Lebenserinnerungen und Kriegserlebnisse
Kapitel 8
Heimkehr aus Gefangenschaft
Im März 1946 erreichte mich eine Antwortkarte über die Bahndienststelle in Kassel auf die Karte, die wir aus dem Gefangenenlager schicken durften mit dem Ziel, Angehörige zu suchen und auch zu finden. Glücklich und überrascht erfuhr ich daraus, dass meine Eltern, Großmutter und Geschwister wohlbehalten mit dem Flüchtlingstreck in Stakendorf bei Schönberg im Kreis Plön angekommen waren. Kurz entschlossen packte ich meine wenigen Sachen und ohne Geld machte ich mich auf den Weg zu meinen Angehörigen. Mal in der Lokomotive, mal im Gepäckwagen, mal mit einem Güterzug erreichte ich nach abenteuerlicher Bahnfahrt Kiel, übernachtete im Keller des zerstörten Bahnhofs, erhielt eine warme Suppe von der Bahnhofsmission. Schon früh am nächsten Morgen wanderte ich durch Kiel, Richtung Schönkirchen, Schönberg. In Schönkirchen fand ich Gelegenheit, mit einem Pferdewagen ein Stück meines Wegs zu fahren. Zwei Männer saßen auf dem Kutschbock und unterhielten sich. Ich saß im Wagen mit dem Rücken zum Kutscher. Wenn ich mich auch noch so bemühte, etwas von der Unterhaltung mitzubekommen, ich hatte nichts verstanden. Später wusste ich, warum ich nichts verstand - die Leute sprachen Ur-Holsteiner Plattdeutsch. In Passade war diese schöne Kutschfahrt zu Ende. Ich bedankte mich, fragte noch nach dem weiteren Weg und wanderte weiter - in großer Erwartung und Aufregung.
Gegen Abend erreichte ich als müder Wandersmann
Stakendorf. Schon auf dem Weg durch das Dorf begegneten mir Einwohner und Kinder aus unserem Dorf Steintal. Ich erfuhr, dass hier der Treck mit 24 Wagen gelandet war und wusste nun auch, wo meine Eltern wohnten. Die Überraschung war groß, als ich plötzlich in der Tür stand. Eineinhalb Jahre hatten meine Eltern nichts von mir gehört und waren in großer Sorge. Meine Mutter nahm mich in die Arme und weinte. Die Familie lief zusammen und bestaunte mich, noch in meiner Gefangenen-Uniform. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde im Dorf von meinem Erscheinen: Der Paulche ist da, der Paulche ist da!
Meine Familie war beim Bauern Oskar Muhs untergekommen, und ich erfuhr, dass sich Eltern, Geschwister und die Großmutter hier gleich wie zu Hause fühlten. Auch ich durfte das bald erfahren. Dieses herzliche Verhältnis zu der Familie und deren Kindern besteht bis zum heutigen Tag.
Oskar Muhs und seine Frau sind verstorben. Auch meine lieben Eltern sind nicht mehr. So möchte ich mich im Namen meiner verstorbenen Eltern und Geschwister herzlich bei den noch lebenden Kindern der Familie Muhs für die Aufnahme und das Zusammenleben bedanken. Mein Vater als Treckführer schloss seinen Bericht: Nach neuneinhalbwöchiger Irrfahrt erreichten wir Stakendorf und wurden dort von den Einwohnern freundlich aufgenommen.
Über die Flucht aus Steintal von 23. Januar bis 26. März 1945 habe ich einen gesonderten BerichtLesen Sie auch den Bericht über die Ereignisse 1945 und das Schicksal der Bewohner Steintals: Flucht aus Masuren im Januar 1945 mit Fluchtplan und Fluchtweg zusammengestellt.
Die Erinnerung an meine geliebte ostpreußische Heimat hat mich auch nach dem Krieg und hier in Schleswig-Holstein ständig begleitet. Durch meine Fahrten nach Ostpreußen, durch meine Arbeit in der Kreisgemeinschaft, durch den Kontakt zu den dort lebenden Landsleuten und Menschen blieb bei mir die Vergangenheit wach, als wäre ich niemals von dort weggegangen. In den vorliegenden und erwähnten Broschüren und in meinen Lebenserinnerungen und Kriegserlebnissen habe ich für meine Kinder und Enkelkinder aufgeschrieben, was in der Erinnerung haften geblieben ist. Es handelt sich alles um wahre Begebenheiten und Erlebnisse in der Zeit meiner Jugend! Nie lag es in meiner Absicht, mich als besonderen Helden darzustellen - ich war nie ein Held! Schon als Pimpf mit zehn Jahren hatte ich gelernt zu gehorchen, bin so erzogen, meine Pflicht zu erfüllen und hatte im Krieg Befehle auszuführen ohne Wenn und Aber! Es mag in der heutigen Zeit für diese Generation unverständlich erscheinen, aber es war einfach so. Es gab nichts zu diskutieren.
Meine Jugendjahre vergingen schnell, die Jugendzeit jedoch blieb bis heute im Gedächtnis! Heute bin ich 93 Jahre alt - die Zeit vergeht. 1954 habe ich meine Elfi geheiratet, die aus Mecklenburg stammt. Wir haben drei Kinder Horst (* 1958), Heike (* 1961) und Ingo (* 1966). Meine Heimat Ostpreußen gibt es nicht mehr, dennoch bin ich dankbar, dass ich seit 1970 meinen Geburtsort Steintal besuchen und auf den Spuren meiner Kindheit wandern darf, bin glücklich, dass ich auch meinen Kindern unsere schöne Heimat Ostpreußen zeigen kann. Mit ihnen fahre ich nach Hause
. Und jetzt wünsche ich mir eine weitere gesegnete Zeit für meine Familie. Ich bin dankbar für manche Behütung und Bewahrung! Ich will mit einem kleinen Gedicht enden, das wir in unserer Steintaler Volksschule nach jedem Schultag gebetet haben.
Unsern Ausgang segne Gott,
unsern Eingang gleichermaßen,
segne unser täglich Brot,
segne unser Tun und Lassen,
segne uns mit sel'gem Sterben
und mach uns zu Himmelserben.
Amen