Hände falten, Schnabel halten
oder
Erinnerungen an meine Schulzeit in Bremen 1943-1956
Ich wurde 1937 in Bremen geboren und wuchs im damaligen bremischen Landgebiet auf — genauer im östlichen Stadtteil Osterholz-Tenever.
Dieser Stadtteil war ursprünglich eine Bauernkolonie aus dem 12. Jahrhundert, hatte aber im 20. Jahrhundert auch große Anteile einer Arbeiterbevölkerung erhalten, insbesondere durch den Bau von Siedlungshäusern für die Arbeiter der Flugzeugwerke Focke-Wulf und des Automobilbauers Borgward. Da deren Produktion und damit auch der Gesundheitszustand der Arbeiter in der NS-Zeit eine große strategische Bedeutung hatte und mein Vater der einzige Zahnarzt im Stadtteil war, wurde er 1939 nicht zum Wehrdienst eingezogen. Er wurde vielmehr zur gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung an die Heimatfront
abkommandiert. Erst 1945 wurde aber auch er zum Volkssturm eingezogen. Sein Meldefahrrad von damals steht noch bei uns auf dem Boden.
Mit 6 Jahren wurde ich in die damals einzige Volksschule in Osterholz eingeschult. Meine Mutter hatte dieses Ereignis insofern vorbereitet, als sie mir vorher schon die deutsche Schrift beigebracht hatte (heute oft fälschlich einengend als Sütterlin-Schrift
bezeichnet). Sie wusste damals nicht, dass diese (Jahrhunderte alte) Schrift bereits 1941 durch ErlassSiehe: Bormann-Erlass vom 3. Januar 1941Klick des Reichsleiters Bormann im Auftrag Hitlers abgeschafft werden sollte — mit der falschen Begründung, diese Schrift sei in Wahrheit eine Judenschrift
und daher keinem deutschen Volksgenossen zuzumuten. Diese Kenntnis kam mir später als Rentner bei der ehrenamtlichen Übertragungsarbeit von alten Schriften sehr zugute. In der Schule aber musste ich sofort auf die heutige lateinische Schrift umlernen.
Von meinem ersten KlassenlehrerWährend der NS-Zeit hieß es: Händchen falten, Köpfchen senken, immer an den Führer denken
blieb mir noch die Aufforderung an uns Schüler im Gedächtnis:
Hände falten,
Schnabel halten,
Ohren spitzen,
gerade sitzen!
Sitzen hieß natürlich in den damaligen Schulbänken. Die Jüngeren kennen diese wohl nur noch aus den Schulmuseen. Zwar nicht so deutlich formuliert, aber vom Grundsatz her blieb diese Forderung beim Frontalunterricht bis in die Mittelstufe des Gymnasiums gültig.
Die Schule war mehr als eine halbe Stunde Fußweg von Zuhause entfernt. Ich war daher sehr froh, als ich mit acht Jahren mein erstes Fahrrad erhielt — Sonderanfertigung eines befreundeten Schmiedes aus alten Teilen, frisch gestrichen — wie neu!!
Der Schulweg ging durch die damalige Flakstellung
. Nach dem Krieg gab es hier Flüchtlingsunterkünfte, heute ist es ein Wohngebiet, aber damals war es bestückt mit Baracken, echten und hölzernen Flugabwehrkanonen und Suchscheinwerfern zur Ausleuchtung des nächtlichen Himmels bei feindlichen Fliegerangriffen. Die Engländer flogen damals ihre Angriffe auf Bremen bevorzugt über Osterholz und warfen hier auf dem Rückflug ihre restlichen Bomben ab. 1945 erwies sich die Stellung aber als machtlos. Immer häufiger wurden nachts Leuchtbomben, Tannenbäume
genannt, abgeworfen, mit denen die Alliierten Bomberverbände ihr Zielgebiet markierten.
Auf dem Schulgebäude war eine der durchdringenden unvergesslichen Sirenen angebracht, die in solchen Fällen die Zivilbevölkerung in die Luftschutzbunker rief.
Zu unserem Bunker mussten wir durch mehrere Nachbargärten. Vaters Kommando: Runter in die nächsten Büsche
, bei Angriffen von Tieffliegern wurde zwar von mir und meinem jüngeren Bruder sportlich aufgefasst, war aber lebensnotwendig. Wie sehr zeigte sich, als ein neugieriger Nachbar am Bunkertor bei einem solchen Angriff ums Leben kam.
Als 1944 infolge eines Luftangriffs der Bremer Westen brannte, wurde die Familie in ein Dorf in der Lüneburger Heide evakuiert, während Vater natürlich seine Praxis weiter betrieb. So habe ich auch für mehrere Monate eine einklassige Dorfschule erlebt.
Aus dem Bunker in Osterholz sind mir noch von 1945 die Durchhalteparolen erinnerlich, dass Deutschland durch den Einsatz der Wunderwaffen trotzdem noch den Krieg gewinnen würde und dass es nun auf das Zusammenhalten aller Volksgenossen ankäme
. Eine Frau versuchte mir die künftige (Zwangs-) Mitgliedschaft im Jungvolk
besonders attraktiv darzustellen. Da diese aber erst ab 10 Jahren möglich war, hätte der Krieg noch mindestens bis 1947 dauern müssen. So blieb mir das erspart.
Mein Vater hatte als Zahnarzt selbstverständlich auch die Zwangsarbeiter behandelt. Eine Folge war, dass wir anschließend von deren Plünderungen verschont blieben — im Gegenteil, geraubte Sachen wurden auch bei uns abgeladen. Sie konnten dann anschließend den rechtmäßigen Eigentümern zurückgegeben werden. Hilfreich war dabei auch, dass unser Alex
sich nach dem Zusammenbruch als einflussreicher russischer Offizier entpuppte. Wir haben leider nie wieder etwas von ihm gehört. Es ist aber bekannt, dass Stalin die aus dem Westen zurückkehrenden russischen Gefangenen nach ihrer Rückkehr ermorden ließ.
Ich hatte damals kein Verständnis dafür, dass der geschätzte Klassenlehrer nach dem Zusammenbruch 1945 als politisch unzuverlässig aus dem Amt entfernt wurde. In der eigenen Familie bestand noch auf Jahre hinaus die Diskussion: Wie konnte es nur so weit kommen? Was habt Ihr gewusst? Was konntet und musstet Ihr wissen? Welchen Einfluss konntet Ihr ausüben? Welche Staatsform trägt denn durch, nachdem die eine, der viele vertrauensvoll gefolgt sind, in Chaos und Verbrechen zugrunde gegangen ist? Ist es überhaupt noch vertretbar (oder vielleicht sogar notwendig) das Eigeninteresse zugunsten von Gemeinschaftsinteressen zurückzustellen, aber wer definiert diese?
Meine Antworten auf diese (im Laufe der Jahre immer allgemeiner werdenden) Grundfragen meiner Jugendzeit wurden maßgeblich durch spätere Erfahrungen bestimmt.
Um dem Lehrermangel abzuhelfen, wurden 1945 politisch unbelastete Hausfrauen im Schnellkurs zu Lehrerinnen gemacht. Diese brachten eine neue Erkenntnis in den Schulalltag: Pädagogik ist nicht nur eine Sache der Ausbildung, sondern in erheblichem Umfang auch der Herzensbildung.
Die Engländer hatten 1945 Bremen erobert, übergaben die Stadt aber kurz danach den Amerikanern. Die brauchten dringend für ihren europäischen Nachschub die Hafenanlagen von Bremerhaven. Für uns Schüler hatte das den großen Vorzug, dass die Amerikaner gleich danach mit der Schulspeisung begannen und damit dem größten Hunger entgegen wirkten. Milchsuppe mit Keksen war damals der große Renner. Kochgeschirr konnte ja jeder von Zuhause mitbringen. Dass das gebrauchte Geschirr von Erstklässlern im Winter als Gefäß zur Aufnahme gefrorener Pferdeäpfel als Wurfgeschosse für Mitschüler genutzt wurde, habe ich auch erlebt.
Zu Ostern 1948 bestand ich dann nach 5-jähriger Volksschule die Prüfung zur Oberschule. Damals gab es in Bremen (1905 durch Teilung der mittelalterlichen Wittheit entstanden) vier Oberschulen für Jungen (Damals gingen Jungen und Mädchen noch auf unterschiedliche Schulen — ich erinnere mich nur an eine gemeinsame Schulstunde einer Jungen- und Mädchenklasse kurz vor dem Abitur). Insbesondere das humanistische Alte Gymnasium war durch bekannte Schüler wie den früheren Bundespräsidenten Karl Carstens, den Hamburger Stadtbaumeister Fritz Schumacher und den Bremer Bürgermeister Theodor Spitta weit über die Grenzen Bremens hinaus bekannt geworden. Mich meldeten meine Eltern zur Nachbarschule, der Oberschule an der Dechanatstraße, an. Auch diese Schule hatte im damaligen Bremen während meiner Schulzeit einen guten kulturpolitischen Namen, wurde doch ein früherer Lehrer, Paulmann, Kultursenator, unser Direktor Buhl Landesschulrat und ein anderer Lehrer unserer Zeit, Dr. Kirbach, Oberschulrat. Der Schulsprecher 1956 bei unserer Abiturfeier, Henning Scherf, wurde später ein auch heute noch bekannter Bremer Bürgermeister.
Da sich die Oberschulen (heute würde man von Gymnasien sprechen) in der Innenstadt befanden, bedeutete das einen über 10 Kilometer langen Schulweg (zu Fuß, mit Bus und Straßenbahn).
Ich kam zur Dechanatstraße — voller Wissensdrang und Bildungshunger. Ich bin heute noch meinen damaligen Lehrern dankbar, mit welchem missionarischen Eifer sie uns nach dem verlorenen Kriege deutsches Kulturerbe nahe brachten, begünstigt dadurch, dass vor dem Abitur kein Fach abgewählt werden konnte. Das gilt insbesondere für unseren Klassenlehrer Dr. Albert Düker, den wir sechs Jahre lang, bis zum Abitur, in Deutsch, Latein und Geschichte hatten und der uns auch in unseren letzten Jahren als Leiter des Bremer Studienseminars mit ganzen Generationen von Referendaren beglückte. Unvergesslich unsere Abiturfahrt 1955 mit ihm und unserem Zeichenlehrer per Bahn und Fahrrad ins Land der Franken — ein konzentriertes Erleben von mittelalterlicher Geschichte und Kunstgeschichte!
Doch zurück zu den Anfängen meiner Gymnasialzeit:
Unser erster Klassenlehrer entstammte der Jugendbewegung. Durch die Zeltlager mit ihm wurde der spätere Weg zu den Pfadfindern geebnet. Mein erster Geschichtslehrer, ein Schulkamerad meines Vaters, weckte meine Liebe zur Geschichte. Schon am Anfang imponierte er mir durch die vielen Strophen des Nibelungenliedes
, die er aus seiner eigenen Schulzeit noch wusste. Mein Vater hat mir dann erzählt, dass dieses Lernen in seiner Schulzeit eine beliebte Strafarbeit war.
Als Fachlehrer für Biologie und Religion fungierte ein ehemaliger Pflanzer und Missionar in Ostafrika. Er hat manche Wurzel christlichen Denkens und der Weltoffenheit gelegt.
Der Fachlehrer in Mathematik und Physik bestimmte maßgeblich die späteren Studienfächer. Dabei bin ich nie Bastler gewesen, sondern kam dazu aus dem faustischen Drang, zu forschen, was die Welt im Innersten zusammenhält
Wir haben bei Dr. Düker noch deutsche Klassiker gelesen! Dem kam dann in Göttingen entgegen, dass hier 1956 noch Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker forschten. Insbesondere letzterer hat mich mit seinem Denken lange Zeit sehr beeinflusst.
Bei unserem Mathe-Lehrer imponierte mir auch sein großer ehrenamtlicher Einsatz als Vereinsvorsitzender für das Schullandheim in Dötlingen im Oldenburger Land. Jährlich einmal verbrachten wir dort mit konzentriertem Unterricht mehrere Wochen. Es war eine Internatsatmosphäre, also mit Übernachtungen, Küchen- und Zimmerdienst, Tag- und Nachtwanderungen. Schulische Höhepunkte waren Pflanzenbestimmungen im Moor, Landvermessungen (z.B. Ermittlung der Kirchturmhöhe und der Breite der Hunte), Musizieren, Zeichnen und Sport im Freien. Für die musisch interessierten (inzwischen ehemaligen) Schüler gibt es noch heute in Dötlingen die musischen Freizeiten. Hier haben Musik- und Kunstlehrer sehr viel von ihrer eigenen Kraft und Freizeit investiert. Auch die Ehemaligen treffen sich hier zu einem solchen Tun noch nach mehr als fünfzig Jahren. Dass wir bei unseren regelmäßigen Jahrgangstreffen (fast 60 Jahre nach dem Abitur) immer wieder auf Dötlingen zurückkommen, dürfte kaum überraschen.
Ich selbst denke auch noch gern daran zurück, dass wir 1955 zur 50-Jahr-Feier der Schule die Festschrift erstellten und dazu in alten Unterlagen stöberten. Hier ist mir nicht nur der Einfluss der Politik seit der Kaiserzeit auf die Schulgeschichte deutlich geworden, sondern auch, selbst Glied einer Traditionskette zu sein — ein Erlebnis, das ich auch später mehrfach hatte, so in unserer Familie, bei den Pfadfindern, meiner Studentenverbindung und in unserer Kirchengemeinde.