Ilse; Freundschaft lässt sich nicht vererben
Jetzt im Alter gehe ich leider häufiger zu einer Beerdigung als zu einer Hochzeit. Ich lese auch seit einiger Zeit die Todesanzeigen in den Zeitungen, und immer öfter ist jemand dabei, den ich kannte. Manchmal sind mir dann plötzlich Menschen, zu denen ich lange keinerlei Kontakt mehr hatte, die aber in einer Zeit meines Lebens eine Rolle spielten, wieder sehr präsent. So war es auch mit Ilse. Über verschiedene Umwege erfuhr ich fast ein Jahr später, dass Ilse nicht mehr lebt. Als ich es hörte, wusste ich erst nicht, wer gemeint war. Ilse – wer? Erst langsam dämmerte es mir, es war die Ilse aus meiner frühen Kindheit. Lange Vergessenes kam nach fast siebzig Jahren wieder hoch, als wäre es vor Kurzem gewesen.
Unsere Mütter waren beste Freundinnen, sie hatten im Krieg zusammen Schweres durchgemacht und schworen sich danach ewige Freundschaft. Direkt nach dem Krieg wurden beide schwanger und bekamen beide ein Mädchen: Ilse und mich. Die Freude darüber war bei den beiden groß und sie unterstützten sich gegenseitig, denn aus unterschiedlichen Gründen gab es keine Väter. Mein Vater war gestorben, Ilses Vater empfand die Verantwortung als zu groß, in diesen schlimmen Zeiten noch für eine Familie zu sorgen, und machte sich aus dem Staub.
Unsere Mütter wussten, dass eine gute Freundschaft auch über schwere Zeiten hinweg tragen kann, und deshalb wollten beide unbedingt, dass wir Kinder auch so enge Freundinnen werden sollten.
Leider hatten sie ihren Plan ohne uns gemacht. Seit ich mich erinnern kann, konnten wir uns gegenseitig nicht leiden, ja, es entwickelte sich in zunehmendem Alter eine richtige Feindseligkeit. So etwas war mir eigentlich fremd, denn ich war ein ziemlich stilles Kind und kam mit allen gut aus. Zum Glück wohnten Ilse und ihre Mutter etwas entfernt von uns, sodass wir uns nicht allzu häufig sehen mussten. Aber Geburtstage, die der Mütter und unsere, Weihnachten und Ostern waren ein absolutes Muss.
Ich erinnere mich, dass wir einmal bei Ilse waren und sie einer ihrer Puppen einen Arm abriss. Dann rannte sie plärrend zu ihrer Mutter und sagte, ich sei es gewesen, worauf ich ein paar Ohrfeigen von meiner Mutter kassierte. Aus Rache zerschnitt ich das Kleid ihrer neuen Puppe. Auch machte es mir Spaß, sie immer mit dem dummen Spruch: Ilse Bilse, keiner willse …
Der Name Hülse, englisch holly, ist meist im Norden in Gebrauch und hat sich auch auf Familiennamen (Hülsmann, Hülskamp, Hülswitt) sowie auf Ortsbenennungen übertragen, wie z. B. Hülsebeck, ein Ort, in dessen Nähe die Stechpalme vielfach vorkommt. Bekannt ist ferner der Ausdruck: böse Hülse
(Stechpalme) für ein widerborstiges Frauenzimmer: »Ilse Bilse, niemand will se, die böse Hülse!«Siehe: Die Gartenlaube
, Blätter und Blüten. Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1895, Seite 740 zu ärgern.
Die Mütter waren ratlos, denn der Streit zwischen uns Mädchen wurde immer heftiger und keine blieb der anderen etwas schuldig. Doch sie hielten eisern an ihrem Plan fest und hofften, dass die Zeit alles ändert. Ich höre noch die immer wiederkehrenden Worte: Gebt euch die Hand und vertragt euch
. Wir taten es zähneknirschend, denn sonst hätten wir noch größeren Ärger bekommen. Doch dann planten die beiden etwas, das unseren Streit zum Eskalieren brachte.
Ich wurde als Kind häufig in den Sommerferien in eines der Kindererholungsheime der Stadt geschickt. Die Stadtkinder sollten sich auf dem Land erholen und vor allem an Gewicht zunehmen. Etwas Speck auf die Rippen bekommen
, wie man damals sagte, war ganz im Gegensatz zu heute ein Zeichen von guter Gesundheit. Man konnte es den Menschen nach den Hungerjahren nicht verdenken.
Ich war im Grundschulalter, etwa acht oder neun Jahre alt, als ich zur Erholung in den Schwarzwald kam. Es war ein Kinderheim nur für Mädchen. Als wir zum Bahnhof gebracht wurden, sah ich sie nicht gleich, denn wir Kinder waren in verschiedenen Abteilen untergebracht. Doch beim Ausstieg in Freudenstadt sah ich sie: Schreck lass nach, Ilse war auch dabei. Ich weiß nicht, wie die beiden Mütter das angestellt hatten, dass wir zusammen in ein Kinderheim kamen, denn die Plätze waren sehr begehrt.
Ilse starrte mich hasserfüllt an und ich beschloss, sie zu ignorieren. Das war sehr schwierig, denn wir kamen auch noch in den gleichen Schlafsaal, in dem jeweils zehn Kinder untergebracht waren. Ilse versuchte ständig, mich zu provozieren, und mir fiel es immer schwerer, die Ruhe zu bewahren. Nach ein paar Tagen eskalierte unser Streit.
Bevor im Schlafsaal das Licht gelöscht wurde, durften wir noch etwas lesen oder uns leise unterhalten. Ich wollte lesen, doch Ilse hüpfte im Saal herum und grölte Lieder mit selbst erfundenen Texten, mit denen sie mich provozieren wollte. Dann tänzelte sie direkt vor meiner Nase herum und pupste laut. Jetzt war das Fass voll, ich sprang aus dem Bett und warf mich auf Ilse, die sich aber gut zu wehren wusste. Wir verkeilten uns ineinander und es war ein Ringkampf ohne Fair Play. Die Wut der vergangenen Jahre entlud sich. Die herbeigerufene Erzieherin hatte Mühe, uns zu trennen. Als wir endlich auseinandergebracht wurden, sahen wir beide ziemlich lädiert aus, aber gab es keine Gewinnerin. Für mich war es die erste und einzige körperliche Auseinandersetzung in meinem Leben. Dann kamen noch ein paar Kolleginnen hinzu, die nach der Ursache dieser abartigen Auseinandersetzung fragten. Die meisten der Mädchen im Schlafsaal waren auf meiner Seite, und als ich den Fräuleins das mit dem Pups erzählte, war Ilse unten durch. Sie kam in einen anderen Schlafsaal und war für den Rest der Zeit meistens allein.
Zu Hause erzählte ich nichts von dem Vorfall, aber ab sofort mussten Ilse und ich nicht mehr zusammenkommen. Es gab ein Schreiben von der Heimleitung an Ilses Mutter, und die zwei Frauen haben sich darüber auch zerstritten, sodass der Kontakt seltener wurde. Ich habe mit Ilse nie wieder gesprochen. Wenn wir uns auf der Straße begegneten, kannten wir uns nicht.
Durch meine Mutter und gemeinsame Bekannte war ich aber über Ilses Werdegang informiert. Ihre Mutter heiratete etwas später und Ilse bekam noch eine kleine Schwester.
Nachdem ich kurz nach meinem 18. Geburtstag geheiratet hatte, erfuhr ich, dass Ilse bereits mit 17 Jahren verheiratet war. Nach langer Krankheit war ihre Mutter kurz zuvor gestorben, der Stiefvater schon zwei Jahre früher. Ilse hat als Teenager fast ein Jahr lang die kranke Mutter gepflegt und ihre kleine Schwester beaufsichtigt. Mit einer Sondererlaubnis vom Gericht konnte sie ihren bereits volljährigen Freund heiraten. Das junge Paar durfte jetzt das Sorgerecht zusammen mit dem Jugendamt für die kleine Schwester übernehmen, so musste das kleine Mädchen nicht ins Heim. Es war sicher eine große Herausforderung für das junge Paar. Wie es sich später herausstellte, haben sie die Sache gut gemacht, denn sie ermöglichten der kleinen Schwester eine gute Ausbildung, die Ilse wegen ihrer Lebensumstände versagt blieb.
Wenn ich jetzt, nach so vielen Jahren darüber nachdenke, bin ich der Meinung, dass Ilse und ich vielleicht doch hätten Freundinnen werden können, wenn unsere Mütter das nicht so hartnäckig hätten erzwingen wollen. – Hätte, hätte, … es war, wie es war.