Die erste Tanzstunde
Es war im Frühjahr 1949, ich war 16 Jahre alt und besuchte die neunte Klasse. Die neuen Kurse in den Tanzschulen begannen und einige meiner Klassenkameradinnen waren sehr aufgeregt, sie waren schon für die Folgekurse angemeldet und fragten sich, ob die Jungen aus dem Anfängerkursus wohl weitermachen und sich so manche Freundschaft erneuern oder vertiefen ließe.
Bei mir zu Hause war Tanzschule kein Thema. Meine Eltern waren geschieden, mein Vater zahlte nur sporadisch Unterhalt für mich, so dass meine Mutter gezwungen war zu arbeiten. Geld für Tanzstunden war auf keinen Fall vorhanden. Die Mädchen aus meiner Klasse, die die Tanzschule besuchten, waren finanziell besser gestellt. So auch die Eltern meiner Freundin Gertrud, sie waren Inhaber einer Schlachterei. Gertrud überredete mich, an einer Schnupperstunde, die nichts kostet und zu nichts verpflichtet, teilzunehmen.
Die Tanzschule war in der Moorweidenstraße und wir machten uns eines Nachmittags auf den Weg. Das Tanzlehrerpaar empfing uns in einem Saal, dessen Wand auf der einen Seite aus großen Spiegeln bestand. In der Mitte befand sich die Tanzfläche und rundherum standen Tische und Stühle. Meine Freundin und ich nahmen an einem der Tische Platz. Es gab Tee und Gebäck, alles sehr vornehm und gediegen, aber so richtig wohl fühlte ich mich nicht.
Die Tanzlehrer erklärten uns einige Verhaltensregeln, z.B. wie ein Herr eine Dame zum Tanz auffordert und sie danach wieder an ihren Platz geleitet und sich bedankt. Mit meinen 16 Jahren fand ich alles etwas übertrieben und affig. Dann tanzte uns das Paar etwas vor, in eine Haltung, die mir unnatürlich und albern vorkam. Die Jungen, die nur in geringer Zahl anwesend waren, gefielen mir nicht, so dass ich froh war, als die Stunde vorüber war. Meiner Freundin erklärte ich, dass ich lieber weiterhin Handball spielen möchte und dass mit dem Tanzen nichts für mich sei.
Die Jahre gingen dahin, ich heiratete und wir bekamen einen Sohn.
Mein Vetter Heinz, mit dem ich zusammen aufgewachsen bin, studierte, wurde Lehrer und nebenbei machte er auch noch seinen Tanzlehrer und gab Tanzstunden in einer Tanzschule am Mittelweg. Unser Sohn Norbert wuchs heran und war mit seinen 15 Jahren stattliche ein Meter achtzig groß. Heinz meinte zu Norbert, solch große Jungs wie du fehlen mir in der Tanzschule, hast du nicht Lust mal zu kommen und dir das anzusehen?
Mir fiel meine Schnupperstunde wieder ein, aber ich sagte nichts, dachte mir nur, soll er sich das ruhig mal anschauen und war überzeugt, er würde sagen: Einmal und nie wieder.
Es kam alles ganz anders. Es gefiel unserem Sohn so gut, dass er nach dem Anfängerkursus nun fast jeden Tag als Gastherr an verschiedenen Kursen teilnahm.
Nach einem Jahr, Norbert tanzte schon sehr gut, was wir auf dem Abtanzball feststellen konnten, meinte er, wir sollten auch mal einen Tanzkursus machen, weil das sehr viel Spaß macht. Mein Mann tippte sich an den Kopf und sagte: So‘n alter Knacker wie ich, macht sich doch nicht zum Affen und geht zur Tanzstunde.
Ich fühlte mich noch gar nicht so alt und er war doch nur ein Jahr älter als ich. Norbert erklärte ihm, dass noch ältere Paare als wir an Tanzkursen teilnehmen. Da er so begeistert zur Tanzschule ging, nahm ich an, dass es jetzt bestimmt anders dort zuging als damals.
Nach langem Zureden gelang es meinem Sohn und mir, meinen Mann, der eigentlich immer sehr gerne tanzte, zu überreden, einen Tanzkursus mit mir zu machen. Norbert hatte Recht, wir waren bei weitem nicht die ältesten Teilnehmer in unserem Kursus mit unseren 38 beziehungsweise 39 Jahren.
Die Begeisterung meines Mannes wuchs mit jedem weiterführenden Kursus und wir legten die Prüfungen für die Tanzabzeichen in Bronze, Silber und Gold ab und schlossen uns dann einem Tanzkreis an.
Als wir 1985 von Hamburg nach Kaltenkirchen zogen, meldeten wir uns kurze Zeit später in der Tanzschule Klahn an und tanzten dort in einem Tanzkreis, bis mein Mann aus gesundheitlichen Gründen das Tanzen aufgeben musste.
Heute kann ich sagen, dass die gemeinsamen Tanzstunden mit zu meinen schönsten Erinnerungen gehören.