Soldat unter Hitler
Sylt – ein Paradies im Krieg
Das frohe Lied auf den Lippen
, marschierten wir dem Bahnhof Husum zu. Uffze verteilten die MahallaDas Wort kommt wahrscheinlich vom arabischen Begriff Mahalla
(deutsch Nachbarschaft, Stadtviertel, Heerlager).Quelle: Wikipedia.de mit Gebrüll auf Güterwagen, je 80 Mann. Wir lagerten auf Stroh, schliefen ein. Nach Stunden setzte die Wagenschlange sich in Bewegung. Das Dadadam
der Räder ließ mich einen Traum träumen, der von einem Mädchen handelte, wovon auch sonst. Der Nachbar zur rechten hatte mir ein Bein über den Hals gelegt, der zur Linken die Faust in den Magen gegraben. Durst! Nirgends Wasser. Ein Wacher lugte durch die Ritzen und brüllte: Hindenburgdamm! Auf dem kaum benutzten Bahnhof Westerland (nur weiße Häuschen und Stacheldraht zu sehen) hieß es, wie immer beim Kommis, antreten, abzählen, ob nicht einer verloren gegangen war. Zum Güterbahnhof, die winzigen Spielzeugwagen der Inselbahn enterten die jungen Soldaten unter Gelächter. Wie auf der Kinoleinwand zog die gelbgrüne einsame Dünenlandschaft vorüber. Immer musste das Lokomotivchen rangieren, halten, tuten. Möwen schrien. Auf ein Nebengleis - ein Tor ging auf, das Züglein rollte ins Lager der Marine. Sein Name: Möwenberg.
Im spärlichen Grün standen wohnliche Kasernen im Stil ostfriesischer Bauernhäuser um den Hof. Am Mast wehte die Kriegsflagge, darunter in festlichem Weiß kommandierende Offiziere, die Hand erhoben zum lässigen Gruß. Halt das Ganze. Antreten zur Musterung vor dem Block namens Oesel
, abzählen, grüßen, melden, die alte Prozedur. In militärischer Hektik (warum nur diese Eile, der Krieg läuft doch nicht fort?) teilte man die Kompanie in vier Züge, die Züge in vier Gruppen. Meine Gruppe mit den Längsten der Kompanie begrüßte ihren Grufü, den winzig gewachsenen Obermaaten Plautz, der über massive Stimmbänder verfügte, sein Gebrüll hallte weit zu den Dünen rundum. Auf Stube, marsch! Reinschiff! Alle Spinde auf den Hof schleppen und mit dem Wundermittel P3 (frisst alle Stoffe) auswaschen, Matratzen klopfen, dass es knallt, Betten beziehen mit blaugewürfelten Laken und Betten bauen nach strengen Marineregeln, wie mit dem Lineal gemessen. Gebrüll: Backschafter raustreten!! Kaffeeholer raustreten!!
, Muckefuck in großen Alukannen, die dem Getränk seinen unverwechselbaren Geschmack mitteilten. Dazu empfing ich den Kanten Brot, Klecks Margarine, Klecks Vierfruchtmarmelade. Alles zusammen schmeckte es nach Waffen und Soldaten. Die 14 Mann auf Stube mampften, klöterten herum und guckten raus auf den Kohleschuppen. Dahinter reihte Düne sich an Düne, und am Horizont rauschte das Meer. Stunden später Raustreten zum Mittagessen im großen Mannschaftsspeiseraum, geschmückt mit den Bildern nordischer Menschen, grauer Schiffe und großer Taten. Der Führer blickte streng von der Frontseite. Man empfing Pellkartoffeln, deutlich erfroren und süßlich, je Mann eine Bulette und drüber die berühmte braune Marinesoße. Es machte nicht satt, aber es füllte die ewige Leere im Magen. Wenn bei der Musterung vor dem Essen ein Knopf an der Uniform fehlte oder, schlimmer, ein Nagel im Stiefel, musste der Delinquent bei Tisch stramm stehen und hungern.
Marschieren, exerzieren, grüßen, hüpfen, robben, auf dem schwarzen Schotter des Kasernenhofs. Im Glied stehen, abzählen, Augen geraaaade aus! Rührt euch, still....stannnnden.... rrrrechts um! Plautz ist ein Schleifer aus Leidenschaft, er genießt das Schinden und Schikanieren. Brüllend wurde aus dem kleinen Mann ein Großer. Den Rest des Tages verbrachte er trinkend in Gesellschaft anderer Maate, in seiner Welt, den Rekruten unerkennbar. Er konnte es wagen, seine Männer hart zu schinden. Sie kamen aus der HJ und waren im Allgemeinen sportlich geübt und zäh. Unfälle durch Überanstrengung kamen selten vor, auch nicht im härtesten Einsatz inmitten der Dünen. Und sie waren gutwillig und gehorsam, diese ehemaligen Pimpfe, sie gierten danach, eingesetzt zu werden irgendwo an der Front, sie waren bereit, sich zu opfern für die Sache, an die sie glaubten, allen Unkenrufen irgendwelcher Zivilisten zum Trotz. Gutes Menschenmaterial, würden die Vorgesetzten zufrieden sagen, wenn sie allein waren.
Am Rande des Stahlhelms summte der Wind seine tiefen Töne, oft so laut, dass mir der gebrüllte Befehl von weit hinten entging - und musste 20 mal pumpen zur Strafe, na wenn schon... dafür grub ich mein Gesicht tief ins Moos der Dünenkuhle und atmete verzückt den erdig-süßen Duft der schwarzen Beeren. Nie habe ich diesen Rausch der Sinne vergessen, es war eine Welt, die mir gehörte, in der ich alles um mich her vergaß, wie ein Tier irgendwo in der Natur. Staunend pulte ich lange Stahlgeschosse und kupferne Hülsen aus dem Sand der großen Wanderdüne, immer auf der Leeseite traten die Geschosse aus dem Ersten Weltkrieg langsam hervor, Zeugen einer anderen Zeit.
Die Sprachregelung in der Marine war einheitlich. Man versprach, die Eier zu schleifen, bis…, aber das sagte man nicht. Man wollte wieder lachen wie der Teufel, auch das hatte man schon, und, neu, der Uffz ging mit der behandschuhten Hand über die Oberkante des Spindes beim Reinschiff und blies und fragte, können Sie mich noch sehen? Und beim Laufen an den Horizont wollte er nur senkrechte Hacken in einer Staubwolke sehen, so rasch hatte es zu geschehen. Man gewährte Freizeiten. Geführt von einem Uffz durfte ich ins stacheldraht-umgebene Westerland marschieren, um mir von einem freundlichen Optiker eine extrem hässliche Schießbrille anmessen zu lassen, grau das Metall, zu befestigen hinter den Ohren mit Bindfäden, damit die darüber liegende Gasmaske keine Lücke für das Gas bekommt. In der schwarzen Marinebadehose eilte ich an den weißen, menschenleeren Strand und stürzte mich in die gläsernen Brecher, fühlte mich frei und in seliger Übereinstimmung mit mir und der Welt.
Zehn Tage später wurde es feierlich. Antreten in gesäuberter Uniform, die blitzenden Nagelstiefel in linealgetreuer Reihe. Meldung durch die Zugführer, grüßen. Rede des Kompaniechefs über vaterländische Pflichten, Dienst an der Waffe, große Ehre und so fort. Dann trat er heran und überreichte jedem Soldaten mit ernstem Gesicht und Handschlag seinen Karabiner 98K, die unverzichtbare Braut, jenes Utensil, das man reinigte mit Öl und Lappen, das man auseinander nahm, wobei es in sieben Teile zerfiel, die man auswendig lernte, und liebte, mit dem man Griffe kloppte und präsentierte und irgendwann auch schoss. Am Stand des Fliegerhorstes schoss man scharf, liegend aufgelegt auf hundert Meter Entfernung auf die bewegliche Zielscheibe, Pflichtübung: mindestens 30 Ringe mit drei Schüssen. Ich fand das gut und schoss erstaunlich sicher. Um anschließend den Gasangriff zu üben. Die Maske saß eng, luftdicht trotz Brille und heiß auf dem Gesicht. Der Schweiß lief hinunter ans Kinn, stieg bis zum Mund, Unterkante. Ursache: der Soldat bewegte sich im Laufschritt die sandige Düne hinauf, rutschend, kämpfend ums Gleichgewicht, dabei aber dumpf singend das hübsche aber doch sehr unpassende Lied: Die Vöglein im Walde, sie singen so wunderwunderschön…
. Im dunklen Bunker und gasgefüllten Isolierraum wurden die Filter getauscht, Atem angehalten, und die Tränen ließen jede Sicht verschwimmen. Später war Alarm Küste
. Angetan mit der Leuchtpistole und Patronen in rot und grün, wanderte ich zu dunkler Nacht (Hundewache von zwei bis vier) an der brausenden Küste entlang, das Meer getaucht in Myriaden leuchtender Punkte, und das Meeresleuchten narrte mich mit Bildern feindlicher Schiffe, die vielleicht sich der Küste näherten, um hier zu landen??? Musste ich Alarm geben? Niemand sagte mir, was zu tun. So setzte ich mich in den Windschatten der riesigen Treibminen, die der Sturm an Land geworfen hatte und die aussahen wie Urwelttiere mit ihren spitzen Stacheln auf dem runden Stahlleib. Der Schlaf kam in den Katakomben des Bunkers der Seezielartillerie hinter luftdichten Türen aus Stahl, welche den fetten Mief der Erbsfürze unbarmherzig festhielten.
Gestern hatte ich die Wache von 20-22 Uhr, da gab es einen Sonnenuntergang, wie ich noch keinen gesehen habe, es war märchenhaft. Erst wurde jede einzelne Wolke in flüssiges Gold getaucht, dann ging alles unter im stahlgrauen, blauen Nichts. Dann die Wache von zwei bis vier Uhr. Wie eine blitzende Klinge stach die schmale Mondsichel zwischen den drohenden Wolkenhaufen hindurch und tauchte für Augenblicke die Dünenlandschaft in geisterhaftes Licht. Der Windhafer wisperte im Seewind und brachte unheimliche Laute hervor, der tiefe Sand gab knirschend den Stiefeln nach und verschlafen quarrte irgendwo ein Vogel. So recht zum Sinnen war das alles geschaffen, zum Nachdenken über den Sinn allen Daseins, dass man die Zeit vergessen konnte.
Großer Gepäckmarsch, 30 Kilometer mit schwerer Last auf dem Buckel quer durch die Insel. Auf halber Strecke regnete es in Strömen, und man befahl, aus den Zeltstücken, die jeder Mann mit sich trug, Achterzelte zusammenzubauen und im Dunklen den trommelnden Regen zu verschlafen. Alles humpelte, stöhnte, dicke rote Blasen wölbten sich unter den Fußlappen. Wer die Stiefel auszog, bekam sie nicht wieder an. Die Amerikaner standen vor Paris und die Sowjets auf deutschem Boden. Am 6. September redete man von der Krise, alle Fronten waren auf das Reichsgebiet zurückgenommen worden. Die Uffze jagten die Rekruten in schärfster Gangart, als hätten sie es eilig mit dem Endkampf.
Wir empfingen scharfe Munition und schossen damit im Freien umher. Spießten Strohmänner auf mit dem aufgepflanzten Bajonett. In der Kaserne wurden Licht und Wasser rationiert. Die Amerikaner kämpften südöstlich von Aachen, und beide Züge Nachrichten ROB
(Reserveoffiziersbewerber) der Lister Kasernen traten über zum Heer, denn mit Nachrichten war der Krieg nicht mehr zu gewinnen. Mit 50 Gleichgesinnten meldete ich mich zu den Kleinkampfverbänden (das sind Kleinst-U-Boote). Man wies uns ab, alles sei da schon überfüllt von Freiwilligen, die nach dem Ritterkreuz schmachteten und den Heldentod lächelnd in Kauf nahmen, der ihrer harrt. Ich sei kommandiert zu der schweren Seezielartillerie, das wäre kriegswichtig. Sagte der Kapitän und eilte zur großen Abschlussbesichtigung: Antreten mit Gewehr, Uffze vorneweg, Parade, Abschreiten der Front, präsentieren Gewehr, aufmunternde Rede. Namen aufgerufen, Hier
gebrüllt, Zuteilung der nächsten Kommandos. Manche gingen als frischgebackene Kadetten zu den Artillerieverbänden auf Helgoland, wenige überlebten dort. Launige Ansprachen und überaus lustige Streiche füllten das Abschiedsbesäufnis, leichte Rührung im tapferen Auge ließ Plautz seine Schützlinge in den Krieg ziehen, den er selbst nicht erleben würde, er, das winzige Rädchen im großen Räderwerk. Er tat weh, dieser letzte Blick vom Inselbähnchen auf die sanften Dünen, mir erschien Sylt wie ein verlorenes Paradies
1945
Gemächliche Güter- und Personenzüge beförderten mich, von Westerland nach Swinemünde an der Ostsee. Im Norden der Stadt standen die düsteren Mauern der backsteinernen Kaserne mit ihren höhlenartigen Kasematten aus dem Ersten Weltkrieg. Auf Eisenbahnlafetten davor ruhten 21-cm-Langrohrgeschütze und drohten gegen einen imaginären Feind irgendwo auf der weiten See. (Hier kommt uns keiner an Land!
). Man wies mir eine Koje an in der Kasernenstube und scheuchte mich in die Tiefen der Kasematten. Dort mannte ich eine 15-cm-Granate, genau einen Zentner schwer, auf der sackgepolsterten Schulter und schleppte sie eine steile rostige Stahltreppe hundert Stufen keuchend hinauf ans Licht. Viele Granaten schleppte ich, viele Stunden. Meine Schulterknochen fühlten sich an wie zerbrochen. Und das Herz tobte. Wie tot fiel ich in die Koje bis zum nächsten Morgen. Am Strand stand die Theaterkanone zum Üben, ein blankes Rohr, ein Verschluss. Die vierköpfige Mannschaft übte wie besessen: Laden, Kartusche nachstoßen, Verschluss schließen, alles im Wettkampf, hektisch angefeuert, mit Anerkennung der Besten. Mein gekrümmter Arm mochte das Stoßen nicht, aber ich wollte mich nicht als Invaliden vorstellen. Ein düsteres Rätsel blieb das Würzburggerät, hier ging es um Winkelzahlen, um die Theorie der Vau-Null
einer Geschoß-Anfangs-Geschwindigkeit, um Zielerfassung und Entfernungen. Man schoss auf Seeziele, auf die Scheiben, die der Schlepper vorbeischleppte, auf das korkgefüllte Zielschiff Zähringen
. Ich fasste es nicht, die Mathematik war mir seit der Schule das ominöse Geheimnis geblieben. Einmal soll ich gar mit Übungsmunition eigene Schiffe beschossen haben, wie ein bösartiger Funkspruch besagte, meine Vorgesetzten machten wenig erfreute Gesichter. Sechs Mann wurden abkommandiert zum Bunkerbauen in sandiger Landschaft. Männer hatten Bäume gefällt und in dünne Scheiben gesägt. Wir schoben auf den Knien Meter um Meter im Bunkerinneren und verlegten die hübschen Scheiben als gepflegten Fußboden, auf dem später Offiziere wandeln würden. Oder war das eher Beschäftigungstherapie für nutzlose Soldaten?
Fliegeralarm
Ein Pulk Amis über der Stadt. Ein Regen von Bomben ergoss sich auf die dicht gedrängten Flüchtlingstrecks im Kurpark. Ich wurde zum Aufräumen befohlen, sah Bilder des Grauens. Abgerissene Beine, bekleidet mit Strümpfen, hingen im Geäst. Schreiende Kinder, stöhnende Alte und Frauen. Fast blind vor Entsetzen machte ich mich ans Werk, räumte zerstörte Wohnungen auf, holte verstreute Wertsachen aus den Trümmern, barg Klamotten. Tief unten im Sand des Bombentrichters hockte eine junge Frau, stöhnend vor Schmerzen. Ich rutschte hinab, sprach begütigend auf sie ein, ich kriege ein Kind
, rief sie leise, ich zog meinen Mantel aus, deckte sie zu, die nur ein dünnes Kleid trug. Setzte mich zu ihr in aller Hilflosigkeit, dachte an mein Labor in Liebenstein und suchte nach Rettung, Sanis waren von hier unten nicht zu sehen. Die junge Frau wurde erregter, bäumte sich auf, schrie, die Wehen hatten eingesetzt. Noch ein Schrei, die Beine öffneten sich, ein Köpfchen erschien. Wie von selbst rutschte der Winzling in diese wenig einladende Welt. Was mit der Nabelschnur geschah, weiß ich nicht mehr, vielleicht hatte ich ein Taschenmesser. Tage später lief sie mir über den Weg, jubelte, fiel mir um den Hals. Ich fühlte das reine Glück, es hielt lange vor. Wie sie hieß, erfuhr ich nicht.
Das Rote Kreuz suchte Blutspender für abertausend Verwundete. Das Marinelazarett am Kurpark quoll über. Ich meldete mich bei der Oberschwester. Mein begeistertes Gesicht muss ihr gefallen haben: Wollen Sie hier mithelfen? Nur zu gern. Spritzen geben gegen den Schmerz, Evipan, Scopolamin aufziehen, ich habe es früher geübt. Die ersten Kanülen zerbrachen, weil ich falsch ansetzte beim subkutan, dann ging es, Mensch für Mensch wie am Fließband. Es ist meine Welt, ich spürte es und war zufrieden, einig mit mir und den Menschen um mich her. Die Wilhelm Gustloff
hatte festgemacht, es kamen die Verwundeten aus Kurland auf ihren Tragen. Ich öffnete verfilzte, verwanzte Verbände, sah faulende Stümpfe amputierter Gliedmaßen. Wochen waren die Leidenden unterwegs gewesen auf engstem Raum des Schiffes. Aber wir hatten kaum ein Bett noch im Lazarett, lagerten Verwundete auf Fluren und Treppen. Ab und zu brachten Hilfskräfte Kaffee und Sekt für Ärzte und Schwestern, weil sie todmüde taumelten von Patient zu Patient. Der blutjunge Pilot auf Zimmer 4 erstickte qualvoll in seinen salbengetränkten Tüchern, zu 80% verbrannt in der Me 109, nur weil das Zugseil riss, das das Fahrwerk ausfährt. Es war heimliche, bewusste Sabotage. Ich saß an seinem Bett, sah die Zeichen des Todes auf der Stirn, und suchte Trost. …diese Schweine … murmelte der Pilot, dann hatte er es überstanden. Seinen nackten Körper warfen sie auf den Leichenhaufen im Hof, der höher wuchs jeden Tag. Das Aufeinanderprallen der Körper klang wie ein Spiel mit Billardkugeln. Kein Pfarrer sprach den Segen, sie alle werden vereint werden im Massengrab. Draußen grölte ein Unteroffizier stockbesoffen, rühmte sich der Trauringe, die er den Toten auf der Gustloff abgeschnitten hatte. Ein Offizier nahm die Walther, legte ihn um. Ohne Kriegsgerichtsurteil. Es war der Alptraum, aus dem man schreiend erwachte.
Irgendein Vorgesetzter erschien, bellte Befehle, Uffze stellten Marschbatallione zusammen, mit Gewehren, Munitionskästen, mit Maschinengewehren und einer Portion Hoffnungslosigkeit.
Kolonnen trüber Gestalten bewegten sich durch die Ruinen, hohläugig, unsauber, unkriegerisch, lethargisch, stumpfsinnig. Irgendeiner munkelte im Glied: wohin…? an den Feind? … wo steht der? … Hast du Lust? Schnauze du Idiot, willst du hängen? Es gab keine Wagen, nicht mal fürs Gepäck. Wie hieß es noch: Latsch, latsch, die Heide blüht. Da latschten Frontschweine mit dem EK Erster Klasse aus Russlands Weiten neben pickeligen Pimpfengestalten, die nach Mama riefen im Traum. Ich ging weit vorn, mit dem Affen auf der Schulter und dem MG 42, es drückte auf die Knochen. Mehr schlurfend als militärisch exakt mühte sich die Kolonne über die Landstraßen mit ihrem buckeligen Pflaster im Oldenburgischen, vorbei an kahlen Chausseebäumen. Einer stimmte an: Klotz, Klotz am Bein, Klavier vorm Bauch, so lang ist die Chaussee… Langsam wuchsen wieder die Blasen unter den Fußlappen, rieb sich der Wolf im Hintern. Beim Halt an der Scheune, sitzend am Chausseegraben, mein Tagebuch nahm in zittriger Schrift die Eindrücke auf:
21.März
Ächzend lagern wir in der großen Scheune bei Heidmühle. Der Bootsmaat wirft ein lüsternes Auge auf die Bäuerin und nestelt auffällig an der Hose. Ob sich da was tut? Die Jungen werden nicht ernst genommen bei dem Geschäft. In Jever gibt es Kohlsuppe im Brauen Hirsch
, und nichts passiert, keine Nachricht, kein Radio, der Oberleutnant an der Spitze der Kolonne schweigt, Latrinenparolen schwirren umher, werden weitergesagt von Glied zu Glied. Wir verlieren den Krieg, haben ihn schon verloren. Schnauze, wollt ihr vors Kriegsgericht? Das funktioniert nämlich noch.
Ich ahnte es nicht. Am 3. April fiel mein Vater in einem fernen Kieler Bunker. Die Leichen wurden gefleddert. Seine Lederjacke, der goldene Ring, die Stiefel – gestohlen. Man legte ihn mit Hunderten anderer in ein Massengrab. Ich versuchte ein hölzernes Schild mit seinem Namen aufzustellen, es wurde verboten. Anonym hatten die Kriegsopfer zu sein.
6. April
Wir latschen durch Huntebrück, keine besonderen Vorkommnisse, das Land ist furchtbar still und kalt. In Berne, fern wummert Artillerie, bellt eine Flak, die Jungen zittern bleich. Wieder eine Nacht, ein Tag, welche Routine. Zu dritt hocken sie am Straßenrand und suchen nach Papier. Ich versuchte, den rechten Schuh auszuziehen, um die Fußlappen zu wechseln, ließ es dann aber. Altenhuntorf, alle Mann hierher, machen Sie schon! Bauen Sie hier eine breite Straßensperre. Wo ist der Feind, fragt einer, halt die Schnauze. Gefeiter Feldmann riecht sehr streng, hat er??? Weiter in Kolonnen, Marscherleichterung wird befohlen, der Kragen darf offen bleiben. Mein MG bohrt hässliche Löcher in die Schulter. Die Artillerie wummert schon nah. Tiefflieger greifen drüben eine Kolonne an. Im Ort Ofen. Nahe an dem, was unser Oberleutnant die Front nennt. Der Obermaat, zuhause Schlachter, hat auf der Koppel eine einsame Kuh gefunden und zu Tode gebracht. Hat sie in der Scheune aufgehängt am Seil, sieht makaber aus, der nackte Körper, obszön. Danach ist die Suppe in der Gulaschkanone ein einziges Fettauge, und die dicken Brocken Fleisch vom Euter verteilen wir an die hektisch hackenden Hühner. Werden die wohl Eier legen! Weiter marschieren. Am Straßenrand stehen blutjunge Pimpfe und zeigen stolz auf ihre dicken Panzerfäuste, siegessicher die Kinder.
Rastede Hahn
Es kracht ohrenbetäubend. Geschosse pfeifen uns über die Köpfe weg, hinlegen!
In den Straßengraben, marsch ihr faulen Säcke. Lauft in die Viehkoppel und hinter die hohen Knicks. Kopf weg, Blödmänner
. Keiner denkt mehr, alle tun etwas Mechanisches. Ich haue mich hinter den Knick, sehe drüben das Mündungsfeuer, stelle mein MG auf, ziehe den Gurt rein und halte drauf, bis der Gurt durch ist. Der Nachbar hat den Karabiner geladen, zielt auf etwas, was ich nicht sehen kann. Entfernt in der zweiten Knickreihe erkenne ich kanadische Panzer, ruhig fahren sie umher, sie haben nichts zu befürchten von uns. Neben uns soll die SS-Division Großdeutschland
liegen, sagt man, und die wäre bei den Kanadiern gefürchtet. Mir sagt der Leutnant, graben Sie sich ein Einmann-Loch und bleiben Sie da drin. Ich gehorche und buddele mir mit meinem Feldspaten ein Loch in den nassen Boden. Drin stehen ist eine Sache, die Schuhe saugen sich voll Wasser, die Socken fallen ab, als ich die Schuhe ausziehe. Der Uffz mit den vielen Orden an der Uniformjacke, alter Hase aus Russland, grinst über das junge Volk und steht auf, in der Hand die geballte Ladung, geht auf die Feindpanzer zu, leicht gebückt im Bogen, sie sehen ihn nicht, ich halte den Atem an, der Alte immer weiter, steigt auf den Panzer, stemmt die Luke auf, zieht ab, schmeißt die Ladung rein und springt runter. Rums! Da lebt niemand mehr. Mir ist es schleierhaft, mit welcher Lässigkeit und Unverfrorenheit der alte Kerl, sicher Familienvater, das gemacht hat. Wo ist bei dem die Angst? Die Kanadier werden offenbar wütend. Sie schicken Erdwerferpanzer vor, die werfen unsere Einmannlöcher zu mit klebrigem Modder, das überlebt keiner. Ich habe Glück, an mir fahren sie vorbei. Andere deutsche Stellungen werden mit Flammenwerfern ausgeräuchert, die Verluste sind hoch und wir gänzlich ohne schwere Waffen und Gerät. Man befielt absetzen! Die Toten bleiben liegen, wir schleppen Verwundete, denn Sanis haben wir auch nicht. Unauffällig löst der Verband sich auf. Einer steckt die Scheune an, in der Wehrmachtsgut lagert, alles vom Feinsten, Cognac, Würste, was man will. Jeder klaut, was er tragen kann, bevor alles zu Asche wird. Ich nehme eine geräucherte Speckseite und stecke sie mir unters Hemd. Die Flasche Grand Marnier trinken wir zu dritt in 20 Minuten, aber besoffen ist keiner. Doch da findet sich einer, der noch was zu brüllen hat, weiter geht es in ungeordneten Haufen. Am 5. Mai kommt Steindamm in Sicht, am 6. Ellenserdamm. Wieder graben wir Einmannlöcher. Sie laufen sofort voll. Schuhe und Strümpfe faulen weiter, Haut, die weiß ist wie bei Leichen. Ich kaue meine Speckseite, es ist erstaunlich, was der Mensch aushält.
8. Mai
Wir schlurfen über die Schwellen einer Eisenbahn, jemand hat Radio gehört, und brüllt: Kapitulation, es ist aus, aus, aus… und schmeißt den Karabiner den Bahndamm hinunter. Ich stecke mein MG 42 in ein Brombeergebüsch, eigentlich schade drum. Dann kommen in Khaki einige Kanadier, die Waffen im Anschlag, wir nehmen die Pfoten hoch. Man stellt uns zu Kolonnen zusammen. Ohne Kraft, betäubt vom Unglaubhaften, latschen wir an der Küste entlang, kommen irgendwie an in Cäciliengroden und lagern auf dem Feld bei den Prielen. He, nix hinlegen you know, arbeiten, working, you know?
Da stehen Eisenbahnwaggons mit Wehrmachtsgut, Säcke voller Roggen. Jeder zwei Zentner schwer. Ich nehme mir einen auf die Schulter, breche fast zusammen und schleppe ihn eine Stiege hoch auf den Boden eines Bauernhauses. Nach dem dritten kann ich nicht mehr, der Kanadier hilft mir auf. Bald haben wir den Bogen raus, klauen pfundweise Roggen und bringen ihn nachts im Boot über den Priel zu einer entfernten Bäckerei. Bekommen dafür achtpfündige schwere Schwarzbrote, die uns lange im Magen liegen. Ein Kanadier fragt nach Dolmetschern, ich rufe hier
. Man gibt mir eine Schachtel Zigaretten, und ich soll herausfinden, wer ein Nazi sei. Der Sergeant ist so höflich, meine gestotterten Erklärungen zu akzeptieren, auch dass ich keine Ahnung habe, wo ein Nazi sich versteckt. Dann muss ich helfen, Wasserbrunnen aufzumachen und den Holzdeckel mit Lysol zu bepinseln wegen der gefürchteten Bakterien. Die Bauern fluchen, denn ihr Trinkwasser ist ungenießbar.
Weiter nach Carolinensiel, in Scheunen liegen, Kohldampf schieben. Nach Charlottengroden, nach Ennos-Wonne, zurück Carolinensiel. Hier gibt man uns nur noch drei Kekse für den Tag und kein Wasser. Wir lagern bei starkem Regen auf freiem Feld, mühsam in Decken und Zeltreste gehüllt, frieren erbärmlich. Der Hunger überdeckt die Zivilisation. Jeder beklaut jeden, Disziplin ist zum Teufel. Latrinenparolen machen die Runde. Churchill habe gesagt, man werde die Wehrmacht neu einkleiden und gegen Stalin schicken. Nach ein paar Tagen (oder Wochen?) kommen Offiziere, sitzen an Klapptischen und lassen die Pimpfe in Schlange stehen, denn die Jungen würden nun entlassen. Man gibt mir vielfach gestempelte und mit Fingerabdruck versehene Entlassungspapiere für den 25. Juni - Ziel: Wilhelmshaven.