Der Kollex kommt
Fliegende Händler mit Bauchläden waren früher in ländlichen Gegenden Ostpreußens gern gesehene Gesellen, die mit ihren nützlichen Kurzwaren bei den Landfrauen gute Umsätze machten. Lange vor dem zweiten Weltkrieg gab es in unserer Gegend solche Gesellen, die sich selber Kollex
nannten. Kam der dann in Häusernähe, rief er ganz laut: Der Kollex kommt!
oder Der Kollex ist da!
Wir Kinder rannten ihm lachend entgegen, standen dann um ihn herum und bestaunten immer wieder sein Angebot und vor allem seine Kleidung. Er war so anders angezogen als die Erwachsenen bei uns, er hatte nämlich die österreichische Tracht an, eine Jacke mit vielen blanken Knöpfen, eine Kniebundhose, weiße Kniestrümpfe und Schnallenschuhe. So etwas kannten wir von unserer Männerwelt doch nicht! Deshalb war er für uns Kinder schon wegen seines Aussehens hochinteressant, sein Erscheinen im Dorf immer eine willkommene Abwechselung und das nicht nur für die Kinder.
Was der Kollex in seinem Bauchladen alles drin hatte? Unheimlich viele Kurzwaren, aber alle ich könnte sie beim besten Willen nicht mehr aufzählen: angefangen von Druck- und Wäscheknöpfen über Schnürsenkel, Taschenmesser und Portemonnaies aus echtem Leder. An den Seiten des Bauchladens hingen Hosenträger, die damals auf dem Lande sehr gebraucht wurden sowie Sicherheitsnadeln und Gummibänder! Solch ein Bauchladen war ein richtiger Wunderkasten. Hinzu kam, dass die Preise beim Kollex oft viel günstiger waren, als in den Geschäften in der Stadt. Klar, dass sich um den Mann immer eine kleine Menschentraube bildete. Und wenn auch nicht gerade Großeinkäufe gemacht wurden, Kleinvieh macht ja bekanntlich auch Mist und es muss sich wohl für den Kollex und seine vielen Genossen gelohnt haben, denn sonst wären die ja nicht zu uns in den Norden Deutschlands gekommen sein. Und wenn der Kollex kam, war das auch für die Erwachsenen eine nicht unangenehme Unterbrechung ihrer täglichen Arbeit, schließlich ersparten sie sich den Weg in die nächste Stadt und bekamen übrigens auch keinen Schund angeboten. Was er anbot, war schon recht gut und hielt den Vergleich mit den Waren aus der Stadt durchaus Stand.
Eines Tages fragte ein Kollex, ob er wohl bei uns übernachten könnte. Es war schon später Nachmittag und wir hatten ja Platz genug. Warum denn nicht? Im Grunde war das für uns ein armer Wanderer, der sicher mit dem geringen Verdienst aus dem Verkauf seiner Waren seine Familie und Kinder ernähren musste. Übernachtungsgeld? Nein, das nahm man nicht. Und das Stückchen Brot, das er zum Frühstück aß, nein, dafür nahm meine Mutter keinen Groschen an. Ich ging damals noch zur Schule, als wir den Kollex beherbergten und ich erinnere mich, dass er meiner Mutter etwas aus dem Bauchladen gab, ich meine, dass es Wäscheknöpfe für die Bettwäsche waren, die sie immer benötigte, denn sie nähte ja alles selber, war schließlich billiger als fertig genähte zu kaufen.
Ja und dann fragte dieser Kollex beim Frühstück: Wie heißt ihr denn eigentlich?
Vater nannte unseren Namen. Da meinte der Kollex: Komisch, in der letzten Woche habe ich bei einem Bauern mit gleichen Namen übernachtet!
Nanu, wunderten wir uns, unseren Namen haben wir - außer bei Vaters Bruder - noch nie gehört. Gegenfrage: Wo war das denn, als Sie bei diesem Bauern schliefen?
Antwort: Im Kreis Pilkallen …
Großes Frühstücksgelächter! Genau dort wohnte nämlich Vaters Bruder!
Wie wir dann noch weiter erfuhren, gab es mehrere Kollexe, alle kannten sich, waren nach seinen Angaben alle miteinander verwandt, Bruder, Schwager oder Cousin. Offenbar hat sich das dann herumgesprochen, denn ab und an hat noch manch Kollex bei uns übernachtet.
Ob heute noch jemand von Österreich ins nördliche Ostpreußen fährt? Wenn ja, dann sind das sicher keine Kollexe mehr!