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Aberglaube und Sagen in Ostpreußen.

Als wir noch zu Hause in Ostpreußen auf unserem Hof lebten, erzählte man sich viele für unsere heutigen Ohren seltsame Geschichten. Ich habe leider nur wenige davon behalten, denn ich war bei Kriegsausbruch 1939 erst knapp fünf Jahre alt.

Wir fuhren oft zur Oma, Mamas Mutter, nach Michelsdorf. Kraftfahrzeuge gab es auf dem Lande zu der Zeit nur selten, aber wir hatten eine komfortable Pferdekutsche, mit der wir dorthin fuhren. Oma hatte in einer kleinen Kate ihren Alterssitz und es gab für uns dort immer etwas zu entdecken. Sie hatte den dazu gehörenden großen Blumen- und Gemüsegarten selbst angelegt und pflegte ihn mit Hingabe. Im Stall waren viele Geflügelsorten: Zwerghühner, Perlhühner, Enten und Gänse, Schafe und auch Schweine. Wenn ich das heute so überdenke, glaube ich schon, dass Oma wohl alle ihre acht Kinder von ihrem Alterssitz aus mit Obst, Gemüse, Blumen und Kleinvieh versorgte. Oma hatte seltene Rosenarten und viele andere hübsche Blumensorten. Am Haus zur Südseite hin, also zum Kalbensee, gab es ein Spalier mit Weintrauben und überall standen Obstbäume und Hecken mit Johannis- und Stachelbeeren. Alles bei Oma mutete exotisch und schön an.

Eines Tages, als Mama und ich bei Oma in der Stube saßen, sagte Oma: Stell dir vor Olga, die Decke, die da über meinem Bett hing und die dein jüngster Bruder mir immer über mein Bett gelegt hatte, und der jetzt nicht mehr da ist, diese Decke, ist alleine über das Bett gefallen. Ich habe um Hilfe gebetet und mir ist Hilfe von Gott zu Teil geworden. Ich war noch zu klein, um da mitreden zu können, aber ich merkte, dass Oma, die tiefreligiös war, an ein Wunder glaubte.

In den Köpfen der älteren Leute auf dem Lande spukten manche sonderbare Gedanken herum, doch die meisten Geschichten, die sich die Erwachsenen damals erzählten, kriege ich nicht mehr zusammen, aber ich weiß noch, wie ich mich manchmal gruselte, wenn etwas erzählt wurde, für das es nicht sofort eine Erklärung gab.

Eine Geschichte aber habe ich noch sehr gut in Erinnerung, weil ich mich mit meinem Bruder selbst aufmachte, um Näheres zu ergründen. Das war die Geschichte vom Schlossberg. Dieser Berg lag ganz in unserer Nähe, etwa zwei Kilometer entfernt, von uns aus gesehen rechts vom unserem Wald und von Malshöfen, einem kleinen Dorf in unserer Nähe. Bei uns gab es viele dunkle Wälder und wunderschöne Seen, die Gegend war hügelig und der Schlossberg war eine etwas auffälligere buckelige Anhöhe, die auch in meiner Erinnerung noch immer merkwürdig aussieht. Es hieß, dort sei vor langer Zeit ein Schloss versunken und das spornte uns an. Mein Bruder und ich standen oft in der Nähe dieses Berges und wir sannen nach, wo es denn wohl gestanden haben könnte. Ich drängelte schließlich meinen Bruder, weil ich mit ihm dieses Schloss finden wollte und er nahm endlich seinen kleinen Hitlerjugendspaten mit, als wir uns auf den Weg machten. Aber meine Neugier wurde nie gestillt, denn Willi hatte sich nicht getraut zu gegraben.

Noch eine Geschichte habe ich in Erinnerung, nämlich eine, die mit Mops, unserem Hof- und Hütehund zusammenhängt. Ich glaube, wir Kinder haben den Hund damals, als er noch ganz klein war so genannt, und so ist es dann geblieben. Wir haben ihn mit aufgezogen und dressiert. Als mein kleiner Bruder und ich so sieben und acht Jahre alt waren, mussten wir manchmal schon die Kühe hüten, wenn alle Leute auf dem Feld gebraucht wurden. Mops parierte aufs Wort, und wenn die Kühe mal wieder zu weit weggelaufen waren, riefen wir ihm im breiten ostpreußischen Dialekt nur zu: Mopsek, hol sie mal da rum. Dann rannte er um die Ausreißer herum und trieb sie wieder zusammen. Das ist nur die Vorgeschichte.

In Masuren waren die Nächte oft sternklar und hell. Ich erinnere mich ganz deutlich an den Winter 1944, als Mops einmal ganz schrecklich den Vollmond anheulte. Die Mutter sagte dann, der Hund sieht den Tod. Sein Heulen erinnerte sehr an Wolfsheulen. Die Winter waren sowieso immer eine gruselige Zeit, besonders aber der Winter 1944.

Die Dörfer bei uns waren ja meist umgeben von Wäldern, da kursierten seit altersher die schrecklichsten Geschichten, und jetzt waren es vor allem Geschichten von Partisanen, von Morden und Verbrechen, die in den Wäldern und auch sonst wo geschahen. Unsere Fremdarbeiter tuschelten darüber an allen Ecken.

Eine andere Sache waren die Erzählungen rund um unseren Pestfriedhof, der auf einer Anhöhe vor dem Wald an der Straße nach Malshöfen lag. Der Pestfriedhof lag ungefähr auf halber Strecke und war eigentlich nur eine markante größere Freifläche, die immer schon so genannt wurde. Jedenfalls wuchsen dort viele Bäume mit wilden Kirschen. Wenn die Kirschen heranreiften und einige schon rot waren, sagte die Mutter stets: Kinder, esst bloß nicht von Tollkirschen auf dem Pestfriedhof, die sind giftig. Ich habe das als Kind nie ausprobiert, jedoch stand ich oft dort in Gedanken versunken und dachte über das Gedicht von Agnes Miegel, der bekannten ostpreußischen Dichterin und Schriftstellerin nach, das wir in der Schule gelernt hatten, nämlich die Ballade von den Frauen aus Nidden. Die Menschen dort wurden alle von der Pest hingerafft, und als die Düne kam, deckte sie die letzten sieben Frauen von Nidden gnädig zu. Das ist zwar ein langes Gedicht und alle Strophen kann ich nicht mehr hersagen, aber wenn ich sie höre oder selber lese, fallen mir die Reime sofort wieder ein. Sie sind traurig, doch am Ende auch wieder versöhnlich.

Nidden war ein Fischerdorf auf der Kurischen Nehrung, und wir lagen weit vom Meer entfernt, aber die Erinnerung an die Pest war damals noch immer tief in den Köpfen der einfachen Menschen auf dem Lande verankert.


Die Frauen von Nidden

von Agnes Miegel

Die Frauen von Nidden(1) standen am Strand,
Über spähenden Augen die braune Hand,
Und die Boote nahten in wilder Hast,
Schwarze Wimpel flogen züngelnd am Mast.

Die Männer banden die Kähne fest
Und schrien: Drüben wütet die Pest!
In der Niedrung von Heydekrug bis Schaaken
Gehn die Leute im Trauerlaken!

Da sprachen die Frauen: Es hat nicht Not, -
Vor unsrer Türe lauert der Tod,
Jeden Tag, den uns Gott gegeben,
Müssen wir ringen um unser Leben,

Die wandernde Düne ist Leides genug,
Gott wird uns verschonen, der uns schlug!
-
Doch die Pest ist des Nachts gekommen,
mit den Elchen über das Haff geschwommen.

Drei Tage lang, drei Nächte lang,
Wimmernd im Kirchstuhl die Glocke klang.
Am vierten Morgen, schrill und jach,
Ihre Stimme in Leide brach.

Und in dem Dorf, aus Kate und Haus,
Sieben Frauen schritten heraus.
Sie schritten barfuß und tief gebückt
In schwarzen Kleidern bunt bestickt.

Sie klommen die steile Düne hinan,
Schuh und Strümpfe legten sie an,
Und sie sprachen: Düne, wir sieben
Sind allein noch übrig geblieben.

Kein Tischler lebt, der den Sarg uns schreint,
Nicht Sohn noch Enkel, der uns beweint,
Kein Pfarrer mehr, uns den Kelch zu geben,
Nicht Knecht noch Magd ist mehr unten am Leben. -

Nun, weiße Düne, gib wohl Acht:
Tür und Tor ist dir aufgemacht,
In unsre Stuben wirst du gehn
Herd und Hof und Schober verwehn.

Gott vergaß uns, er ließ uns verderben.
Sein verödetes Haus sollst du erben,
Kreuz und Bibel zum Spielzeug haben, -
Nur, Mütterchen, komm, uns zu begraben!

Schlage uns still ins Leichentuch,
Du unser Segen, - einst unser Fluch.
Sieh, wir liegen und warten ganz mit Ruh -

Und die Düne kam und deckte sie zu.

(1) Ort auf der Kurischen Nehrung