Schwarzmarkthandel in der Nachkriegszeit
Nachdem ich im Sommer 1945 aus kanadischer Gefangenschaft entlassen worden war, fand ich meine Heimatstadt Kiel in Trümmern. Unsere Wohnung in der Clausewitzstraße war jedoch unzerstört. Ein Glück in jenen Tagen größter Wohnungsnot, die durch die vielen Flüchtlinge, die mit Koffern und Karren aus dem Osten kamen und eine Bleibe suchten, noch erschwert wurde. Kiel gehörte wie Schleswig-Holstein und Hamburg zur Britischen Besatzungszone. Das Straßenbild wurde von den Uniformen der sogenannten Tommys beherrscht.
Ich lebte mit meiner Mutter Erika und meinem fünfjährigen Bruder Rüdiger zusammen. In zwei größeren Zimmern mit einem sogenannten halben Bad, das wir uns mit dem Wohnungsnachbarn teilten. Außerdem hatten wir in der Küche einen Platz am Herd. Damals funktionierte mangels Kohlen die Zentralheizung nicht. Im Wohnzimmer stand ein Kanonenöfchen, das mit Holz beheizt wurde. Auch an Holz mangelte es. Der Ofen qualmte heftig, das Ofenrohr spuckte schwarze Tropfen auf den Teppich und führte durch die Bretterwand hinaus auf die Straße.
Mein Vater Kurt Voigt war im April 1945 gefallen. Er lag auf dem Kieler Soldatenfriedhof. Weil es keine Steine gab, bastelte ich aus Mahagoniholz eine provisorische Namenstafel und durfte sie an der Stelle aufstellen, wo man im Massengrab den Körper meines Vaters vermutete. Meine Mutter und ich waren auf uns allein gestellt. Das Leben zu organisieren und meinen kleinen Bruder zu versorgen, kostete Kraft und viel Zeit in der Zeit nach dem Krieg, als es an allem fehlte. Unsere ehemaligen Feinde, die Tommys, halfen uns mit ihren Tauschgütern so manches Mal über die Runden.
Um Nahrung eintauschen zu können, verscherbelten wir damals all unsere Wertsachen an die Engländer. Sie erwarben das Gold und Silber billig mit ein paar Stangen Zigaretten, die die Einheitswährung jener Tage waren. Jeden Abend stand ich an den Eingängen der Militärunterkünfte und sprach die einfachen Soldaten in meinem Schulenglisch an: Want golden bangle, clock? Give Cigarettes?
Noch hatte ich keine Zeit gehabt, um mich mit den Regeln des Bettelns und Handelns vertraut zu machen. Aber ich sollte es in den folgenden Monaten lernen.
Meine Mutter schrieb dazu in ihr Tagebuch:
All unsere Wertsachen sind schon fort, ich habe aber noch Kurts Armbanduhr, Jürgens beide Uhren, Ferngläser, Schreibmappen, meine kleine Handtasche, zwei Marinedolche von Kurt, außerdem eine uns anvertraute goldene Uhr, die uns eineinhalb Pfund Tee Provision einbrachte. Für meine Uhr bekamen wir eineinhalb Pfund Kaffee, ein halbes Pfund Kakao, Seife, Schokolade, Zahncreme, eine Apfelsine, alles Kostbarkeiten im verarmten Deutschland. Fast jeden Abend ist Jürgen mit Freunden unterwegs und handelt mit den Tommys, wir sprechen alle ganz gut Englisch.
Der Kontakt zu den Soldaten erschöpfte sich nicht in bloßen Tauschgeschäften. Zwar war laut Besatzungsorder der persönliche Kontakt zwischen Besatzern und Bevölkerung verboten, und bereits ab 22 Uhr herrschte Sperrstunde. Doch die einfachen englischen Soldaten kümmerte das wenig. Sie waren gern bereit, den Abend zur Abwechslung in den dunklen und kalten Wohnungen der besiegten Deutschen zu verbringen. Wenn sie vor unserer Haustür mit dem Jeep parkten, rief das nicht selten den Neid der Nachbarn hervor. Natürlich waren die Mitbringsel immer gern gesehen. Schließlich waren Dosen mit Tee, Fett oder Alkohol Raritäten in der damaligen Zeit. Wichtiger aber war das Zusammensein, der Kontakt mit Menschen, die uns früher als Feinde galten. Wir bemühten uns, die Soldaten mit unserem skurrilen Englisch zu erheitern und ihnen ein paar Brocken Deutsch beizubringen und erzählten ihnen, so gut wir es eben konnten, Geschichten aus unserem erbarmungswürdigen Leben.
Am 14. Mai 1946 schrieb meine Mutter:
Jürgen hat zwei englische Offiziere kennengelernt, die kommen jeden Montagabend zu uns. Ich habe jedes Mal Kaffee oder Tee gekocht. Die englischen Majore brachten mir Schokolade mit. Das erste Mal sprachen wir über englische Politik, das zweite Mal über Musik, gestern über Russland. Jürgen spielte Gitarre. Es wird kein Wort Deutsch verstanden. Major Winsor ist etwa 30 Jahre alt, schmal, schlank, klug, kühl. Major Chellinor ist sehr klein, etwas runder mit schwarzen Augen, lacht gern, warmherzig und lebhaft. Jürgen spricht schnell und gewandt, macht Fehler, aber er weiß sich zu helfen, kriegt die schwierigsten Sachen zurecht. Ich bin vorsichtig im Sprechen, verstehe einen großen Teil der Unterhaltung, ermüde aber gegen halb elf sehr. Sie bleiben meist bis halb zwölf, wegen der Sperrstunde. Aber es hat uns viel Freude bereitet in dieser Not.
Manchmal wurden die britischen Soldaten fast zu so etwas wie Familienmitgliedern: Stanley war sich nicht zu schade, Stunden an Rüdigers Bett zu wachen, das Gewehr zwischen den Knien, wenn wir ins Kino gingen. Und Rüdiger fand das ganz n Ordnung, er mochte den Mann, der so gar nicht kriegerisch aussah, aber immerhin eine Waffe hatte, was konnte ihm da schon passieren?
Die Organisation des Weihnachtsfests wurde damals für uns zu einer großen Herausforderung. Dank Handel und Tausch hatten wir es geschafft, ein für die damaligen Verhältnisse üppiges Fest zu feiern. Daran hatten nicht zuletzt auch die Tommys ihren Anteil gehabt. Am 25. Dezember schrieb meine Mutter:
Das erste Weihnachtsfest ohne unseren Vati. Aber wir bemühten uns um gute Haltung und Fröhlichkeit. Jürgen hatte Ölsardinen, Götterspeise und Kaffee besorgt. Ich bekam zwei karierte Kopfkissenbezüge, ein Holzbrettchen mit dem Hamelner Wappen, ein Lesezeichen, Hautcreme, Nähnadeln, Schere und eine Tasche. Jürgen schenkte mir noch zwei Bücher, eine Bratpfanne und Parfüm. Ich hatte ihm Lautenbänder gestickt und ein Trageband für die Gitarre. Rüdiger war glücklich mit seinem Teddy, Trompete Brote und Bauernhof, zu dem ich ihm zwei Puppen gemacht hatte. R. schickte zwei Brote und Zucker. Jürgen tauschte Fleisch und Margarine für mich ein, hat sogar Rum und Fische in Tomatensoße besorgt. Jürgen brachte einen netten Tommy mit, den wir noch nicht kannten.
Irgendwann war die Zeit der Reichsmark und der englischen Zigaretten vorbei. Manche weinten dem Schwarzmarkt nach. Man hatte sich daran gewöhnt, und niemand konnte wissen, was die lang angekündigte Reform mit sich bringen würde. Ich vermisste die munteren Gespräche mit den Tommys bald. Die erste Begegnung mit Menschen aus einem anderen Land, noch dazu mit ehemaligen Feinden, die zu Freunden wurden, hatte mich tief berührt. Meine Mutter schrieb an einer Stelle ihres Tagebuchs: Wir sprachen vom Krieg, von Religion, von ihren Familien. Es war richtig freundlich, ganz so, als seien wir nie Feinde gewesen.