Der Bart ist ab!
Wir schreiben das Jahr 2005, ein Jahr voller Jubiläen, Gedenktage und Erinnerungen. Einer dieser Gedenktage ist das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 60 Jahren, Schließung der KZ-Lager, Ende der Judenverfolgung, Ende der Ermordung behinderter Menschen auf Regierungsbefehl und … und … und … Ich könnte bei einigen kurzen Überlegungen noch eine Menge anderer Ereignisse aufzählen, alles große, wichtige Ereignisse. Da kommt mir die Idee, warum spricht denn niemand über die kleinen Alltagsdinge, die oft genug sehr gefährlich hätten ausgehen können. Ja, denkt denn an diese Kleinigkeiten
heute noch jemand? Viele, vielleicht sogar sehr viele dieser nicht so heroischen Dinge mögen gar niemals an die Öffentlichkeit gedrungen sein!
Ich denke da ganz besonders an eine Frau aus Leipzig-Markkleeberg. Sie ist schon lange tot. Vor rund 60 Jahren erzählte sie mir folgende Geschichte:
Immer wenn sie zur Arbeit ging, musste sie an einem Trupp französischer Kriegsgefangener vorbei, die beim Straßenbau beschäftigt wurden. Es waren durchweg junge Leute, hätten ihre Söhne sein können! Ihre eigenen Söhne waren auch im Krieg. An der Russlandfront. Beide waren gefallen. Schließlich ist es doch ganz natürlich, dass sie beim Anblick dieser jungen Männer an ihre eigenen Söhne dachte. Ihr fiel auf, dass der ganze Trupp vollbärtig war. In
war das damals jedenfalls nicht, aber sie traute sich auch nicht zu fragen, denn mit den ausländischen Kriegsgefangenen zu sprechen, war bei Strafe verboten. Sie grübelte und suchte nach einem Grund, warum diese Männer alle, aber auch alle einen Vollbart trugen. Ob die keinen Rasierapparat haben, fragte sie sich und beobachtete die Männer weiter. Nichts änderte sich in deren Gesichtern. Darauf entschloss sie sich, das abzuändern. Aber, das durfte ja niemand merken. Wehe, wenn das schief ging. Also kaufte sie eines Tages Rasierapparate, wie viele, weiß ich nicht mehr, dazu jede Menge Rasierklingen, machte daraus ein kleines Päckchen und steckte es in ihre Tasche, bevor sie zur Arbeit ging.
Nun wurde dieser Trupp selbstverständlich von einem Wachmann, einem deutschen Soldaten, bewacht. Der durfte natürlich nichts merken. Schon von weitem sah sie den besagten Wachmann auf und ab marschieren. Er war ja ihren Anblick gewohnt und kümmerte sich um die Frau nicht. Sie hingegen kannte seine Marschroute und stellte ihr Tempo darauf ein. Er musste unbedingt vor ihr seine Kehrtwendung machen. Das klappte. Und sie verlor
ihr Päckchen direkt vor den französischen Kriegsgefangenen - wortlos, versteht sich. Danach kurzer Grußwechsel mit dem Wachmann.
Am nächsten Morgen waren alle Kriegsgefangenen rasiert. Es gab keinen Vollbart mehr, auch keinen Schnurrbart. Dafür hörte sie im Vorübergehen ein mehrfaches, freundliches Bonjour, Madam!
Erwidern durfte sie ja nichts, doch ihr freundliches Kopfnicken hatten alle wahrgenommen!
Das waren so die kleinen Mosaiksteinchen im großen Weltkrieg. Wer denkt heute noch an sie?
Die stille Spenderin hieß Ida Hempel, verwitwete Schlecht und wohnte nach dem Krieg noch lange in der Leipziger Rosa-Luxemburg-Str.
Kann man ihre Geschichte nicht auch schon als Völkerverständigung bezeichnen?