Onkel Heiner
Im schönen Schleswig-Holstein, ungefähr in der Mitte zwischen Husum und Schleswig, liegt ein kleines Dorf. Die Häuser und Bauernhöfe liegen an der mit Kopfstein gepflasterten Straße. Im Westen des Dorfes ziehen sich die Marschwiesen zwei Kilometer bis an die Treene, die mit vielen Windungen in die Eider mündet. Auf der östlichen Seite gleich hinter den Häusern beginnt der Geestabhang mit Wäldern und Heideflächen. Hier war mein Onkel Heiner der Leiter der Genossenschafts-Meierei. Die Meierei bestand aus einem einstöckigen Wohnhaus mit Giebeldach in gelbem Klinker, links an das Haus war der Betrieb angebaut.
Meine Eltern brachten mich mit sechs Jahren das erste Mal zu Onkel Heiner und Tante Luci. Ich hatte gerade eine schwere Bronchitis überstanden und der Schularzt hatte meine Einschulung um ein Jahr verschoben, da ich zu klein und schmächtig für den drei Kilometer langen Schulweg durch die Trümmer Hamburgs war. Onkel Heiner war etwa ein Meter siebzig groß, mit einem Spitzbauch und nur noch wenigen Haaren. Er mochte mich wohl sehr, immer wenn wir uns begegneten, hatte er ein freundliches Lächeln für mich. Tante Luci habe ich dagegen immer mit mürrischer Miene in Erinnerung, wahrscheinlich habe ich ihren sehr arbeitsreichen Tag durcheinander gebracht. Zum Haushalt gehörten nämlich noch zwei Gesellen, ein Lehrling und zwei Küchenmädchen, außerdem waren zum Mittagessen noch zwei Meiereigehilfen mit am Tisch. Auch ein Dutzend Hühner, zwei Schweine und der Dackel Poldie
wollten versorgt werden.
Die Gesellen und der Lehrling wohnten über dem Betrieb, die Küchenmädchen im ausgebauten Dachgeschoss des Haupthauses. Mein Vater verstand sich nicht besonders gut mit Heiner, ihm gefielen das Gestöhne darüber, dass er ja schon um fünf Uhr aufstehen musste und die Angeberei, wie wichtig er doch war, nicht. Dabei hatte es mein Vater ja auch viel schwerer. Er war technischer Inspektor bei einer Reederei und musste sich die Arbeitszeit nach der Ankunftszeit der Schiffe einrichten, ob Tag oder Nacht und das nicht nur in Deutschland. So verabschiedeten sich meine Eltern auch nach dem Kaffeetrinken recht bald.
Nun erklärte Tante Luci mir erst einmal die Hausordnung: Um halb sechs Frühstück, Mittagessen Punkt zwölf Uhr, nach dem Essen Mittagsruhe bis fünfzehn Uhr, ich konnte in mein Zimmer gehen oder draußen spielen, aber bitte nicht so dicht am Haus. Abendessen um achtzehn Uhr. Sonntags noch Kaffeetrinken in der guten Stube
um sechzehn Uhr. Wohnen sollte ich bei den Küchenmädchen im Dachgeschoss. Nun fragte mich die Tante noch nach Taschengeld, ja ich hatte fünf Mark von meiner Mutter bekommen. Die gib mal gleich her dat brukst du hier nich
und schon war ich meine fünf Mark los (habe ich am Ende der Ferien zurück bekommen). Bei der Frühstückszeit sprach mein Onkel dann aber doch ein Machtwort, lot den Lütten man utschlopen he sull ja wat op de Rippen kregen
ordnete er an.
Mit dem Ausschlafen war es dann aber trotzdem nicht viel, denn um halb sieben begann die Milchanlieferung der Bauern mit viel Kannengeklapper und lauten Unterhaltungen. So saß ich dann am nächsten Morgen alleine an dem großen Küchentisch, die Mädchen stellten mir einen Teller Milchsuppe und ein Marmeladenbrot hin. Nach dem Frühstück sollte ich ins Büro zu Onkel Heiner kommen. Er zeigte mir nun den Meiereibetrieb und erklärte mir, wann und wo ich mich zu welcher Zeit aufhalten durfte. Wir begannen unseren Rundgang an der Rampe, wo die Milch in großen Kannen angeliefert wurde, meistens mit Pferd und einem sogenannten Milchwagen. Aber es gab auch viele Kleinbauern, die mit einem Hund als Zugtier vor einem zweirädrigen Wagen ihre Milch anlieferten. Die Milch jedes Bauern wurde jetzt in eine Wanne gekippt und gewogen, außerdem wurde von jeder Anlieferung eine Probe genommen und in ein Reagenzglas gefüllt. Die angelieferte Menge wurde in das Milchbuch des Bauern eingetragen. Von hier aus wurde die Milch in zwei große Behälter gepumpt, wo sie auf neunzig Grad erhitzt werden konnte. Weiter ging es nun zum Entrahmen der Milch. Aus dem Rahm wurde in einer großen Trommel Butter gemacht, die in Holzfässer gefüllt wurde. Aus dem Rest wurde Käse gemacht und was dann beim Buttern oder Käsen noch übrig blieb, ging als Buttermilch oder Molke an die Bauern zurück als Futter für die Schweine und Kälber. Heute bekommen wir das in hundert Gramm Bechern für viel Geld im Supermarkt. Unser Rundgang führte uns nun in den Butterkeller, der gekühlt war und wo der Rahm und die Butter gelagert wurden. Hier tranken Onkel Heiner und ich jeden Tag ein achtel Liter Rahm. Ich war ja noch viele Jahre in den großen Ferien meistens hier und der gemeinsame Rundgang am Vormittag gehörte immer dazu. Daneben war der Käsekeller, auf langen Regalen reifte der Käse und wenn er fertig war, hatte er einen Durchmesser von fünfzig Zentimeter und eine Höhe von fünfundzwanzig Zentimeter. Das Reifen des Käses dauerte aber sehr lange. Bei einem bestimmten Reifegrad kam er für vierundzwanzig Stunden in ein Jahrzehnte altes Laugenbad, wo sich die Kruste bildete. Anschließend wurde der Käse wieder in die Regale gelegt, wo er alle zwei Tage gewendet und mit dem Laugenwasser abgewischt wurde.
Als Nächstes kamen wir auf unserem Rundgang in den Kesselraum, hier wurde in einem großen Wasserkessel mit Ölfeuerung die Wärme erzeugt, die zum Aufheizen der Milch auf neunzig Grad benötigt wurde. Als Letztes kamen wir nun in den Schweinestall, hier wurden jedes Jahr zwei neue Schweine, sogenannte Läufer, auf das Schlachtgewicht von zirka hundert Kilo gefüttert. Onkel Heiner meinte nun Wer essen will, muss auch arbeiten
und so bekam ich nun die Aufgabe, jeden Tag die Küchenabfälle zu holen, mit Schrot und Buttermilch zu vermengen und die Schweine zu füttern. Dann sollten die Schweine noch mit einem Piassavabesen abgeschrubbt werden, was sie offenbar sehr genossen, denn sie drängelten sich regelrecht an die Mauer, damit ich auch gut ankommen konnte. Gerne hätte ich auch noch die Hühner gefüttert und die Eier aus den Nestern geholt, aber das wollte meine Tante nicht.
Zum Spielen gab es vormittags nämlich keine Kinder im Dorf, die mussten alle zu Hause auf den Höfen helfen. Gerne ging ich dann für die Tante zum Krämer, dem einzigen Laden im Dorf, es gab bei jedem Einkauf einen Dauerlutscher aus dem Bonbonglas, auch wenn ich nur ein Pfund Salz holen sollte. Das ist auch genug an Snopkram
meinte Tante Luci. Nun war auch Zeit zum Mittagessen und das lief nach einem besonderen Ritual ab. Wenn alle Männer am Tisch saßen, die Schüsseln aufgetragen waren, setzte sich der Chef an die Stirnseite und füllte sich zuerst auf. Dann kamen die Gesellen dran, danach die Gehilfen und zum Schluss der Lehrling und ich. War der Chef mit dem Essen fertig und legte sein Besteck hin, dann begann die Mittagsruhe. Alle anderen hatten jetzt auch aufzustehen, nur ich durfte sitzen bleiben und weiter essen, bis auch die Tante und die Küchenmädchen gegessen hatten. Der arme Lehrling muss wohl immer Hunger gehabt haben, denn einmal war ich dabei, wie der Onkel sein Zimmer inspizierte. Im Wäscheschrank hatte er ein paar Brötchen, Wurst sowie eine Tafel Schokolade gebunkert, alles flog durchs Fenster auf den Hof, von wo aus der Junge sein Zeug wieder holen konnte und in den Schrank einsortieren musste, nachdem er ihn gründlich ausgewaschen hatte. Interessanter wurde es für mich dann nachmittags, wenn die Kinder aus dem Dorf sich an der Treene zum Baden trafen. Als de Hamburger
wurde ich nach einem eher unschönen Vorgang akzeptiert. Die großen Hunde, die zum Milchkarrenziehen benutzt wurden, hatten alle kopierte Schwänze, damit sie mit langen Schwänzen nicht über die Milchkannen wedeln konnten.
Nun ergab es sich eines Abends, dass sich so fünf oder sechs Jungen noch hinter der Schule aufhielten, ich mitten mang. Ein zufällig vorbei laufender Hund wurde angelockt, der Schwanz auf einen Baumstamm gelegt und mit einem Fahrtenmesser abgehackt. Der Hund schoss natürlich blutend und jaulend durch das ganze Dorf. Die eingehende Befragung aller infrage kommenden Jungen blieb ohne Erfolg, alle hielten dicht, auch ich, obwohl der Onkel nicht so ganz überzeugt war, dass ich gar nichts wusste
.
Eine andere Abwechslung gab es alle vierzehn Tage, dann zog ein Wanderkino ins Dorf. Im Saal der Dorfgaststätte wurde eine Leinwand aufgehängt, der Vorführapparat aufgebaut und wir Kinder durften schon die Stühle mit aufstellen. Hier habe ich den ersten Film in meinem Leben gesehen Die goldene Stadt
mit Kristina Söderbaum und Rudolf Prack. Was habe ich geheult, als die schöne Anna ins Wasser ging und Onkel Heiner hat mich auch noch ausgelacht! Am schönsten war es aber, wenn die beiden Söhne (meine Cousins) nach Hause kamen. Karlheinz, der ältere der beiden, hatte Tischler gelernt und studierte Innenarchitektur. Der jüngere Uwe war auch Meierist und studierte Milchwirtschaft in Schleswig. Karlheinz hatte ein Zweier-Faltboot im Schilf an der Treene liegen, da wollte ich unbedingt mitfahren. Onkel Heiner bestand aber darauf, dass ich schwimmen können musste, bevor Karlheinz mich mitnehmen durfte. Die beiden Jungs nahmen mich also mit an die Treene, um mir das Schwimmen beizubringen. Das machten sie aber sehr rabiat. Einer packte mich an den Händen, der andere an den Füßen, ein paar mal geschaukelt und ich flog in hohem Bogen ins Wasser. Mit Hundekraulen, Wasser schluckend und prustend kam ich wieder an Land und bevor ich großes Geschrei anstimmen konnte, flog ich schon wieder rein. Nach dem dritten Mal sagten sie dann süst, nu kannst schwimmen
.
Am Abend wurde das dann stolz dem Onkel erzählt und nun durfte ich auch mit Faltboot fahren. Das Boot war an der Unterseite an mehreren Stellen geflickt. Karlheinz erklärte mir, das kommt daher, dass er im Frühjahr, wenn die Treene Hochwasser hatte und die Wiesen überflutet waren höher als die Weidezäune, öfter mal mit dem Boot im Stacheldraht hängen geblieben ist. Er ist übrigens ein Leben lang beim Faltbootfahren geblieben, auch mit Frau und drei Kindern. Mit fünf Einern und zwei Zweiern haben sie zuletzt Urlaubstouren in Schweden gemacht.
Über Uwe gibt es auch eine Geschichte zu erzählen. Er hatte sein Studium als Jahrgangsbester abgeschlossen und gleich eine Meierei vom Verband angeboten bekommen. Die war aber so klein, dass er dort nur alleine mit seiner Frau arbeiten musste. Während des Studiums in Schleswig hatte er zwar eine Freundin, die auch sehr gut aussah und schicke Kleider hatte, aber mit ihren rot lackierten Fingernägeln passte sie nicht in eine Meierei. Wo nun aber auf die Schnelle eine Frau herkriegen? Zu der Zeit hatte sein Vater, also mein Onkel, einen Lehrling, der auch aus einer Meieristen-Familie kam. Der hörte von dem Dilemma und erzählte Uwe von seiner älteren Schwester, die ein paar Dörfer weiter in einer Bäckerei als Verkäuferin arbeitet. Uwe also zu Ladenschluss auf sein Motorrad und als letzter Kunde in den Laden. Was kann ich denn für Sie noch tun
wurde er von der netten Verkäuferin gefragt. Mich heiraten
war seine Antwort. Es muss wohl Liebe auf den ersten Blick gewesen sein, denn ich habe die beiden später mal besucht, das erste Kind war unterwegs und die beiden hatten sich ein Tonstudio gebaut, die gekachelte Meierei diente als Konzertsaal.
Tante Luci starb dann in einem Winter und nun war im nächsten Sommer Tante Manda da. Erst als Haushälterin, denn der Betrieb musste ja weitergehen. Aber schon im nächsten Jahr waren sie verheiratet. Nun war auch in der Küche gute Stimmung und der Onkel nicht mehr so streng mit den Lehrlingen. Sie wollte auch nicht, dass ich sie Tante nannte, einfach nur Manda war in Ordnung. Da ich nun schon etwas älter war, nahm mich der Onkel öfter mit ins Büro, wenn alle vierzehn Tage die Anlieferungen der Bauern in den Milchbüchern zusammengerechnet werden mussten. Wenn ich ein Buch fertig hatte, waren es bei ihm zehn Bücher. Er ließ mich ziemlich lang so im Kopf rechnen das ist gut für die Schule
sagte er, bis er eines Tages doch ein Einsehen hatte und mir den Trick verriet. Er rechnete nämlich nur die täglichen Abweichungen zu oder ab, denn die Grundmenge war ja ungefähr immer die gleiche. Aber ich habe so trotzdem gut Kopfrechnen gelernt. Auch zum Angeln durfte ich mit. Heiner gehörte zu den zwölf Pächtern, die für eine gewisse Strecke der Treene die Fischereirechte besaßen. Es durften auch nicht mehr werden, er hat sechzehn Jahre darauf gewartet, um dazu zu gehören. Speziell war hier die Aalfischerei.
Ein Mehlsack wurde mit trockenem Erbsenkraut und etwas gammeligen Fleisch gefüllt, dann ein Loch in den Sack geschnitten, mit Steinen beschwert und in den Fluss geworfen. Nach zwei Tagen waren da schöne fette Aale drin. Ich musste mich beim Angeln ruhig verhalten, aber umso mehr Geschichten erzählte Heiner. Zum Beispiel wie schön und aufregend doch der Krieg war. Es waren nämlich nur drei Männer im Dorf, er als versorgungswichtiger Betriebsleiter, der größte Bauer und gleichzeitig Bürgermeister, sowie der Lehrer, der auch die Post und Sparkasse bedienen musste. Auf dem Geest-Abhang stand ein großer Scheinwerfer, der von einem Unteroffizier aus dem Ersten Weltkrieg mit zwei jungen Soldaten bedient wurde. Sie sollten die Bomber, die nach Hamburg flogen, anleuchten. Heiner ging nun jeden Abend mit ein paar Flaschen Bier dort hin, das waren seine aufregendsten Kriegserlebnisse.
Als dann aber die Flüchtlinge kamen und von der englischen Besatzungsmacht zwangsweise in die Bauernhöfe eingewiesen wurden, fand er das ungeheuerlich. Die ersten Häuser, in die Flüchtlinge eingewiesen wurden, waren kleine unbewirtschaftete Bauernhöfe, deren Besitzer im Krieg gefallen, oder noch in Kriegsgefangenschaft waren. Zu dem Zeitpunkt erhielt meine Mutter einen Brief von ihrem Bruder, meinem Onkel Heiner. Sie solle doch mit uns Kindern, sechs und zwei Jahre alt, zu ihm kommen. Hier wären wir sicher und ausreichend zu essen gebe es auch. Unsere Mutter fuhr also mit uns zu ihm. Was hinter dieser Einladung steckte, wurde unserer Mutter erst später klar. Onkel Heiner hatte nämlich Angst, dass sein großes Haus durch die Anwendung des Kontrollratsgesetz Nr.18Das Kontrollratsgesetz Nr. 18 vom 8. März 1946 ermächtigte die deutschen Behörden, den noch vorhandenen Wohnraum gegen den Willen seiner Eigentümer bedürftigen Personen zuzuteilen.Klick für den Gesetzestext mit Flüchtlingen belegt werden konnte. Dann sollten die freien Zimmer doch lieber mit Verwandtschaft belegt werden. Zur Legitimierung unserer Anwesenheit als Hamburger in Schleswig-Holstein wurde meine Mutter vom Bürgermeister als Lehrerin dem Schulmeister zugeteilt. Uns beiden Kleinkinder musste sie natürlich mit in die Schule nehmen, denn Tante Luci waren wir nicht willkommen.