Glückliche Zeiten
Bis zu meiner Einschulung 1952 lebte ich überwiegend bei meiner Großtante Auguste, genannt Gustel, der ältesten Schwester meiner verstorbenen Großmutter, und ihrem Mann August in Offenbach am Main. Meine Mutter war schon vor meiner Geburt Witwe geworden und ich kam als Halbwaise zur Welt.
In der Nachkriegszeit traute man einer Frau nicht zu, ein Kind allein großziehen zu können und ich musste laut Gesetz einen Vormund haben. Onkel August nahm dieses Amt bereitwillig an.
Onkel und Tante waren sehr traurig, dass ihnen eigene Kinder versagt blieben. Sie nahmen mich deshalb gern bei sich auf und behandelten mich wie ihr eigenes Kind. Meine Mutter musste Geld verdienen und hatte deshalb wenig Zeit für mich. Ich sah sie nur an den Wochenenden. Mir fehlte aber nichts, denn ich sagte schon bald zu meiner Tante Mama
, was aber bei meiner Mutter Eifersucht auslöste und es kam zu Spannungen zwischen meiner Tante und meiner Mutter. Ich bekam aber vorerst davon nichts mit.
Meine Ersatzeltern wurden im Krieg völlig ausgebombt und lebten auch noch vier Jahre nach Kriegsende in einer Notwohnung. Onkel August, der schon kurz vor dem Rentenalter stand, fand nach Kriegsende nicht mehr zurück in das Berufsleben und bekam Arbeitslosenunterstützung; er ging stempeln, wie man damals sagte. Tante Gustel ging direkt vom Elternhaus in die Ehe, hatte nie gearbeitet und somit auch keinen Anspruch auf Unterstützung. August verkündete aber trotzdem großspurig: Meine Frau geht nicht arbeiten!
. Es waren also ganz armselige Verhältnisse.
Das habe ich aber als Kind nicht wahrgenommen, denn ich habe dort die glücklichste Zeit meiner Kindheit verbracht. Onkel und Tante gingen sehr liebevoll miteinander um und ich wurde sofort mit einbezogen. Die herzliche Stimmung übertrug sich auch auf mich.
Ich fühlte mich geliebt und ernst genommen. Alle meine großen und kleinen Probleme konnte ich ihnen erzählen und ich wurde nie ausgelacht, auch nicht wenn ich etwas Dummes
fragte. Wenn ich etwas falsch machte, wurde nicht geschimpft, sondern man zeigte mir, wie man es richtig macht. In alle wichtigen Entscheidungen wurde ich eingebunden. Ich wurde zum Beispiel gefragt, was ich anziehen möchte, ob ich mit Onkel und Tante einen Stadtbummel machen und mir beim Metzger ein Achtel Pfund (62,5 g) warme Fleischwurst kaufen oder doch lieber am Teich die Enten füttern möchte, hier mit der obligatorischen Tüte Eis für zehn Pfennige.
Samstags konnte ich immer länger aufbleiben, denn da durfte ich abends mit zu den kostenlosen Konzerten, die vor der Ruine des Büsing Palais aufgeführt wurden. Die Konzerte waren sehr gut besucht und es waren auch viele Kinder dabei. Ich musste also nicht auf einem Stuhl sitzen und die Musik hören, sondern konnte mit den anderen Kindern im angrenzenden Lilipark im Dunkeln spielen. Das war Abenteuer pur. Auf dem Rückweg gab es wieder eine kleine Kugel Eis vom Italiener, der schon lange bevor die ersten Gastarbeiter kamen, eine Konditorei mit selbst gemachtem italienischen Eis hatte. Onkel und Tante mochten angeblich kein Eis.
Ich wurde auch beim Essen nach meinen Wünschen gefragt und es gab immer zwei Gerichte zur Auswahl. Später habe ich herausgefunden, dass meistens eins dabei war, das ich überhaupt nicht mochte. So wurde immer das gekocht, was auf dem Plan stand. Ich fand es jedenfalls toll, dass es mein Wunschgericht gab, darum hat es mir wohl immer geschmeckt und einiges aus dieser Zeit esse ich heute noch gern.
Da das Geld immer äußerst knapp war, wurde sehr sparsam gekocht. Ich erinnere mich an folgende Gerichte:
- Kartoffelsuppe, Erbsensuppe, Linsensuppe - alles mit keiner oder ganz wenig Einlage,
- Kartoffelbrei mit gebratener Blutwurst und Apfelmus, genannt Himmel und Erde,
- Kartoffelgemüse mit gebratenen Zwiebeln - eine Art Béchamelkartoffeln, säuerlich abgeschmeckt,
- Lungenhaschee mit Kartoffeln (Lunge gibt es heute nur als Hundefutter),
- Pellkartoffeln mit Hering, damals ein ganz billiger Fisch,
- Pellkartoffeln mit Quark oder Pellkartoffeln mit
Wurstebrei
, das war heiße Leberwurst, die zu einem Brei verarbeitet und mit Graupen gestreckt wurde. - Zum Monatsende gab es auch mal Pellkartoffeln mit
Butter
, es war aber Margarine und dazu gab esDup-Dup
, das war einfach nur Salz.
Sonntags gab es jedoch immer ein kleines Stück Fleisch.
Manchmal gab es auch Süßspeisen wie Eierpfannkuchen, mit wenig Eiern und viel Mehl, Grießbrei und Reisbrei mit selbst eingekochtem Kompott.
Das Kompott besorgten wir gemeinsam: Brombeeren von Hecken, die massenweise auf noch leerstehenden Industrieanlagen wuchsen, Heidelbeeren im nahegelegenen Wald, Obst von Bäumen aus verlassenen und verwilderten Gärten. Ich trug dann ganz stolz mein umfunktioniertes Osterkörbchen mit Früchten nach Hause. Tante Gustel verarbeitete dann das gesammelte Obst und die Beeren zu Kompott.
Ich durfte auch schon ganz allein einkaufen. Ich ging zur Milchfrau und holte einen halben Liter Milch. Diese wurde aus einer großen Kanne mit der Schöpfkelle in meine kleine Milchkanne gefüllt. Auf dem Heimweg machte ich mit den Gesetzen der Physik Bekanntschaft, denn ich konnte die volle Kanne mit Schwung durch die Luft schleudern und kein Tropfen lief aus. Das hat Spaß gemacht. Ich konnte auch beim Bäcker Brot einkaufen. Dort musste ich immer Brot zum Anschneiden
verlangen, das hieß, es war das preisreduzierte Brot vom Vortag. Von frischem Brot bekam man angeblich Bauchschmerzen. Das habe ich auch noch lange geglaubt.
Die Wohnung war sehr beengt, aber ich hatte den schönsten Spielplatz der Welt. Zwei Häuser weiter war eine von vielen Trümmerhalden der Stadt. Dort war das Kellergeschoss noch begehbar. Die Natur hatte sich ihren Weg gebahnt, denn es wuchsen Bäume, Büsche und vor allem jede Menge Blumen auf dem Grundstück. Im Frühjahr brachte ich immer einen Fliederstrauß mit nach Hause, im Sommer Goldrauten und Lupinen. Auch kleine Pflanzen wie Glockenblumen, Schlüsselblumen, und andere Wiesenblumen wuchsen in großen Mengen auf dem Grundstück. Am besten waren die Knallerbsenbüsche und die Heckenrosen. Die Früchte der Heckenrosen, die Hagebutten, enthielten das begehrte Juckpulver, das man anderen in die Kragen schmuggelte und das auf der Haut einen Juckreiz auslöste. Schadenfreude und Lachen, bis man selbst betroffen war.
Auch wenn die Erwachsenen meinten, das Grundstück sei mit Unkraut überwuchert, war es für mich und die Nachbarkinder ein Paradies. Wir legten einen eigenen Garten an, indem wir die Blumen abpflückten und nach unserem Wunsch geordnet wieder eingruben. Wir Stadtkinder wussten allerdings nicht, dass man auch die Wurzeln ausgraben muss, und so war am nächsten Tag schon alles wieder verwelkt. Aber das war egal, denn es gab ja genug andere Blumen und wir hatten auch gleich wieder neue Ideen.
Im Kellergeschoss, das noch unversehrt war, richteten wir uns mit Fundstücken, die wir von verschiedenen Trümmergrundstücken ergatterten, eine Wohnung
ein. Wir spielten Vater, Mutter und Kind. Dabei fehlte aber meistens der Vater, aber das störte nicht weiter, denn in der Realität war es in der Nachkriegszeit ja auch oft nicht anders.
Es gab auch einen besonderen Raum, das war die Kirche
. Hier bauten wir einen Altar auf und dekorierten darauf alle Fundstücke, die irgendwie glänzten oder besonders schön waren. Tante Gustel verbot mir jedoch ganz eindringlich, in abgesperrte Trümmergrundstücke zu gehen, denn das sei sehr gefährlich. Ich versprach es hoch und heilig.
In unserer Nähe wohnte ein alter, körperlich und geistig behinderter Mann. Er schob mit einem selbstgebastelten Leiterwagen durch die Straßen und sammelte Hundekot, Hundekneddel
wie es bei uns hieß, mit einer Schaufel ein und brachte ihn zur Gerberei. Dies verhalf ihm zu einem kleinen Taschengeld. Hundekot wurde in früheren Zeiten als organisches Gerbmittel bei der Herstellung von Leder verwendet. Nach dem Krieg erinnerte man sich an diese alte Herstellungsweise und griff wieder darauf zurück, da chemische Mittel knapp und teuer oder noch nicht zu bekommen waren.
Wir waren alle keine kleinen Engel, und grausam wie Kinder manchmal sind, liefen wir laut johlend dem alten Mann hinterher und riefen Kneddelheiner!
, und verschiedene gemeine Reime darauf, die sich nur selten wirklich reimten. Ob wir das selbst erfunden haben oder es den Erwachsenen nachplapperten, kann ich nicht sagen, aber niemand, der uns beobachtete, verhinderte unser Treiben.
Wir konnten als kleine Kinder ganz frei und ungezwungen mitten in der Stadt auf der Straße spielen, denn es gab kaum Autos. Mein Umkreis, in dem ich mich allein von Zuhause entfernte, war schon ziemlich groß. Ich kannte jedes Haus und jeden Hinterhof in der Umgebung, kannte die Wohnungen und Eltern aller Nachbarskinder und bekam dort auch manche Streitigkeiten mit. Sowas kannte ich von meinem Zuhause nicht.
Im Herbst sammelten wir die herrlichen Kastanien. Onkel August half mir dann, mit dem Handbohrer Löcher in die Baumfrüchte zu bohren und wir bastelten mit Streichhölzern und etwas Klebstoff verschiedene Tiere. Bald hatten wir einen ganzen Tierpark zusammen und man konnte mit viel Phantasie erkennen, um welche Tiere es sich handelte. Man durfte sich nur nicht daran stören, dass eine Maus genau so groß wie ein Elefant war.
Ich musste allerdings beim Sammeln sehr schnell sein, dann alle Kinder wollten die schönen, glänzenden rotbraunen Kastanien haben. Dann sah ich in einem nahe gelegenen Trümmergrundstück einen großen Kastanienbaum. Es war leider versperrt und das Schild Betreten verboten - Einsturzgefahr
hing am Eingang. Das konnte ich allerdings noch nicht lesen. Ich wusste nur, dass dort niemand die vielen schönen Kastanien holte. Ich hatte einen kleinen weißen Korbpuppenwagen, den ich kurzerhand umfunktionierte. Ich warf den Inhalt mitsamt der Puppe raus und schon hatte ich ein Transportfahrzeug. Damit schaffte ich es, durch ein Loch in der Absperrung auf das Gelände zu gelangen, und wirklich, da lagen jede Menge Kastanien auf der Erde. Ich konnte den ganzen Puppenwagen damit füllen.
Freudestrahlend fuhr ich meine Beute nach Hause und zeigte sie Tante Gustel. Sie fragte mich, wo ich die Kastanien aufgelesen habe, und ich erzählte es ihr arglos. Daraufhin erlebte ich das erste und einzige Mal meine herzensgute Tante richtig wütend. Sie versohlte mir den Hosenboden
und schimpfte dabei ununterbrochen. Sie meinte, dadurch sollte ich mir ein für alle Mal einprägen, dass ich nie, niemals mehr auf abgesperrte Trümmergrundstücke gehen darf. Und dass ich meine gegebenen Versprechen auch einhalten muss.
Tatsächlich wurde ich einige Zeit später Augenzeuge eines schlimmen Unglücks. Eine Hausruine in unserer Umgebung sollte abgerissen werden. Plötzlich stürzte unvorhergesehen ein Teil der Ruine ein und begrub mehrere Abbrucharbeiter unter sich. Einer der Arbeiter konnte sich auf eine andere, jetzt freistehende Wand retten. Diese schwankte auch schon bedenklich. Die herbeigerufene Feuerwehr wollte ihn mit einer Leiter retten, aber sie war zu kurz. Der Mann saß endlos lange auf dieser Mauer und sprach mit den Feuerwehrleuten, doch bevor ein anderer Wagen mit einer längeren Leiter zum Unglücksort kommen konnte, stürzte auch diese Mauer ein und begrub den Mann unter sich. Es sollen sechs Arbeiter ums Leben gekommen sein. Ich hatte oft Alpträume nach diesem Ereignis. Auch lange Zeit später machte ich einen Bogen um das an dieser Stelle neugebaute Haus.
Alles in allem hatte ich eine sehr schöne Zeit bei meiner Tante und meinem Onkel, denn sie versuchten trotz aller Armut, aus jedem Tag etwas Besonderes zu machen. Nach meiner Einschulung mussteich zurück zu meiner Mutter, denn sie hatte wieder geheiratet und konnte mir - wie sie meinte - eine richtige Familie bieten. Es wurde für mich dann weniger ärmlich, aber leider auch weniger friedlich.
Onkel August verstarb schon sehr früh, Tante Gustel erreichte ein hohes Alter und blieb bis zuletzt mein guter Engel.