Auf den Spuren der Urgroßeltern
Kapitel 3: Spurensuche in Azul
Nach den schönen, spannenden Wochen in Rio und Iguazu flogen wir nun in vier Stunden von Rio de Janeiro nach Buenos Aires, von den ersten Siedlern benannt nach der Heiligen Maria der guten Luft
. Von der guten Luft war aber nicht mehr viel zu merken. Schon beim Anflug waren die Ausmaße dieser riesigen Stadt mit ihren zwölf Millionen Einwohnern zu sehen. Aber hier wollten wir uns ja auch nicht lange aufhalten. Wir waren schon am Vormittag in Buenos Aires gelandet, so dass unsere Reise nach Azulsiehe auch Auf den Spuren der Urgroßeltern Kapitel 2
, dem Geburtsort meiner Schwiegermutter, noch am gleichen Tag mit der Eisenbahn weitergehen konnte. Mit einem Wörterbuch und viel Palaver machten wir dem Taxifahrer am Flughafen klar, dass er uns zum Hauptbahnhof, fahren soll. In der großen Halle des Bahnhofs herrschte das übliche Gewimmel von Menschen, wie auf allen großen Bahnhöfen der Welt. An einem Schalter wollten wir nun Fahrkarten nach Azul kaufen. Meine Bitte um tikets to Azul
oder billete to Azul
lösten bei der Dame hinter dem Schalter nur Kopfschütteln und Schulterzucken aus. An einem anderen Schalter erging es uns genauso. Ein hinter mir stehender junger Mann sprach mich daraufhin in bestem Deutsch an und erklärte uns, dass es in Buenos Aires vier Hauptbahnhöfe gibt, aber jeweils mit dem Namen der Bahngesellschaft dahinter, denn es sind alles private Eisenbahngesellschaften. Wir sollten die Bahn nach Bahia Blanca nehmen und Azul ist nur eine Kleinstadt auf dem Weg dorthin. Er brachte uns dann noch zu einem Taxi und erklärte dem Fahrer, wohin wir wollten. Der Taxifahrer vom Flughafen hatte uns natürlich zu dem am weitesten entfernten Bahnhof gefahren. Aber nun waren wir auf dem richtigen Bahnhof und bekamen dann auch mit einem freundlichen Si Senor
unsere Fahrkarten.
Der Zug fuhr nur einmal täglich um neunzehn Uhr, so dass wir uns zu der immer größer werdenden Menschenansammlung der Wartenden gesellten. Es waren auf dem Bahnsteig außer uns nur Einheimische zu sehen, mit großen Gepäckstücken, Körben mit Hühnern, Enten oder sonstigen Einkäufen aus der Großstadt. Dass es auch einen klimatisierten Bus nach Azul gab, hatte der junge Mann auf dem Bahnhof uns zwar erzählt, aber davon abgeraten, denn es gab in letzter Zeit wieder mehrere Überfälle auf die Busse. So stiegen wir dann in den pünktlichen Zug mit einer Dampflok und Waggons, wie ich sie aus der Nachkriegszeit kenne, mit Holzbänken, Koffernetzen und Fenstern, die mit einem Lederriemen zu öffnen wären, bloß dass hier die Fenster blockiert waren. So saßen wir dann zwischen Kartons, Körben und einer laut schnatternden Frauenschar, hörten auf das einschläfernde Rattern des Zuges und fielen nach dem langen Tag immer wieder in einen leichten Schlaf. Aufgeschreckt wurde ich durch ein langsameres Fahren des Zuges, er hielt auf offener Strecke an, fuhr langsam weiter und stoppte wieder. Neugierig ging ich zum Ausgang am Ende des Waggons und mit leichtem Erschrecken sah ich an jeder Tür einen Soldaten mit gezogener Pistole stehen. Mir fielen sofort die Warnungen des jungen Mannes vom Bahnhof in Buenos Aires vor Überfällen auf Busse ein.
Die Soldaten deuteten mir an, dass ich zurück in den Waggon gehen sollte, da aber das Licht in den Wagen inzwischen ausgeschaltet war, blieb ich am Eingang stehen. So bekam ich mit, dass die Soldaten nach einiger Zeit ausstiegen und neben dem Zug hin und her liefen. Nach einer halben Stunde fuhr der Zug dann aber mit vollem Tempo weiter. Nachts um drei Uhr hatten wir dann Azul, die Wahlheimat der Großeltern, vierhundert Kilometer südlich von Buenos Aires, erreicht. Mit uns stiegen wohl ein Dutzend andere Reisende mit viel Gepäck aus. Sie wurden alle erwartet und abgeholt. Wir standen nun in dunkler Nacht einsam in der Pampa. Denn der Bahnhof lag etwas außerhalb der Stadt. Irgendjemand muss das aber wohl doch mitbekommen haben, denn nach zehn Minuten rollte ein Taxi langsam auf uns zu und brachte uns ins Gran Hotel Azul.
Das Gran Hotel Azul lag im Zentrum der Stadt an einem als Park angelegten Platz. Rechts des Hotels waren das Rathaus und links die wunderschöne Kathedrale Nuestra Senora del Rosario, in der wir sogar noch eine Hochzeit miterleben durften. Unser erster Weg auf der Spurensuche nach den Urgroßeltern führte uns ins Rathaus. Ein sehr netter, englisch sprechender Mitarbeiter hörte sich unser Anliegen an, er wollte Nachforschungen anstellen und wir verabredeten ein Treffen für den Abend in einem Restaurant. Leider hat er nichts über unsere Ahnen finden können, aber das war nicht ungewöhnlich, denn die großen Haziendas lebten sehr autark und hatten ihre eigenen Verwaltungen. Er hat uns dann für den nächsten Tag zu einer Autofahrt in die Umgebung von Azul und zum Besuch einer aus Deutschland eingewanderten Familie eingeladen. Dort sprach aber auch nur die Großmutter noch Deutsch mit masurischem Dialekt.
Die Fahrt ging weiter durch eine recht karge Landschaft, bis sich auf einmal das Landschaftsbild vollkommen veränderte. Wir wähnten uns mitten in Schleswig-Holstein. Schwarz-weiße Milchkühe auf saftigen, grünen Wiesen mit Schatten spendenden Bäumen. Das ganze Anwesen gehörte zu einem Kloster mit deutschen, katholischen Mönchen. Der Abt begrüßte uns sichtlich erfreut darüber, dass es mal Deutsche geschafft hatten, in sein abgeschiedenes Kloster zu kommen.
Am nächsten Tag besuchten wir den Friedhof, um vielleicht noch ein Grab unserer Vorfahren zu finden. Der schön angelegte Friedhof war aber viel zu groß, um hier ohne Unterlagen etwas zu finden. Und dann war Samstagabend! Tangomusik schallte bis in unser Hotel. Neugierig begaben wir uns auf die Straße. Einige Passanten grüßten uns mit Hola Alemans
. Wir waren wohl inzwischen eine kleine Attraktion in Azul geworden. Hinter der Kathedrale war die Hauptstraße für den Verkehr gesperrt. Auf der Straße standen Stühle, Bänke und Tische mit Krügen oder Weinflaschen. Musiker, einzeln oder in Gruppen, spielten auf, und die Bevölkerung tanzte die ganze Straße entlang. Auch wir tanzten den wohl bizarrsten Tango unseres Lebens, mitten auf der Straße, umgeben von Anwohnern, die einen Kreis um uns gebildet hatten, rhythmisch zur Musik klatschten und viva Alemans
riefen, in der Wahlheimat der Urgroßeltern.