Genforschung
Mein Geburtsort - Bockum-Hövel - steht in meinem Reisepass und meinem Personalausweis. Ich muss ihn auch immer angeben, wenn es amtlich wird. Er wird häufig verwechselt mit der nicht weit entfernten Großstadt Bochum und ich muss dann erklären, dass es sich um einen anderen Ort handelt. Bei der Ausstellung meines letzten Personalausweises, wieder mit falschem Geburtsort, meinte die Dame auf der Meldestelle: Wenn Sie das so genau nehmen, ändern wir halt den Geburtsort im Ausweis von Bochum in Bockum-Hövel. Kostenlos!
Seit der Ort 1975 aufgehört hat, als selbständige Gemeinde zu existieren, und in die Stadt Hamm/Westfalen eingemeindet wurde, kennt ihn kaum noch jemand. Ich kannte ihn auch bis zu meinem sechzigsten Lebensjahr nicht.
Mein Vater starb kurz vor meiner Geburt an den Spätfolgen des Krieges und ließ meine hochschwangere Mutter als Witwe bei seinen Eltern in Bockum-Hövel zurück. In der Nachkriegszeit 1945 hatte die junge Frau keine große Auswahl, wo sie unterkommen konnte. Also wohnte sie bei Ihren Schwiegereltern, mit denen sie nach eigener Aussage kein gutes Verhältnis hatte. Also erblickte ich das Licht der Welt, oder vielmehr des Kreißsaals, im Stadtkrankenhaus vom Bockum-Hövel. Nach meiner Geburt verschlechterte sich das Zusammenleben mit den Schwiegereltern. Wie mir erzählt wurde, meldeten meine Großeltern Ansprüche auf ihr erstes Enkelkind an, die meine Mutter nicht zulassen wollte. Nachdem die Situation eskalierte, übersiedelte sie mit mir als Säugling in ihren Heimatort Offenbach am Main.
Ich verbrachte dort meine ersten 30 Lebensjahre. Über die Familie in Westfalen wurde nie gesprochen. Ich unterließ auch nach einigen Fehlversuchen die Nachfragen, denn es erzeugte immer schlechte Stimmung. Auch kam seitens der Großeltern nie eine Nachricht, sodass es mir nicht in den Sinn kam, dass mir eigentlich ein Teil meiner Familie unbekannt war. Erst als ich in Rente ging und mehr Zeit hatte, auch über Dinge nachzudenken, die außerhalb der täglichen Routine lagen, erinnerte ich mich wieder an die Lücke in meiner Familiengeschichte. Als ich dann am Computer, rein zufällig, per Link zum Bürgeramt in Hamm kam, fasste ich den Entschluss, nachzuforschen.
Ich schrieb an das Melderegister von Hamm, schickte einige Dokumente aus dem Familienstammbuch mit und bat um Auskunft über den Familienzweig aus Bockum-Hövel.
Nach längerer Zeit, ich dachte schon nicht mehr an meine Anfrage, bekam ich einen netten Brief vom Stadtarchiv der Stadt Hamm. Man teilte mir mit, dass mein Vater noch weitere Geschwister hatte, die leider schon alle verstorben sind. Aber von der Schwester meines Vaters würden noch zwei Töchter leben. Man könne mir aber leider aus Datenschutzgründen nicht die Adressen nennen, aber sie hätten meine Anschrift weitergegeben, damit diese den Kontakt zu mir aufnehmen könnten.
Ich hatte also noch zwei Cousinen, die zwei und drei Jahre jünger waren als ich, von denen ich nichts wusste.
Kurze Zeit später ging das Telefon und es meldete sich eine Elke. Sie sagte, dass die Stadt ihr mitgeteilt habe, dass ich eine Cousine von ihr wäre, von der sie ebenfalls nichts wusste. Ohne zu fremdeln kamen wir sofort ins Erzählen und bekräftigten unsere Aussagen mit dem westfälischen woll
und dem hessischen gell
und hörten mindesten eine Stunde nicht damit auf. Es war, als ob wir uns seit Ewigkeiten kennen.
Sie erzählte, dass ihre Schwester, also meine andere Cousine, in Frankreich verheiratet ist und zu Weihnachten mit ihrem Mann zu Besuch käme. Auch hätte die Tante, die Witwe eines verstorbenen Bruders meines Vaters, ihren 80jährigen Geburtstag und es wäre doch schön, wenn wir auch zu diesem Familientreffen kommen könnten. Ich nahm die Einladung gerne an und so fuhren mein Mann und ich am zweiten Weihnachtsfeiertag zum ersten Mal in meinen Geburtsort.
Als wir ankamen, konnten wir direkt vor dem Einfamilienhaus parken, in dem meine Cousine Elke wohnte. Beim Aussteigen sah ich, dass sich die Vorhänge an den Fenstern bewegten. Ich wurde also genau beobachtet.
Es war ein sehr herzlicher Empfang. Während wir zusammen saßen, stießen sich meine neuen Cousinen Elke und Christine immer wieder an und kicherten wie Teenager.
Als ich sie darauf ansprach, sagten sie: Als Du aus dem Auto ausgestiegen bist, dachten wir, unsere Oma kommt, so ähnlich siehst Du ihr
. Ich war erst mal pikiert, denn ich wollte ja nicht wie die eigene Großmutter aussehen. Aber dann fiel mir ein, dass die Beiden die Großmutter ja schon als Kinder kannten und sie damals bestimmt jünger war, als ich bei meinem Besuch.
Wir blieben noch ein paar Tage bei Elke und feierten auch Silvester zusammen. Wir besuchten das Haus meiner Großeltern, in dem auch meine Mutter mit mir kurze Zeit gewohnt hatte, sowie die Gräber der Großeltern und der Geschwister meines Vaters. Ich erfuhr, dass ich ein sogenanntes Familiengeheimnis
war, über dessen Existenz nicht gesprochen wurde. Ein Bild meines Vaters stand immer im Wohnzimmerschrank meiner Großeltern, aber es wurde verschwiegen, dass er verheiratet war und eine Tochter hatte.
Dass ich tatsächlich zur Familie gehöre, offenbart sich schon allein durch die große Ähnlichkeit, die ich mit der Großmutter haben soll. Dies kann ich, nachdem ich Bilder von ihr sah, auch bestätigen. Das kann man aber alles mit den Genen erklären. Aber meine neuen
Cousinen mussten ständig lachen, denn immer wieder entdeckten sie Verhaltensweisen an mir, die unsere Großmutter, aber auch ihre Mutter hatten: … genauso hat es unsere Mutter auch gemacht
, … so hätte sich die Großmutter auch verhalten
. Oma hätte jetzt auch zu dem … gegriffen
oder dass sie den Kopf oder die Arme auch so gehalten hätte. Es handelte sich meist um ganz belanglose Dinge, von denen man denkt, dass sie durch jahrelanges Zusammenleben nachgeahmt werden. Da ich aber weder meine Großmutter noch meine Tante jemals gesehen habe, kann das nicht der Fall sein. Für was sind die Gene[1] wohl noch alles verantwortlich?
Ich freue mich jedenfalls, dass ich, wenn auch sehr spät, doch noch einen Teil der Verwandtschaft von der Seite meines Vaters kennengelernt habe.
Inzwischen haben wir uns alle gegenseitig besucht. In Frankreich waren wir mit Christine und deren Kindern und Enkeln zusammen. Wir alle zusammen verbrachten als Großfamilie einige Tage in meiner neuen Heimat Norderstedt. Hier haben wir ausgiebig Hamburg und die Umgebung erkundet.
Der Kontakt ist lose, aber er reißt nicht ab. Und das ist gut so.
Das Wissen, dass individuelle Merkmale über mehrere Generationen hinweg weitergegeben werden, ist relativ jung; Vorstellungen von solchen natürlichen Vererbungsprozessen prägten sich erst im 18. und frühen 19. Jahrhundert aus. Als Begründer der Genetik gilt der Augustinermönch und Hilfslehrer Gregor Mendel, der in den Jahren 1856 bis 1865 im Garten seines Klosters systematisch Kreuzungsexperimente mit Erbsen durchführte und diese statistisch auswertete.
So entdeckte er die später nach ihm benannten Mendelschen Regeln, die in der Wissenschaft allerdings erst im Jahr 1900 rezipiert und bestätigt wurden. Der heute weitaus wichtigste Teilbereich der Genetik ist die Molekulargenetik, die in den 1940er Jahren begründet wurde und sich mit den molekularen Grundlagen der Vererbung befasst. Aus ihr ging die Gentechnik hervor, in der die Erkenntnisse der Molekulargenetik praktisch angewendet werden.