Olympiade 1936
Staunenden Auges kam ich aus der Provinz in die strahlende Reichshauptstadt, welch ein Sprung. Der Juli war heiß und voller Verheißungen. Ganz Berlin ein Heer bunter Fahnen, nicht nur die roten mit dem Hakenkreuz – nein man war international, da wehten die Flaggen aller 49 Nationen, die ihre Athleten geschickt hatten. Denn es war Olympia! Welch ein Leben auf einmal, ich, zehnjähriger Pimpf an Mutters Hand, staunte, so was hatte es in Wilhelmshaven nicht gegeben. Schwarze Männer in Stammestracht, indische Ladies in Saris, Spanier in Uniformen aller Couleur, lächelnd tausend freundliche Gesichter unter den Linden. Darf ich auch mal da hin ins Stadion, Vati bitte?? Nein Junge, das ist uns zu teuer. Wir müssen uns einrichten. Na und zuhause in Steglitz mit meiner geliebten Christa, unserem Hausmädchen, die wollte auch und durfte nicht. Aber die Brüder Raufeisen von gegenüber, die mich später immer lächelnd quälten mit Stacheldrahtfesseln, die durften. Und erzählten bombastisch auf berlinisch. Mensch, sach ick dir wa? 100.000 waren da im Olympiastadion. Ausverkauft ob de globst oder nich. Und der Führer war da, wa, hat eröffnet, und alle haben die Hand oben gehabt
. Auf der Straße lief der Fackelläufer mit dem brennenden olympischen Feuer und alle am Rand jubelten wie verrückt. Aber das Größte, da waren alle sich einig, die ganze Presse, das war Jesse Owens, der Wunderläufer, der Held von Berlin, der wunderschöne schwarze Mann mit den endlosen Beinen, vier Mal Gold hat der nach Hause getragen mit laufen und springen und die Damen waren hin und weg, machten ihn zum Tagesgespräch am Kuhdamm. Und der winzige Koreaner Kitei Son schleppte sich außer Atem in die Ziellinie vom Marathonlauf, als Sieger. Na gut, die Deutschen gewannen 33 Goldmedaillen, vor USA mit 24.
Fernsehapparate mit dem postkartengroßen Bildschirm gab es, aber noch kaum zu kaufen. Wer als Berliner in den Genuss bewegter Bilder kommen wollte, musste sich in eine der Fernsehstuben verfügen, welche die Post eingerichtet hatte. Das war kostenlos. Im August 1936 sah ich hier einige Direktübertragungen der Stabhochspringer aus dem Olympiastadion und war hingerissen. Von der Technik verstand ich noch nichts und machte mich später schlau: Mit einer großen, fest montierten Kamera wurde das olympische Sportgeschehen auf Film aufgenommen, dieser Film lief nach der Belichtung durch ein Entwicklungs- und Fixierbad innerhalb [1]siehe HICKETHIER 1998
Hickethier, Knut; Hoff, Peter: Geschichte des deutschen Fernsehens.Stuttgart: Metzler, 1998 des Kamerawagens, wurde danach von einem Filmabtaster abgelesen und in elektrische Bildpunkte aufgelöst und dann übertragen. Täglich wurde in der Zeit von 10.00 bis 12.00 Uhr und von 15.00 bis 19.00 direkt vom Reichssportfeld gesendet. 150.000 Menschen sollen die Olympiade auf dem Bildschirm verfolgt haben.
Und die nächtliche grandiose Abschlussfeier, mit Luftwaffenscheinwerfern angestrahlt, erinnerte die Erwachsenen an eine Wagner-Oper und die Zuschauer im Rund des Stadions starrten gebannt und stumm vor Ergriffenheit. Und Goebbels hatte den Berlinern verordnet, sie sollten sehr freundlich zu den Gästen sein und es gab keine Hetze gegen Schwarze oder Juden, das deutsche Reich wollte ja den Frieden, schrieb die Berliner Illustrierte im Sonderheft Olympia, und die ausländischen Reporter kriegten sich nicht ein vor lauter Lob für den Führer. Aber da musste ich zum Pimpfen-Heimabend und lernen, wie man die Leute davon überzeugt, etwas in den Kasten für Altmetall zu tun. Außerdem teilte man uns mit, dass Reichsjugendführer Baldur von Schirach einen Erlass für die Pimpfe gegeben habe, wegen besorgter Eltern durften wir nur 10 km Tagesmärsche machen, Nachtmärsche waren verboten, schade eigentlich müsste doch spannend sein, so im Dustern.
Das Leben nach der Olympiade begann für mich in einem finsteren Abwasserkanal in Berlin-Steglitz, wo es nach Fäkalien und Ratten roch. Die hohen Betonrohre waren oval geformt, unten floss ein Rinnsal talwärts. Wer hier lief, musste von rechts nach links und von links nach rechts hüpfen, um auf dem Trockenen zu bleiben. Der Kanal zog sich Kilometer unter dem Pflaster hin, endlos, wie es schien. In hallender Dunkelheit. Alle paar hundert Meter tröpfelte von oben ein wenig Licht, die Kanaldeckel, die leise rumpelten, wenn ein Auto drüber fuhr. Wir waren meist zu fünft, Jungens natürlich, Mädchen gab’s da nicht, auf dem Weg von der Schule durch den Bäke-Park nach Hause, wo jede Mutter mit dem Essen wartete. Horst Gude, mein Blutsbruder von nebenan, hatte mir den geheimen Eingang der Bäke zum Orkus gewiesen, getarnt hinter einem blühenden Hollerbusch. Hatte mir eine lange Daimonlampe in die Hand gedrückt, damit ich mich melden könne, falls Gefahr drohte verloren zu gehen in der Schwärze und an einer der vielen Abzweigungen. Alle Jungs trugen den sechsschüssigen Trommelrevolver am Gürtel, ballerten herum. Freundliche Metallhandwerker hatten die gesetzlich vorgeschriebenen verschweißten Läufe aufgebohrt, wir schossen mit Bleikugeln, angetrieben von Platzpatronen. Auf 5 Meter gab das Löcher im Bein. Wir waren eine verschworene Bande. Alle vier Wochen wurde Blutsbrüderschaft getrunken, das Fahrtenmesser ritzte im Finger das Blut hervor, mit dem man schrieb warme Worte ewiger Freundschaft ins Tagebuch. Und die Revolver wurden in Zigarrenkisten bewahrt, eingehüllt in fettendem Stullenpapier und vergraben unter der dicken Fichte, Geheimnis düster beschworen, den Ort nie und nie zu verraten.
Ich war zum Pimpf mit Braunhemd und Koppelschloß gemacht worden. Und der Abwasserkanal war das dunkle Mysterium, da ferne Stimmen wisperten aus allen Seiten und kein Ohr vermochte zu sagen, wer gerufen hatte – hallo ....??? Ich träumte nachts von der Endlosigkeit des Dunklen, von fernen Mädchen, die im Wasser trieben und gerettet werden mussten. Stattdessen aber fingen mich die Nachbarsbrüder Raufeisen ein, fesselten mich mit Draht an einen Baum und folterten mich, um Geheimnisse zu erpressen: wo sind eure Waffen? Ich verriet das Vergrabene nicht. Blut und Ehre hieß das Wort der Pimpfe, ein Held war ich aber nicht und litt. Und musste das Blut abwischen, damit es nicht auffiel am Mittwoch, wenn Heimabend war in der Hütte an der Schlossstrasse. Fähnleinführer Hanshelmut hielt mal wieder Vortrag über das Leben des Führers in Braunau am Inn (geboren am und so). Kannte ich auswendig. Eine Ödnis, dachte dabei, komische Abweichung, an Cäsar, den wir grade lasen in Latein. Besser war schon das glatte Teerpflaster auf der Feuerbachstraße. Mit weißer Kreide malte ich den Rundkurs der Avus, 50 Meter lang und schön geschwungen. Unsere Märklinautos der Marken Mercedes und Auto-Union, große Konkurrenten mit den Fahrern Bernd Rosemeyer und Rudolf Caracciola, wurden mit dem Daumen in Fahrt stracks gebracht und liefen schnurgerade, denn wir hatten sie mit Blei ausgegossen. Wenn so ein eingefahrener Renner dann doch im Gulli verschwand, konnte der Pimpf seine Tränen nur schwer zurückhalten, denn Taschengeld war knapp und Märklin teuer.
Dass der Britische König Eduard VIII wegen einer Frau auf den Thron verzichtete, wusste mein Vater von seinen Marinefreunden in England, es bewegte ihn aber nicht sonderlich. Eher schon mag ihn die Frage beschäftigt haben, ob er sich einen der neuen großen Telefunken Rundfunkapparate leisten konnte, denn das Radio brachte Nachrichten und Musik, die Mutter liebte vor allem Sängerinnen mit samtweichen Stimmen wie Mimi Thoma.