Die Kutsche in der Kaserne
Ende 1963 im Heidberg-Krankenhaus, in Hamburg-Langenhorn geboren, bin ich wenige hundert Meter davon entfernt, im 1962 fertiggestellten letzten Bauabschnitt der südlichen Seite des Götzberger Wegs, in einem Reihenhaus aufgewachsen.
Wie man an meinem Geburtsjahr unschwer ablesen kann, gehöre ich zu den geburtenstarken Jahrgängen, oder den sogenannten Babyboomern
Als Babyboomer, Baby-Boomer oder Boomer bezeichnet man sowohl einzelne Menschen als auch die Generation, die zu den Zeiten steigender Geburtenraten (dem „Babyboom“) nach dem Zweiten Weltkrieg oder anderen Kriegen in den vom Krieg betroffenen Staaten geboren wurden. Zur Verdeutlichung findet sich für die Gesamtheit manchmal auch der Begriff Boomgeneration., ein Ausdruck, der mir überhaupt nicht gefällt. Zu diesen Jahrgängen zu gehören, hatte in der Vergangenheit oft Nachteile, so gab es auf alles einen Ansturm, ob es sich um Ausbildungs-, Studien- oder Arbeitsplätze handelte. Immobilien kauften wir alle gleichzeitig, also waren sie schwer zu bekommen, und in Zukunft stellt sich die Frage, ob unsere Renten sicher sind. Aber in meiner Kindheit hatte dies einen unschlagbaren Vorteil: Dass es viele von uns gab – viele andere Kinder zum Spielen!
Im Götzberger Weg wohnten viele junge Familien der unteren Mittelschicht. Viele junge Familien, welche die eben fertiggestellten günstigen Reihenhäuser, auf Erbpachtgrundstücken der Stadt Hamburg gelegen, käuflich erworben hatten. Und in diesen Familien gab es viele Kinder – sehr viele Kinder. Wir hatten große Auswahl. Hatte ich mich mit einer Freundin gestritten, konnte ich mich an eine andere wenden – wenn ich auch sagen muss, dass ich recht treu und anhänglich war.
Was hatten wir für einen Spaß! Zwischen unseren Häuserreihen befanden sich lange Stichwege, auf denen wir weitgehend gefahrlos spielen konnten, ohne jemals die Straße überqueren zu müssen. Dort lernten wir Radfahren, fuhren mit unseren Rollschuhen, spielten Kriegen, Verstecken oder Räuber und Gendarm. Auch Indianer gab es zwischen unseren Häusern reichlich. Damals machte sich niemand Gedanken über kulturelle Aneignung
.
Die Endreihenhäuser grenzten an einen Spazierweg, der zwischen Wiesen und Feldern und an einem Knick entlang ins Raakmoor führte. Auch dort wurde gespielt. Es wurden die verschiedensten Abenteuer erlebt, Baumhäuser und Höhlen gebaut, als gäb´s kein Morgen. Die in südlicher Richtung letzten Reihen dieser Reihenhäuser öffneten sich gartenseitig zum freien Feld. Direkt hinter unserer Reihe befand sich ein kleiner Streifen, den die Nachbarn von Bauer Mohr, der für die Bewirtschaftung der Wiese zuständig war, gepachtet hatten. Noch heute gibt es den Stall Mohr, der sich auf der Ecke Wildes Moor/Glashütter Stieg befindet. Dieser Streifen wurde hauptsächlich von den Nachbarsjungen zum Fußballspielen genutzt, da deren Gärten dafür zu klein waren.
Unser Garten war, weil wir das Endreihenhaus besaßen, sehr groß, weshalb meine Eltern dies als ausreichend befanden und sich deshalb nicht an der Pacht beteiligten. Dies hatte zur Folge, dass es zunächst nicht ganz klar war, ob meine Schwester und ich in Zukunft mit den anderen Kindern auf dem Pachtland würden spielen dürfen. Es gab wohl Stimmen in der Nachbarschaft, die dies kritisch sahen. Letztendlich verebbten diese Stimmen - wohl auch, weil sich vorher gemeinsame Spiele der Nachbarskinder hauptsächlich in unserem Garten abgespielt hatten.
Leider haben wir Mädchen uns nie am Fußballspielen beteiligt, aber das war zu der Zeit nicht üblich. Erst viel später habe ich Spaß daran gefunden. Stattdessen turnten wir unermüdlich an einer Reckstange, die die Eltern meiner Freundin auf dieses Pachtland gebaut hatten und entwickelten uns zu richtigen Meisterinnen.
Überhaupt muss gesagt werden, dass die Jungen damals noch abenteuerlustiger waren als wir Mädchen, obwohl auch wir auf manche tolle Idee gekommen sind. Aber die Jungen waren eindeutig risikofreudiger, und wenn sich jemand verletzte, dann waren meistens sie es. Auch Verboten gegenüber waren sie weniger folgsam
.
Die Wiese hinter unserem Haus, von der die Nachbarn einen Streifen gepachtet hatten, gehörte zu einer ausgewiesenen Fläche für den Gemeinbedarf [1]
. Dieser Teil sollte langfristig frei von Bebauung bleiben, weil er als Freifläche für den Katastrophenschutz gedacht war. Die in südlicher Richtung dahinter gelegene Wiese sollte in den 1970er-Jahren mit einem Gefängniskrankenhaus [2]
, wie wir es nannten, bebaut werden. Um den Nachbarn, also uns, den Blick darauf etwas zu verdecken und um das geplante dauerhafte Flutlicht abzumildern, wurde ein Wäldchen in nördlicher und östlicher Richtung um den angedachten Bauplatz angepflanzt. Aber jeder kann sich vorstellen, welche Unruhe unter den unmittelbaren Anwohnern wegen dieser Pläne herrschte. Zum Glück ist daraus nie etwas geworden und stattdessen ist dort das neue Wohngebiet Heidberg Villages
, wie es neudeutsch heißt, entstanden. Den Nachbarn war es recht und das Wäldchen ist inzwischen ein Wald geworden – auch dagegen hatte niemand etwas einzuwenden.
Ansonsten befanden sich zur Zeit meiner Kindheit die sogenannten Kasernen
als westliche Begrenzung in Richtung Heidberg-Krankenhaus auf diesen Wiesen. Die Kaserne
war eigentlich das jetzige Krankenhaus Heidberg. Das, was wir Kinder Kasernen
nannten, waren die ehemaligen Reitställe und Garagen, die zur Kaserne gehört hatten. Wie aus der Fußnote [3] ersichtlich ist, wurden diese Gebäude noch länger für unterschiedliche Zwecke genutzt. Der südlichste Teil wurde bis zum Abriss noch als Reitstall genutzt, die in östlicher Richtung befindliche dazugehörige Wiese diente als Pferdewiese, bevor alles den Heidberg-Villages weichen musste.
Die nördlichste dieser Kasernen
stand, als ich Kind war, bereits leer. Sie war durch einen Bauzaun oder eine ähnliche Maßnahme gesichert, an dem Schilder befestigt waren, die das Betreten des Geländes untersagten – Eltern haften für ihre Kinder
. Natürlich weckte dieses Verbot unser Interesse erst recht. Die älteren Jungen bildeten die Vorhut. Sie entdeckten
ein Loch im Zaun und spazierten offenbar ungehindert in das baufällige Gebäude. Nun wurde hinter vorgehaltener Hand von fantastischen Entdeckungen berichtet. Irgendwann machte die Nachricht die Runde, es würde sogar eine Kutsche in der Kaserne stehen. Wir Mädchen waren, ehrlich gesagt, ziemlich ängstlich. Aber die Neugier siegte! Eines Tages wagten auch wir den verbotenen Ausflug in die Kaserne
. Wir krochen durch das Loch im Zaun und betraten ein verwunschenes Land. Meine Fantasie war äußerst lebhaft, noch weiter angeregt durch das abendliche Vorlesen meiner Mutter, die uns Märchen und alles, was das interessierte Kinderherz höherschlagen ließ, vorlas. Nun war ich also in einem Zauberreich angekommen; ein verlassener Ort, spannendes Gerümpel überall verteilt, zerschlagene Fenster, und alles war überzogen mit Spinnweben. Später, als ich das Buch Große Erwartungen
von Charles Dickens las, fühlte ich mich bei der Beschreibung des Hauses der Gönnerin sehr an meine Eindrücke in der Kaserne
erinnert.
Aber bis zum Höhepunkt waren wir noch gar nicht vorgedrungen. Ganz genau kann ich mich an die räumliche Einteilung der Kaserne
nicht erinnern. Doch schließlich betraten wir einen größeren Raum, in dessen Mitte tatsächlich eine große, schöne Kutsche stand. Ich erinnere mich genau an die Lederpolster, aber nicht mehr an die Farbe, die sie hatten. Zu gern wären wir hineingestiegen, aber wir trauten uns nicht. Zu groß war die Angst vor Entdeckung, denn etwas Verbotenes zu tun, gehörte nicht zu unseren alltäglichen Erfahrungen. Es war eigentlich ganz undenkbar, dass wir derart Recht und Gesetz missachteten. Also musste der Aufenthalt kurzgehalten werden und wir verließen ziemlich schnell wieder den Ort des Geschehens. Als wir den Zaun durchstiegen hatten und wieder auf der richtigen
Seite angekommen waren, atmeten wir auf. Wie verwegen es von uns gewesen war, uns die Kutsche anzusehen!
Nicht lange danach erhielten wir, wieder hinter vorgehaltener Hand, eine traurige Nachricht. Es hatte in der Kaserne
ein Feuer gegeben und die Kutsche war verbrannt. Das fand ich wirklich sehr schade. Hinter vorgehaltener Hand gab es aber noch mehr Informationen dazu. Das Feuer war offenbar gelegt worden. Offiziell hatte es keine Verdächtigen gegeben. Aber man munkelte, dass es die Nachbarsjungen gewesen waren. Genaugenommen waren auch die Namen der Delinquenten bekannt. Diese Namen kenne ich, hüte mich aber, sie hier preiszugeben!
- [1] Bebauungsplan Langenhorn 1966, abgerufen am 19.12.2023 unter
https://daten-hamburg.de/infrastruktur_bauen_wohnen/bebauungsplaene/pdfs/bplan_begr/langenhorn66.pdf - [2] Korrekte Bezeichnung: Vollzugskrankenhaus der Justizbehörde, Quelle s. o.
- [3]
Der östlich des Kernbereichs der ehemaligen Kaserne gelegene bundeseigene Garagen- und Werkstättenteil (Flurstück 5887) wurde im südlichen Bereich für technische Hilfsdienste (z.B. THW, Feuerwehren) und im nördlichen Bereich durch kleinere, häufig wechselnde Gewerbebetriebe genutzt. Die Gebäude sind inzwischen geräumt und z.T. bereits abgebrochen. Östlich und nördlich dieses Gebietes liegen ehemals landwirtschaftlich genutzte Flächen (Flurstück 10285.
Quelle s.o. S.5