Ein Denkmal für den Hamburger Gänsemarkt
Während meiner Dienstzeit als Paketzusteller bei der Deutschen Bundespost hatte ich eine feste, tägliche Tour. Mein Dienstfahrzeug war ein Mercedes-Benz-Kastenwagen L406-D. Auf der Fahrer- und Beifahrerseite hatte der Benz Schiebetüren und hinten eine mittig geteilte Ladetür. Er musste nach Dienstende wieder auf den Abstellplatz am Kaltenkirchener Platz zurückgestellt werden, bis zum nächsten Morgen. Fahrtenbuch und Kfz-Schlüssel wurden beim Wagenmeister im ersten Stock abgegeben. Die Dienststelle hatte für jeden Bezirk in Hamburg 36, Innenstadt, eine feste Fahrtfolge aufgelistet. So wusste man, wie die Tour möglichst effektiv abzufahren ist. Die Dienststelle konnte so abschätzen, wenn Fragen oder Probleme auftauchten, wo sich der Zusteller im Augenblick befinden würde. Denn Handys oder Smartphones waren noch in weiter Ferne, es gab nur das kabelgebundene Telefonnetz, heute Festnetz genannt.
Zur Tour kamen noch die Firmen hinzu, bei denen ich Sendungen abholen musste. Die lagen auf der Route. Sie waren bei den Firmen schon mit Sendungsnummer, Gewicht und den zu entrichtenden Gebühren aufgelistet. Die Liste für die sogenannten Selbstbucher
wurde von der Post ausgegeben. Ein Blatt dieser Liste bekam meine Dienststelle, den Durchschlag bekam der Kunde. Für den Absender war das eine große Arbeitserleichterung, denn er brauchte kein Personal zum Postamt zu schicken, und die Pakete waren auch preisgünstiger als bei Aufgabe am Paketschalter.
Dienstbeginn war laut der Anwesenheitsliste um sieben Uhr dreißig, bei den Privatbezirken um acht Uhr. Generell gab es ein Zeichen aus dem Lautsprecher, ungefähr um neun Uhr, mit der Durchsage: der Ausgleich ist beendet
. Das war der Zeitpunkt für die Abfahrt aus dem Postamt. Vorher musste man aufpassen, dass alles gut im Fahrzeug verstaut war. Auch musste der Durchgang frei bleiben, damit man vom Fahrersitz zu den Sendungen durchkam. In den späteren Jahren gab es dann Fahrzeuge mit Regalen zum Umklappen. Bis dahin wurden die Sendungen auf dem Fußboden der Ladefläche abgelegt.
Jetzt ging es darum, so schnell wie möglich die Ausfahrt des Postamtes 2 zu erreichen. Das Postamt hatte drei verschiedene Ausfahrten. Auf der Augustenburger Straße und dem Kaltenkirchener Platz war immer viel Verkehr. Viele Autofahrer benutzten sie als Abkürzung zur Kieler Straße. War ich aus der Ausfahrt des Postamtes heraus, ging es erst einmal zu den Abgabestellen. Das waren verschiedene Postämter und Fernmeldeämter. Die Wege kannte ich wie im Schlaf.
Dann ging es zu meinem geliebten Gänsemarkt in der Innenstadt, früher Hamburg 36. Die Verlängerung waren Jungfernstieg, Dammtorstraße, Valentinskamp, Gerhofstraße sowie die ABC-Straße und die kleine Büschstraße. Hier hatte ich einen bestimmten Haltepunkt, wo ich das Dienstfahrzeug in Absprache mit dem Kontaktbeamten der Hamburger Polizei, auch Bürgernaher Beamter
genannt, abstellen durfte. Weiter ging es erst einmal in die Gänsemarkt-Passage Nr.50. Die äußere Fassade war grün, ich nannte den Farbton Tannengrün
, wie in meinem Garten. Es war die modernste Passage in der Hamburger City Ende der 1970er Jahre, eröffnet am 17. Oktober 1979.
Mit meiner gelben Zustellkarre voll mit Sendungen ging es in die Gänsemarkt-Passage Nr. 50. Es wurden die Sendungen der Reihenfolge nach abgearbeitet, bis die Karre leer war. Die Kunden warteten bereits vor ihren kleinen Geschäften, fragten nach, ob ich was für sie hätte. Sendungsverfolgung gab es zu der Zeit bei der Post noch nicht, das gab es erst später im Zuge der Digitalisierung und Ausbaus des Internets.
Das Sortiment in den Läden war breit gefächert. Es gab Juweliere, Damenmode, Herrenmode, einen Uhrenladen, Wollgeschäft, einen Bücherladen, Schuhgeschäft, Kindermode, Eis und Gastronomie und die Bäckereifiliale mit zwei Stehtischen. In der Mitte zum Durchgang Colonnaden war ein kleiner Weinstand. Er hatte auch zwei Stehtische. Es gab ein Treppenhaus mit zwei Fahrstühlen für die Büros an der Seite zum Ausgang Büschstraße. Im Durchgang rechts gab es eine öffentliche Toilette. Das zweite Treppenhaus mit zwei Fahrstühlen befand sich am Eingang zur Gänsemarkt-Passage rechts. Die Treppenhäuser mit den Fahrstühlen waren den Mitarbeitern der Büros vorbehalten.
Im ersten Stock gab es ein Steakhaus mit Sicht auf den Gänsemarkt und einen Teil des Jungfernstiegs, ein Reisebüro einer finnischen Fährgesellschaft, Elektrogeräte für den Haushalt, ein Geschäft für weiße Tischwäsche, Herrenmode, Damenmode, Gastronomie, einen Nudelspezialist, wo die bunten Bandnudeln vor dem Fenster hingen. Die Nudelgerichte wurden am Schaufenster vor Ort in der Küche gekocht und serviert. Ein Chinarestaurant gab es an der Ecke Richtung Colonnaden. Dann folgten ein Café mit Sitzplätzen, ein kleiner schnuckeliger Laden mit Hamburg-Andenken, Papier, Glückwunschkarten aller Art. Dann ein Strumpfgeschäft mit einem großen Sortiment. Im Keller der Passage mit Treppenaufgang und Rolltreppe war ein Sportausstatter. Die große Verkaufsfläche war etwa 1.500 Quadratmeter groß.
Vor dem Eingang in die Gänsemarkt-Passage war rechts der Eingang zu einem Juwelier mit einigen Schaufenstern. Dann rechts das Treppenhaus zu den Büros. Eine Leasing-Kredit-Bank, Notare, eine weitere Kreditbank und eine Verwaltung für technische Gase. Ganz rechts in der Ecke war ein kleiner Laden für Damenmode.
Am Eingang auf der linken Seite war das Geschäft mit Ledermode für Damen und Herren, dann ein Geschäft für bayrische Spezialitäten, dort roch es zu jeder Tageszeit sehr lecker. Die Anlieferung der Sendungen erfolgte am Seiteneingang.
Eine französische Küche mit vielen verschiedenen Weinen befand sich in der Seitenstraße Büschstraße. Dahinter war eine Einfahrt zur Tiefgarage für die Mieter der Gänsemarkt-Passage. Falls ich ein Geschäft vergessen haben sollte, niederzuschreiben, so bitte ich es zu entschuldigen, denn ich war das letzte Mal vor ungefähr 22 Jahren täglich in der Gänsemarkt-Passage auf Zustellung.
Im März 2022 zogen dort die letzten Mieter aus. Nach 43 Jahren wird die Gänsemarkt-Passage nun abgerissen. Bis Ende 2025 sollen hier auf fast 17.000 Quadratmetern Wohnungen, Büros und Gewerbeflächen entstehen.
Auch jetzt im Ruhestand sehe ich mir, ohne die Zeit im Nacken zu haben, gerne den ganzen Gänsemarkt an. Natürlich auch das Lessing-Denkmal. Es stand Anfang der 1980er Jahre näher an der Finanzbehörde. Später wurde der ganze Gänsemarkt umgestaltet. Die Gerhofstraße wurde Fußgängerzone, dort, wo früher Autos und die Hamburger Straßenbahn Richtung Poststraße durchfuhren. Die Geschäftsleute rund um den Gänsemarkt und deren Seitenstraßen waren immer sehr freundlich. Es war für mich eine schöne Zeit, als ich hier zugestellt habe.
Jetzt sage ich der Gänsemarkt-Passage, wie man in Hamburg sagt, Tschüss ...