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Vertreibung aus Ostpreußen
Kapitel 5
Umzug nach Liebenfelde

Nach einiger Zeit mussten wir Berghöfen wieder verlassen. Die Kolchose wurde aufgelöst. Wir wohnten ab sofort in Liebenfelde.

Ich erinnere mich an ein Holzhaus, das etwa so aussah, wie auf meiner Zeichnung des Hauses in Liebenfelde (siehe rechte Spalte),
Oben links: Frau Seeling mit Tochteroben rechts und rechts seitlich haben wir gewohnt, unten: amtliche Stuben, hinten links war ein zweiter Eingang.

Hier in Liebenfelde befand sich auch eine Kolchose. Mutti wurde verpflichtet, auf der Kolchose zu arbeiten. Sie musste auch mit den Pferden auf den Feldern arbeiten. Einmal schlug ein Pferd aus und traf ihre Brust. Sie hatte solche Schmerzen und große Angst, ihre Brust zu verlieren.

Auf dem Feld wurden unter anderem Kartoffeln und Wurzeln angebaut. Ganz heimlich und unter großer Vorsicht hat Mutti was von dem Gemüse mitgehen lassen, in ihrer Kleidung versteckt. Wenn Mutti erwischt worden wäre, hätte man sie eingesperrt. In unserem Zimmer stand eine große Holzkiste, mit Sand gefüllt. Darin wurden die Wurzeln versteckt.

Einmal in der Woche bekam Mutti als Lohn für ihre Arbeit ein Brot. Das musste die ganze Woche reichen. Wir Kinder bekamen nichts extra. Das Brot musste für uns alle drei reichen. Also ein Brot für sieben Tage und drei Personen. Mutti musste die tägliche Ration genau einteilen. Damit wir Kinder zwischendurch nichts von dem Brot aßen, hat Mutti das Brot oben auf dem Kleiderschrank versteckt, wo wir als kleine Kinder nicht drankamen. Dann war unser Vorrat an Brot aber doch eines Tages verschwunden. Mutti kam abends von der Kolchose heim und bemerkte das fehlende Brot. Wir sollten ihr sagen, wohin das Brot gekommen ist.

Ich sagte ihr: Gerd hat Christel, die war zirka 14 bis 15 Jahre alt, gesagt, wo das Brot liegt. Daraufhin ist Mutti zu Christel und deren Mutter hingegangen und hat das Brot zurückverlangt, sie hat es auch bekommen.

In jedem Dorf gab es Schöpfbrunnen, so auch in Liebenfelde. Christel hat mich einmal über den tiefen Brunnen gehalten. Ich hatte fürchterliche Angst und habe geschrien. Diese Angstzustände hielten sehr lange an.

Wir litten in dieser Zeit auch unter Läusen und Flöhen. Hinter dem Haus stand eine Bank. Hier saßen die Mütter mit ihren Kindern und haben ihnen die Läuse aus den Haaren gekämmt.

Wir hatten nur das eine Bett. Darin schliefen wir alle drei, zwei vorne und einer hinten. Wir haben so manchmal sehr gefroren. Ja, und wir hatten auch Flöhe im Bett und am Körper. Mutti versuchte sie zu fangen und zu zerknacken. Es war nicht einfach, mit dem Ungeziefer zu leben, aber was sollte man machen?

Frau Seeling mit Tochter wohnten gleich neben uns im Zimmer. Die Mutter war schon älter, die Tochter hat auf der Kolchose gearbeitet. Wenn die Tochter und Mutti auf der Kolchose gearbeitet haben, hat Frau Seeling ein wenig auf uns aufgepasst.

Im Sommer waren wir auch alle eine Zeitlang krank, wahrscheinlich auch wegen mangelhafter Ernährung. Mutti hat dann verwilderte schwarze Johannisbeerbüsche gefunden, an denen schöne, reife Johannisbeeren wuchsen. Sie hat uns davon viel zu essen gegeben und wurden davon wieder gesund, dank der vielen Vitamine.

Eines Tages kam Mutti von der Arbeit nach Hause und bekam einen tüchtigen Schrecken, als sie das Zimmer betrat. Was lag auf dem Fußboden? Ein großer schneeweißer Bandwurm! Mutti fragt: Wo kommt der her? Ich sagte: Den hat Gerd ausgekackt!

Morgens, bevor Mutti zur Kolchose musste, hat sie uns was zum Frühstück hingestellt, während wir noch schliefen. Meistens war es so eine Art Haferschleimsuppe. Ich wollte später genüsslich die Suppe essen, da hatte ich was komisches hartes im Mund. Ich spuckte es wieder aus. Da lag ein größerer schwarzer Käfer mit einer knackig harten Schale drin. Der war in der Suppe untergegangen. Ja, das war ein Wabbel. Ich habe nichts mehr gegessen.

Mein Schicksal wäre vielleicht anders verlaufen, wenn Mutti nicht so hartnäckig gewesen wäre. Da wollte mich doch ein russischer Offizier für sich haben und mich mit nach Russland nehmen, weil er mich so hübsch und niedlich fand. Ich hatte blondes, gelocktes Haar und darauf fuhr er total drauf ab. Mutti musste wahrscheinlich um mich kämpfen, damit sie mich behalten konnte.

Oftmals standen wir Kinder vor der Bäckerei in Liebenfelde. Es wurden viele Brote mit Mohn gebacken. Etliche Male hatten wir Glück, dass man uns Obstschnitte oder Reste vom Mohnbrot schenkte. In meiner Erinnerung schmeckten die Stücke vom Mohnbrot köstlich.

Da wir uns so ziemlich selbst überlassen waren, haben wir auch Dinge gemacht, die Mutti nicht gern gesehen hat. Ich bin mit Gerd zu der Mehllauker Kirche gegangen. Wir beide sind auf den Kirchturm gestiegen und haben von oben heruntergeschaut. Mutti hatte uns schon eine Weile gesucht. Schließlich hat sie uns auf dem Kirchturm entdeckt. Das fand sie gar nicht lustig, da wir ihr einen großen Schrecken eingejagt hatten. Mutti hat tüchtig mit uns geschimpft, so etwas sollten wir nie wieder tun.


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