kriegsmaschinen mit Kanonen und Maschinengewehren standen hauptsächlich Arbeiter, aber auch viele andere Menschen aus allen Schichten des Volkes protestierend und schutzlos gegenüber. Ihre physische Bewaffnung: Bloße Fäuste, Stöcke und Steine wie schon bei den Urmenschen, vielleicht hier und da ein Molotow-Cocktail als ihre modernste Waffe. Aber sie besaßen unbesiegbare, geistige Waffen: Unbändigen Freiheitswillen, die Menschenrechte und den gerechten Zorn auf das verhasste, diktatorische Regime, das sich nicht auf die Mehrheit des Volkes, sondern auf die hochgerüstete, sowjetische Besatzungsmacht stützen konnte. Die Bonzen der Sozialistischen Einheitspartei
(SED) in unheiliger Allianz mit dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund
(FDGB) forderten immer höhere Arbeitsnormen bei gleicher Bezahlung. Sie ernannten linientreue Hennecke-Typen
Adolf Hennecke wurde, nachdem der jüngere Bergmann Franz Franik die Durchführung einer Hochleistungsschicht abgelehnt hatte, da er die Reaktionen seiner Kollegen auf die von oben
angeordnete Sonderschicht fürchtete, vom Revierdirektor ausgewählt, um nach dem Vorbild des sowjetischen Bergmanns Alexei Stachanow eine Aktivistenbewegung in der sowjetischen Besatzungszone (später DDR) zu initiieren. Hennecke war 43 Jahre alt, SED-Mitglied und hatte eine Parteischule besucht. Anfangs weigerte er sich, da er befürchtete, dass ihm die Arbeitskollegen diese Aktion übelnehmen könnten (was dann auch in Form des Rufes Normbrecher
geschah). Aber später erklärte er sich bereit, seine Hochleistungsschicht zu fahren.
Hennecke fuhr in den Karl-Liebknecht-Schacht des Lugau-Oelsnitzer Steinkohlenreviers ein und förderte am 13. Oktober 1948 statt der üblichen 6,3 Kubikmeter (Hauer-Norm) in einer gut vorbereiteten Schicht 24,4 Kubikmeter Kohle. Die Abbaustelle hatte er sich am Tag zuvor ausgesucht. Damit erfüllte er die Arbeitsnorm mit 387 Prozent. Für diese Leistung erhielt Hennecke 1,5 Kilogramm Fettzulage, drei Schachteln Zigaretten, eine Flasche Branntwein, 50 Mark Geldprämie sowie einen Blumenstrauß des Kollektivs. Diese Normübererfüllung wurde zum Auslöser der sogenannten Hennecke-Bewegung. Ein Jahr später erhielt Hennecke 1949 als eine der ersten Personen den neu gestifteten Nationalpreis der DDR I. Klasse, der mit 100.000 Mark dotiert war.Quelle: Wikipedia (angebliche Normübererfüller) zu Helden der Arbeit und dekorierten sie mit großem Pomp.
Das vorläufige Ende ist bekannt: Ein Blutbad mit vielen Toten und Verwundeten, Verhaftungen, Zuchthaus und Hinrichtungen, Menschenverachtung, Willkür und dumpfe Knechtung des Geistes - weitere quälende 36 Jahre lang.
Aber es war Gott sei Dank nicht das endgültige Ende des Freiheitskampfes, denn am 9. November 1989 trugen die freiheitsliebenden Menschen mit dem Fall der blutgetränkten Mauer ihren überwältigenden Sieg über die Unterdrücker davon. Millionen weinten vor Freude und Rührung, weil Hunderttausende unbeirrt, unermüdlich und vor allem friedlich demonstriert hatten. Ihre Waffen: Wir sind das Volk!
Keine Gewalt!
Deutschland einig Vaterland!
Montagsgebete und Kerzen gegen Prügelknechte und Maschinenpistolen. Die Menschen hatten inzwischen gelernt, wie eine Wende unblutig gelingen kann.
Willy Brandt am Brandenburger Tor: Hier wächst zusammen, was zusammengehört.
Für mich ein Weltwunder. Eine siegreiche Revolution ohne einen einzigen Schuss. Ein Triumph des Geistes. Wann gab es das?
Wie gut, dass die Abgeordneten im Bundestag der Bundesrepublik Deutschland damals den 17. Juni zum Tag der deutschen Einheit und zum gesetzlichen Feiertag erklärt hatten. Somit ist über Jahrzehnte hinweg immer wieder an die Hoffnung und den Wunsch nach Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands in Frieden und Freiheit erinnert worden.
Von den Ereignissen damals vor 60 Jahren im Jahre 1953 habe ich anfangs ganz wenig mitbekommen. Wir, die Oberprima, hatten gerade unsere zweiwöchige KlassenfahrtLesen Sie auch:
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durch Süddeutschland per Fahrrad beendet und arbeiteten sie auf. Während der Fahrt waren wir auf die vielen kulturellen Sehenswürdigkeiten, auf die wir uns gründlich vorbereitet hatten, fixiert und alles andere war Nebensache für uns. Natürlich gehörten auch regionale Köstlichkeiten wie zum Beispiel der Äppelwoi und die unerhört vielen Biersorten dazu. Die Neuigkeiten im Weltgeschehen erreichten (und interessierten) uns in diesen Wochen sehr, sehr spärlich; meistens nur das, was wir während der Fahrt mündlich aufschnappten.
Denn was die Nachrichtenversorgung betraf, darf man es sich nicht so wie heute mit dem Überfluss an Meldungen und Meinungen vorstellen. Als Standard galten Radio mit wenigen Sendern und dünne Tageszeitungen, aber auch nicht für jedermann erschwinglich. Die BILD-Zeitung steckte noch in den Kinderschuhen, kostete 10 Pfennig für vier Seiten, war aber nicht sonderlich angesehen bei den sogenannten Gebildeten wegen ihres Sensationsstils mit wenig Substanz. Hätte ich mich im Unterricht auf sie berufen, wären die Folgen für meine Deutschnote unabsehbar gewesen. Fernsehgeräte waren absolute Rarität. Es muss schon als Sensation bewertet werden, dass wir in einer der Jugendherbergen, in denen wir übernachteten, die Inthronisation der britischen Königin, Queen Elisabeth II, auf einem winzigen Schwarz-Weiß-Fernsehschirm gucken konnten. Farbfernseher gehörten noch nicht zum Stand der Technik.
Zu Hause angekommen, erfuhr ich nur, dass in Berlin in der Stalinallee die Bauarbeiter gegen das um 10% erhöhte Arbeitspensum bei gleichem Lohn tagelang gestreikt und russische Panzer die sogenannten Krawalle
blutig beendet hätten. Nach und nach sickerte mehr durch den Eisernen Vorhang und ließ einen politischen Aufstand gegen das Regime erkennen. Die anschließenden Verfolgungen durch die Ulbrichtdiktatur konnte ich mehr erahnen als wissen. Dennoch entstand in mir ein Riesenrespekt vor diesen unerschrockenen Kerlen auf dem Bau, die den politischen Koloss Sowjetunion und die SED-Führungsclique in seinem Trabanten DDR — mit Walter Ulbricht, dem Genossen Ziegenbart mit seiner unverwechselbaren Fistelstimme, an der Spitze — herausgefordert hatten, obwohl sie eigentlich voraussehen konnten, dass er im Kalten Krieg kein Pardon geben würde.
So geschehen auch im Jahre 1956 beim blutig niedergeschlagenen Volksaufstand in Ungarn mit tausenden Toten, wo Imre Nagy, der Regierungschef, der dem Kommunismus ein menschliches Gesicht geben wollte, (nachdem ihm schon der Gulaschkommunismus
geglückt war) belogen, gefangen und hingerichtet wurde. Wie die meisten Deutschen war auch ich ungeheuer wütend auf die skrupellosen sowjetischen Führer im Kreml, die jedes kleine Abweichen von ihrer politischen Linie mit eiserner Faust zerschmetterten. Viele ungarische Freiheitskämpfer konnten vor den Häschern des Regimes ins Ausland fliehen. Wenn wir einen von ihnen in den Kneipen gewahr wurden, konnte der sich vor anerkennendem Schulterklopfen und Freibier nicht retten.
1968 wurde in der damaligen Tschechoslowakei der Prager Frühling
durch den Warschauer Pakt mit Panzern zermalmt, Truppen der deutschen Volksarmee nahmen auch daran teil. Was wir in der Bundesrepublik Deutschland als fürchterliche Schmach empfanden, wurde in der DDR als Sieg des Sozialismus gefeiert. Alexander Dubček, die politische Leitfigur, hatte unwahrscheinliches Glück, indem er nicht den Tod fand, sondern nur degradiert und auf einen unbedeutenden Posten in der Forstverwaltung abkommandiert wurde. Viel später jedoch rehabilitiert.
Lech Walesa, Führer der Gewerkschaft Solidarnosc in Polen, der auch zur Leitperson eines Volksaufstandes geworden war, kam ebenfalls mit dem Leben davon. Zwar ließ ihn Präsident Jaruzelski (immer mit Sonnenbrille) Anfang der 1980er Jahre inhaftieren und das Kriegsrecht verhängen (kam damit angeblich dem Einmarsch der Roten Armee zuvor), konnte aber nicht verhindern, dass er später sogar Staatspräsident und Nobelpreisträger wurde.
Unsere Volksvertreter im Bundestag hatten, wie gesagt, den 17. Juni zum gesetzlichen Feiertag erhoben. Seine Bedeutung war den meisten Deutschen in der Bundesrepublik nicht immer so bewusst, wie es hätte sein müssen. Zwar wurde er auf politischer Ebene immer mit zum Teil großen Reden und Veranstaltungen begangen, aber die große Masse der Bevölkerung verwendete ihn gerne zum Ausruhen, Vergnügen und zu Ausflügen ins Grüne, denn die Jahreszeit ist günstig.
Fast hätte ich an eine Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit in meinem Leben nicht mehr geglaubt. Aber der 17. Juni blieb ein geistiges Mahnmal und ein wichtiges Symbol der Hoffnung. Wie gut. Die Hoffnung ging in Erfüllung. Der 09. November 1989 hat gezeigt, dass diktatorische Regime gegen das Volk nicht dauerhaft bestehen können.
Behalten wir den 17. Juni 1953 gut in Erinnerung. Er hat uns die Hoffnung bewahrt.