Good-by New York
Im Juli 1980 lagen wir mit dem argentinischen Segelschulschiff Libertad
am Pier 92 (Höhe 52th Street) der Stadt New York. Ich begleitete den Windjammer als Berichterstatter der Armada Argentina, im Rang eines Kapitänleutnants.
Der 4. Juli, Tag der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, signalisierte den Beginn eines langen Wochenendes, voll freudiger Ereignisse. Die Libertad
wurde von Besuchern praktisch gestürmt. Nicht nur Landratten
kamen an Bord, um das Schiff zu bewundern, sondern auch viele Nautiker näherten sich auf Sportbooten von der Wasserseite, um den Großsegler genauer zu betrachten. Beim erholenden Duschen in der Nasszelle konnte es schon mal vorkommen, dass man sich plötzlich wie auf einem Präsentierteller fühlte, wenn neugierige Umschwärmer durch die Bullaugen starrten. Auf hoher See kommt man normalerweise nicht auf solche Gedanken!
Die Independence Day Parade auf der Broadway Avenue war einer der Höhepunkte des 204. Jahrestages der Entstehung der USA. Bei dieser Gelegenheit nahm auch eine Abteilung Kadetten der Libertad
an der Parade teil. Mit der argentinischen Flagge voran, marschierten die jungen Offiziersanwärter im Paradeschritt die Broadway Avenue entlang und ernteten für ihre schneidige Haltung den begeisterten Applaus der vielen tausenden Zuschauern.
Die New Yorker feierten diesen Tag, bei knappen 30 Grad Celsius, in allen Stadtteilen. Überall wurde getanzt und gesungen. Am Abend des 4. Juli strahlte der Himmel wider vom Schein des traditionellen Feuerwerks. Eine unübersehbare Menschenmenge, die sich am Riverside Park versammelt hatte, bewunderte das einmalige Schauspiel.
Am nächsten Tag fand die sogenannte Maritime Mardi Gras
statt — die Schiffsparade auf dem Hudson River. Majestätisch führte die Libertad
die aus 350 Schiffen und Booten bestehende Armada den Fluss entlang. Im Kielwasser folgten der amerikanische Zerstörer Claude V. Rickets
und das Schulschiff der US Coast Guard Eagle
(die ehemalige, 1936 in Hamburg gebaute Horst Wessel
). Feuerwehrboote belebten das Spektakel mit haushohen Wasserstrahlen. Überall am Ufer jubelte die Menge und ließ Luftballons gen Himmel steigen.
Die Matrosen in ihren historischen Uniformen auf den Rahen, an denen die Segel aufgegeigt waren, ließen die Libertad
in all ihrer Pracht erscheinen.
Nach der Wende vor der Verrazano Brücke konnten wir auf die Maschinen verzichten. Mit all den gesetzten Segeln bot das Schiff auf seiner Flussaufwärtsfahrt den unbeschreiblichen Anblick, der nur bei einem vom Winde getriebenen klassischen Großsegler möglich ist.
Während unseres Aufenthalts in New York bekamen wir einen zusätzlichen Gast an Bord. Es handelte sich um einen argentinischen Sportsegler, der durch seine Beiträge in Fachzeitschriften sehr berühmt geworden war, hauptsächlich aber durch seine Karikaturzeichnungen, die er unter dem Synonym Hormiga Negra
(schwarze Ameise) zeichnete. Er sollte auf der Fahrt von New York nach Bremen Erfahrungen über den Einfluss der Winde im Nordatlantik auf Segelschiffe sammeln.
Schon in New York wurden seine Kenntnisse in Anspruch genommen. Er bekam den Auftrag, einen Segelmacher ausfindig zu machen, der kurzfristig unsere Fock- und Klüversegel, die bei einem Sturm in der Karibik zerrissen wurden, reparieren könnte. Er kam auf einen bekannten Sportsegelhersteller, der sich bereit erklärte, für einige Tage seine Produktion einzustellen, um alle verfügbaren Arbeitskräfte seines Werkes für die dringende Reparatur einzusetzen. Ein weiteres Entgegenkommen der New Yorker gegenüber der Libertad
!
Mit einem gemieteten Lastwagen transportierte Hormiga Negra, in Begleitung zweier Offiziere, die großen Tücher zur Werkstatt. Ein paar Tage später hatten wir die reparierten Segel wieder an Bord und konnten beruhigt derAtlantik-überquerung entgegensehen.
Der Abschiedsempfang, zu dem der Kommandant geladen hatte, war der absolute Höhepunkt dieser Reise auf diplomatischer Ebene. Nicht weniger als 25 Repräsentanten des amerikanischen Parlaments kamen mit ihren Gattinnen an Bord. Das Bufett wurde auf dem Achterdeck serviert, über das ein Sonnensegel als Zeltdach gespannt war. Die Leute in der Kombüse hatten wieder einmal ihre ganze Kunst angewendet. Schmackhaftes Rindfleisch, verschiedene Käsesorten, verführerische Häppchen, die besten Weine, alles argentinischer Herkunft, wurden den hohen Gästen geboten. Zum Abschluss: an Bord zubereitete Süßigkeiten und Champagner.
Der Kommandant und seine Stabsoffiziere bemühten sich, den Senatoren und Abgeordneten die politische Situation in Argentinien unter einer Militärregierung zu erklären. Dies war eine der ausgesprochenen Gelegenheiten, in denen das Schiff seine Rolle als schwimmende Botschaft beweisen konnte. Als Anerkennung für die Einladung übergab der Senator vom Bundesstaat New York dem Kommandanten eine aus feinem Kristall angefertigte Replik des Big Apple
, das Symbol der Weltstadt.
Der Erfolg dieses Gesellschaftsabends konnte am strahlenden Gesicht des Kommandanten abgelesen werden. Die um zwei Tage verzögerte Abfahrt des Schiffes von New York, die erst auf technische Gründe (etwa die Segelreparatur?) bezogen wurde, hatte nun ihre wahre Rechtfertigung.
Die Libertad
sollte eigentlich schon am 9. Juli, Tag der argentinischen Unabhängigkeitserklärung, auslaufen, um die Feier auf See abhalten zu können. Stattdessen wurde die Zeremonie zu diesem Nationalfeiertag im Hafen zelebriert.
Aus genannten Gründen lief das Schiff erst am 11.Juli aus. Um die letzten Formalitäten zu erledigen, war der Adjutant des Marineattachés aus Washington angereist und verweilte bis kurz vor der Abfahrt an Bord. In der Offiziersmesse unterhielt er sich begeistert mit einigen seiner Klassenkameraden, die er nach längerer Zeit wiedergetroffen hatte. Als an Deck die Pfeifsignale zum Leinen los!
ertönten, wurde ihm plötzlich bewusst, dass er eiligst das Schiff verlassen müsste. Wenige Minuten später stand er atemlos am Pier neben seiner Frau. Noch lange Zeit danach konnten wir ihn in seiner weißen Uniform unter den zahlreichen Leuten erkennen, die uns zum Abschied winkten.
Stromabwärts fuhren wir wieder den Hudson entlang und die Skyline zog langsam an uns vorbei. Keine jubelnde Menschen an den Ufern, nur der Berufsverkehr auf der 12th Avenue begleitete unsere Gedanken. Einer der Gäste, der mehrmals auf dem Schiff zu Besuch gewesen war, hatte noch kurz vor der Abfahrt betont: Die Libertad wird eine große Lücke im Terminal hinterlassen, wir werden das schöne Schiff sehr vermissen
.
Ein letzter Blick noch auf das Empire State Building, die hochragende Türme des World Trade Building und den Battery Park, und schon kamen wir an der Liberty Statue vorbei und fuhren anschließend unter unserer vertrauten Verrazano Brücke durch. Die lange Reise über den Ozean nach Europa hatte begonnen.
Hinter uns lag New York und der Sandy Hool, vor uns der weite Atlantische Ozean. Noch saßen wir in der Offiziersmesse und plauderten über die Ereignisse der vergangenen Tage. Der Übergang von den sorglosen Aktivitäten an Land auf das disziplinierte Leben an Bord wurde wieder langsam spürbar.
Plötzlich ertönte die Frage: Wem gehört eigentlich dieser Aktenkoffer?
. Alle Augen richteten sich auf das schwarze Objekt, das an einem der Tischbeine lehnte. Vorsichtig legten wir den Koffer auf den Tisch und suchten nach einem Namensschild oder sonstigen Kennzeichen, die auf seinen Besitzer deuten könnten. Nichts! Der Aktenkoffer war verschlossen und niemand konnte sich daran erinnern, jemand damit gesehen zu haben. Also beschlossen wir, dem Zweiten Kommandanten Meldung zu erstatten. Dieser ordnete an, den Verschluss aufzubrechen, um den Besitzer ausfindig zu machen. Einige Werkzeuge wurden herangebracht und schon flog der Deckel auf.
Kaum hatten wir begonnen, den Inhalt zu sichten, da mussten wir schon lachen. Erst kamen dutzende von Kreditkarten zum Vorschein, dann ein Hotelschlüssel und schließlich auch ein Autoschlüssel mit Anhänger. Der Namen auf den Kreditkarten war der unseres eifrigen Adjutanten des Marineattachés, der uns so freudig vom Pier aus gewunken hatte!
Sofort wurde die Brücke angerufen um festzustellen, ob der Lotse noch an Bord sei. Antwort: negativ! Vor etwa einer halben Stunde war er auf das Lotsenboot umgestiegen und befand sich auf dem Weg nach New York. Also keine Chance, den Aktenkoffer seinem Eigentümer umgehend zurück zu senden. Wir konnten uns lediglich per Funk mit der Botschaft verständigen und dem vergesslichen Offizier die Meldung übermitteln, er könne seinen Koffer nach unserer Ankunft in Bremen abholen lassen.
Als wir uns seinen Gesichtsausdruck im Augenblick, in dem er seinen Aktenkoffer vermisste, vorstellten, konnten wir nicht weniger als uns krummzulachen. Wir dachten an den schönen Tag
, den er mit seiner Frau in New York verbringen wollte, jetzt ohne Auto- und Hotelschlüssel, und das Schlimmste, was einem in den USA passieren kann: Ohne Kreditkarten da zu stehen!
Und dann noch, wie er wohl vor seinen Vorgesetzten stand? Armer Teufel, aber unseren Spaß hatten wir doch, und es half uns, die Wehmut des letzten Abschieds zu überbrücken. Eben ein wenig Schadenfreude ob seines Eifers.
Tatsächlich bekam er seinen Aktenkoffer erst 3 Wochen später, nach unserer Ankunft in Bremen, zurück.