Als Fremdarbeiter in Deutschland
Kapitel 3
Mit dem Flüchtlingstreck nach Westen
Verlassen wir hier das Thema, um noch einmal auf meinen ersten Arbeitgeber, Arend Rodies aus Lissen, Kreis Angerburg in Ostpreußen, zurückzukommen. Der hatte mich von Anfang an gesucht und die Suche nicht aufgegeben. Er hatte erfahren, dass ich mich im Kreis Lötzen aufhalten sollte. Doch die Behörden wussten nichts davon, da ich bei Trinker nicht gemeldet war. Herr Trinker hatte aber viele Freunde, so konnte ich auch den Polizeikontrollen bei den Tanzabenden entgehen. Wenn der Gendarm an solchen Abenden alle aufforderte, die Ausweise vorzuzeigen, folgten alle dieser Aufforderung. Wenn die Reihe an mir war, sagte ich in Kenntnis der Dinge nur: Ich bin bei Trinker beschäftigt.
Dann klopfte mir der Gendarm auf die Schulter und ging seines Weges.
Eines Tages berichtete mir Herr Trinker, dass mein früherer Bauer mich gefunden hätte. Er hätte diesem erklärt, dass er mich zur Arbeit an den Schützengräben geschickt hätte und nun nicht wisse, was mit mir los sei. Er sei einfach davon ausgegangen, dass ich nicht zurück wolle. Eigentlich ist das meine Sache, Bauer, ob ich zurück will oder nicht. Dort ist nicht mein Vater und hier nicht meine Mutter. Allerdings wenn ich es hier nicht gut hätte, würde ich noch heute die Pferde anspannen, ihnen mit der Peitsche über den Schwanz hauen und zu dem Bauern nach Lissen fahren!
– Karol
, sagte da der Bauer aber Du fühlst Dich hier gut, Du würdest uns doch nicht verlassen?!
– Was Sie da sagen, stimmt, ich würde hier nie wegfahren.
Wenig später machte ich mich auf den Weg zur Arbeit an der Grenze. Der Bauer hat mich so versorgt, wie es nicht jeder Vater für seinen Sohn getan hätte. Der Koffer und die Verpflegung wurden auf den Wagen gestellt und ab ging's nach Lötzen. Herr Trinker brachte mich bis zum Bahnhof. Dort drehte er sich zu mir um und fragte: Sag, Karol, wenn Du geplant hast, nicht wiederzukommen, dann lass ich Dich jetzt nicht fahren. Dann fährt eben keiner von uns! Ich bezahle einfach die Strafe und schicke keinen weg.
– Weshalb sollte ich nicht wiederkommen. Ich komme bestimmt zurück.
– Wir verabschiedeten uns. Der Bauer begab sich auf den Heimweg und ich mich an die Grenze zum Getreide-Dreschen. Dort wurde die Front immer lauter, sie rückte näher. Aber das Getreide musste auf Lastwagen geladen und nach Deutschland gefahren werden.
An der Grenze waren zwölf Jungen und drei Mädchen im Einsatz. Wir waren in einer Baracke untergebracht, die drei Wohnungen enthielt. In einer Wohnung lebten die Jungen, in der zweiten die Mädchen. Die dritte Wohnung stand leer. Wir wurden bewacht von drei älteren Deutschen, die gerne einen tranken. Sie fragten uns, ob unter uns jemand sei, der Schnaps brennen könne. Es war bekannt, dass die Leute aus der Gegend von Bialystok alle Schnaps brennen konnten, und da ich aus der Gegend kam, nötigten mich die Freunde, Schnaps zu brennen. So hätten wir doch alle etwas davon. Ich stellte also den Deutschen die Frage nach der Verantwortung, falls uns die Gendarmen schnappen sollten. Sie versicherten, dass sie es schon so einrichten würden, dass man uns nicht und insbesondere mich nicht entdecken würde. Also gut
erklärte ich mich einverstanden, aber wenn ich schon Schnaps brenne, meine Herren, dann möchte ich auch davon trinken. Und wenn ich davon trinke, werden meine Freunde auch wollen. Wir sind zwölf Männer und drei Mädel, und ihr seid nur drei. Daher sollten zwei Teile für uns und ein Teil für Euch sein.
– Na gut, aber wir geben das Mehl und die Hefe, daher bekommen wir für jede Packung eine Flasche. Der Rest wird aufgeteilt.
– Einverstanden!
So kam es, dass wir fünf Wochen gedroschen haben und ich die ganze Zeit am Schnaps-Brennen war. Wurde das Mehl knapp, befahlen unsere Aufseher, Getreide einzusacken und die Pferde anzuspannen. Dann ging's ab zur Mühle! Das Roggenmehl benötigten wir auch für das Brot. Wir ließen stets so viel mahlen, dass es zu beidem reichte. Das Dorf war bereits verlassen. Nur zwei ältere Deutsche blieben zurück. Der Frau gaben wir das Mehl, und sie hat davon für uns und für sich Brot gebacken.
Unsere Aufseher hatten eine Kuh beschafft, um - wie sie sagten - Milch zum Kaffee zu haben. Bevor die Deutschen aufstanden, hatten wir die Kuh bereits ausgemolken, so dass für sie nichts übrig blieb. Eines Tages kamen die Deutschen zu der Überzeugung, dass es sinnlos sei, eine Kuh zu halten, die keine Milch gibt. Kurzerhand beschlossen sie, die Kuh zu schlachten.
Der Aufenthalt an der Grenze zog sich über Weihnachten und Neujahr hin. Dem Ereignis entsprechend hatten wir uns zur Silvesterfeier chic gemacht. Wir hatten uns mit selbstgebranntem Schnaps ausreichend eingedeckt und feierten alle zusammen - Jungen und Mädchen. Ich erinnere noch gut, dass wir die ganze Nacht getrunken haben, um das alte Jahr zu verabschieden. Gegen 23.00 Uhr schien uns, als hätte jemand die leerstehende Wohnung aufgeschlossen. Wir waren uns aber nicht sicher, dachten an einen Irrtum, feierten und amüsierten uns einfach weiter. Sehr viel später - etwa gegen fünf Uhr - öffnete sich plötzlich die Tür zur leerstehenden Wohnung und Gendarmen standen vor uns. Sie haben uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt! Unser Tisch stand voller Flaschen mit Alkohol. Wir rechtfertigten uns mit unserer gemeinsamen Silvesterfeier.
Unsere Einladung, an unserem Tisch Platz zu nehmen, wurde mit einer Handbewegung abgelehnt. Die Gendarmen hatten im benachbarten Zimmer an der Wand gelauscht, ob wir uns über Politik unterhielten. Das war aber nicht der Fall gewesen - wir wollten einfach nur feiern. Mit Beendigung der Arbeiten durften wir am 3. Januar 1945 zurückfahren. Wenige Tage nach meiner Rückkehr machte sich die Bauernfamilie Trinker auf den Weg nach Westen. Sie nahm uns mit. Wir hatten die Wagen beladen und starteten mit drei Gespannen. Kurz nach der Ausfahrt brach die Deichsel. Ich musste sie schnell reparieren, um den Anschluss nicht zu verlieren. Schon kurz hinter Steintal hatte ich die anderen dann wieder eingeholt. Auf unserer neunwöchigen Fahrt haben wir später dann ein Gespann verloren, so dass wir nur mit zwei Fuhrwerken weiterfahren konnten.
Unser Treck war der russischen Front immer um etwa 24 Stunden voraus. Daher war es anfangs auch zu gefährlich, auf den Wagen zu übernachten, weil von allen Seiten geschossen wurde - von einer Seite die Deutschen, von der anderen die Russen. So schliefen wir, in Decken gehüllt, auf Schnee, in einem Garten oder auf dem Eis, mal fanden wir Unterkunft in einer Kirche, dann wieder in einem Zirkuszelt.
Unterwegs wurde das Essen zubereitet, wenn sich eine Möglichkeit dazu ergab. War alles fertig, rief die Bauersfrau: Fritz, komm essen!
Er aber fragte sie dann: Haben die Jungen schon gegessen?
Die kriegen noch was
war die Antwort. – Gib erst den Jungen was zu essen,
meinte er, ich schaffe das auch noch!
Bauer Trinker, der Ortsbauernführer war und den Treck anführte, hat sich niemals an den Tisch gesetzt und vor uns gegessen. Der Mangel an Essen nahm zu. Da hatten Franek und ich und auch die Bauersfrau keine Langeweile. Wir waren schon fünf Wochen unterwegs, während andere sich erst auf die Flucht begaben und von ihren Höfen fuhren. Während bei uns das Essen knapp war, hatten sie noch genug davon. Während vorne einer mit dem Gespannführer sprach, guckte der andere in den zur Hütte umgebauten Wagen und nahm Brot und Speck mit. Einmal gelang es uns auch, einen vollen Eimer Marmelade zu entwenden. Herr Trinker kam darüber zu und fragte, was wir dahätten. Wir reichten ihm einen Löffel und forderten ihn auf zu probieren. Er nahm ein paar Löffel voll davon, dann meinte er: Das schmeckt gut!
In unserem Treck war auch eine Deutsche mit ihrem Bruder. Wir verabredeten uns, dass sie die Kartoffeln und ich den Speck besorgen sollte. Fett hat mein Magen wie Rote-Bete-Suppe vertragen! Sie war einverstanden, und so kochte sie uns das Mittagessen.
Auch die Pferde litten Hunger; sie starben uns weg wie die Fliegen. Wir waren immer auf der Suche nach etwas Heu. Allmählich gingen uns die Pferde kaputt. Der Bauer kaufte daher ein neues Pferd, ein hellbraunes. Er war bislang mit einer Stute, die unterwegs eine Fehlgeburt hatte, und einem Braunen gefahren.
Das Haff, das wir zweimal überschreiten mussten, war beim zweiten Mal so zersprungen, dass Nachtfahrten nicht möglich sein würden. Also schlugen wir unser Nachtlager auf dem Eis auf. In dieser Nacht habe ich mir ein etwas 4-jähiges Pferd angeeignet, das frei herumlief. Ich bin dann früh aufgestanden und habe es, ohne dass es jemand bemerkte, vor unseren Wagen gespannt. Der Bauer fragte mich später, wessen Pferd das sei. Eine konkrete Antwort erhielt er nicht von mir, ich sagte ihm nur: Gehen Sie wieder nach vorn.
Aber er sah mich an und bat: Lass, bitte, den Braunen nicht los!
Das sicherte ich ihm zu.
Wir sind dann am nächsten Tag weitergefahren, die Nacht waren wir gezwungen, wieder auf dem Eis zu verbringen. Den-Braunen hatte ich hinten an den Wagen angebunden im Bewusstsein, so langsam sein Zurückbleiben vorzubereiten. Während der Nacht, als die anderen schliefen, habe ich auf dem Wagenrad mit der Axt die Schnur durchtrennt, mit der der Braune angebunden war. Es sollte aussehen, als habe er sich losgerissen. Ich habe ihn mit der Peitsche davongetrieben. Seinen Hufschlag und sein Wiehern habe ich noch einige Zeit gehört. Am nächsten Morgen fragte mich der Bauer: Karol, wo ist der Braune?
– Er steht angebunden hinter dem Wagen.
– Er ist weg! Nur die Schnur blieb zurück
, antwortete der sichtlich genervte Bauer er hat sich losgerissen!
Das Lenken des Gespanns mit den Leinen nahm mich so stark in Anspruch, dass ich meine Begleiter gar nicht wahrgenommen habe. Am Tage kam Christa, die Tochter des Bauern, zu mir, mit der ich ein bisschen kokettierte. Christa, mein Schatz, es ist mir schon schwer, dauernd zu sitzen. Möchtest Du mich nicht für eine Weile ablösen?
Wenn es mir gelang, vom Wagen herunterzukommen, blieb ich mindestens einen halben Tag weg. Das Fuhrwerk umging in im großen Bogen. Nach meiner Rückkehr musste ich mir dann einiges anhören: Wenn Du so weitermachst, nehme ich die Leine nicht mehr in die Hände!
Aber irgendwie konnte ich sie auch am nächsten Tag überreden, und die ganze Geschichte begann von neuem.
Als wir ein Wasser kreuzen mussten, standen wir plötzlich vor einer gesprengten Brücke; ein Übersetzen wir nur mit der Fähre möglich. Dabei hatte das Militär Vorrang; Zivilfahrzeuge mussten ihm Platz machen. Inzwischen wurde jedoch angeordnet, auch ihnen das Übersetzen zu erlauben. Deutsche Frauen und Kinder durften nun auf die andere Seite, Männer mussten zurückbleiben und am Ufer warten. Ausländern (Polen) war es untersagt, sich dem Ufer auch nur zu nähern. Die Front kam immer näher. Die Russen waren wohl nur noch eine halbe Stunde von uns entfernt, als es plötzlich hieß: Alle weiterfahren! Der Weg zum Übersetzen ist frei!
Anlass dafür war eine angebliche Frontbegradigung. Kaum hatten wir die andere Seite erreicht, da rückten auch schon die russischen Truppen in den Ort ein.
Unterwegs mussten wir auch zur Entlausung. Leider kam es anders: Statt die Läuse zu vernichten, wurden diese nur aufgescheucht. Alle waren sehr verärgert, dass die ganze Aktion danebenging. Wir dachten, das ist das Ende! Erst als wir unser Ziel erreicht hatten, alle baden und die Kleidung wechseln konnten, trat Erleichterung ein. Nach drei Tagen wiederholten wir die Prozedur, und in den kommenden Wochen verheilten auch die Wunden. Wir fühlten uns wie neugeboren. Nach neunwöchiger Irrfahrt landeten wir in dem Dorf Stakendorf bei Schönberg in Schleswig-Holstein, das nur einen Kilometer vom Meer entfernt liegt. Wir bekamen Quartier bei einem Bauern - er hatte nur eine Hand - zugewiesen, der ein sehr böser Mensch war. Ich wunderte mich nur, dass so ein Mensch existieren konnte. Zu alledem kam der Essensmangel für uns und der Futtermangel für die Pferde. Des Öfteren bekamen wir statt Häcksel nur einen leeren Sack.
Lesen Sie auch die persönliche Niederschrift des Ortsbauernführers Friedrich Trinker über den Fluchtverlauf: [Weiterlesen …]Lesen Sie auch den Fluchtbericht der Bauernfamilien aus Steintal. Zeitzeugen berichteten über die Ermordung der zurück gebliebenen Alten, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen. [Klick …]