Zum 90. Geburtstag am 12.12.2009
Liebe Mutti,
deine ersten Jahre in Bockhorn waren auch meine ersten Jahre.
Als ich im Mai 1948 auf die Welt kam, hattest du vorher weder an einem Säuglingspflegekurs noch an einer Schwangerschaftsgymnastik teilgenommen. Auch Rückbildungsgymnastik war ein Fremdwort für dich.
Den Geburtstermin hast du dir selber errechnet und ich war pünktlich.
Du bist auch nicht mit dem Auto oder der Taxe ins Krankenhaus gefahren, sondern hast den nächsten Bus nach Bad Segeberg genommen, als du meintest, jetzt ist es soweit.
So warst du zwar etwas zu früh in der Klinik, hattest aber dadurch Zeit, den mit Papa vereinbarten Mädchennamen noch mal zu ändern, ohne mit ihm Rücksprache zu halten. Renate fandest du plötzlich viel schöner als Gudrun, und wie gut, denn viele Jahre später hat der Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Peter Struck herausgefunden, dass Vornamen mit einem A oder E günstig für die Entwicklung eines Kindes sind. Vornamen mit U dagegen beeinflussen das Kind negativ. Du warst eben der Zeit voraus.
In meinen ersten Wochen in Bockhorn konnte ich nicht aus dem Bettchen fallen, obwohl es keine Gitterstäbe hatte, eigentlich hatte ich auch gar kein Bett, mein Lager war auf dem Fußboden.
Dann habe ich einige Jahre mit euch im Bett geschlafen. So um die Zeit, als ich zur Schule kam, wurde ein Metallbett für mich angeschafft und weil nirgends anders Platz war, wurde es in der Speisekammer aufgestellt, bei Schmalztöpfen, Eingewecktem, Schinken und Würsten. Und niemand fand es unhygienisch.
Später wurde der Dachboden ausgebaut und ich habe ein eigenes Zimmer bekommen, natürlich ohne Heizung. Im Winter ging ich dann mit einem heißen Ziegelstein ins Bett.
Unser Haus hatte einen Herd in der Küche, der immer an war, und einen Ofen in der Stube, der aber nur an besonderen Tagen befeuert wurde.
Als ich sitzen konnte, bist du mit mir Fahrrad gefahren. Ich saß im kleinen schwarzen Blechkörbchen, das vorn an den Lenker gehängt wurde, ohne Fuß- und Kopfstützen, keine Polsterung und nicht TÜV-geprüft und ich hatte auch keinen Helm auf.
Dein Fahrrad hatte keine Siebengangschaltung und keinen Fahrradkorb auf dem Gepäckträger, und trotzdem bist du mit mir die zwölf Kilometer nach Bad Segeberg geradelt. Einen Radweg gab es noch nicht.
Dein Fahrrad hatte weder ein Bügel- oder Drahtseilschloss, es hatte gar kein Schloss und man konnte es auch nicht irgendwo anschließen.
Das Fahrrad mussten du und Papa euch teilen.
Unsere Haustür wurde tagsüber nicht abgeschlossen, keiner hatte Angst, die Tür war tagsüber immer offen, eine Klingel gab es nicht, Nachbarn, Freunde und Händler kamen einfach ins Haus.
Bei uns gab es nur zwei Sorten Brot, Mischbrot und Schwarzbrot und nur eine Sorte Brötchen. Als Belag selbst gekochte Marmelade und selbst hergestellte Wurst und Schmalz. Und wenn kein Belag mehr da war, hast du mir Zucker aufs Brot gestreut. Zuckerbrot fand ich besonders lecker.
Ich kannte weder Zitronen- noch Orangenlimonade, auch Kaba und Nesquik waren mir fremd. Kakao hast du selbst gekocht, das weiß heute kaum noch jemand, dass man Kakao selber machen kann.
Die meiste Zeit war das Wasser aus der Pumpe unser Getränk. Keiner hat es nach Schadstoffen untersuchen lassen. Oder es gab Blümchenkaffee, eine volle Kanne mit Lindeskaffee stand immer auf dem Herd.
Die Milch wurde vom Bauern geholt, so wie sie war, frisch von der Kuh mit Sahneschicht, nicht pasteurisiert und homogenisiert.
Ob Frühstück, Mittag- oder Abendessen, Milchsuppe und Bratkartoffeln gab es zu jeder Tageszeit und am liebsten mit reichlich Speck in der Bratpfanne. Du hattest keine Befürchtung, dass der Speck uns dick macht. Papa und du, ihr wart beide sehr schlank, und ich war schon als kleines Kind pummelig.
Ich hatte keinen Roller und kein Kinderfahrrad. Radfahren habe ich auf deinem Fahrrad gelernt, im Stehen. Der Lenker war auf Höhe meines Mundes und so habe ich mir dann eines Tages meine Lippen aufgeschlagen. Das musste so heilen, im Hause waren weder Mullbinden noch Hansaplast und Desinfektionsspray schon gar nicht.
Ich kannte keinen Kindergarten, keinen Sportverein, keine musikalische Früherziehung, ich habe kein Theater oder Kinderkonzerte besucht und bin als Kind nie in Urlaub gefahren.
Gespielt habe ich meist draußen, oder in der Küche am Küchentisch, wenn der mal gerade nicht in Benutzung war.
Oft bin ich auch mit den Bauern aufs Feld gefahren und du wusstest nicht, wo ich war, oder hab mit anderen Kindern im Wald gespielt und z. B. Höhlen gebaut. Wenn es dunkel wurde, wusste ich aber, dass es Zeit war, nach Hause zu gehen. Keiner wäre auf die Idee gekommen, dass du evtl. die Aufsichtspflicht verletzt.
Manchmal habe ich auf der Straße gesessen und mit weißen Steinen gemalt, daran hat sich niemand gestört. Wenn wirklich mal ein Auto kam, bin ich zur Seite gegangen.
Auf unserem Hof konnte man noch Kippel-Kappel oder mit Murmeln spielen oder Messersteck
Messerstechen
oder Land abnehmen
war ein beliebtes Spiel bis in die 1970er Jahre. Am Boden wird ein Kreis gezeichnet und entsprechend der Mitspielerzahl in gleich große Parzellen, das Land
der Spieler, geteilt. Der beginnende Spieler wirft sein Messer gezielt in eines der anderen Länder
. Bleibt es dort stecken, darf er in Schneiderichtung einen Strich vom Rande des Spielfeldes zu seinem eigenen Land ziehen und die Grenzen zum Nachbarland auf diese Weise verschieben.Siehe Wikipedia. Du hast mir nie ein Messer weggenommen, weil es vielleicht gefährlich ist.
Wir hatten auch kein Badezimmer, samstags wurde eine Zinkwanne in die Küche gestellt und mit dem Wasserkessel warmes Wasser eingefüllt. Eine Wasserleitung hatten wir nicht. Mich hast du immer zuerst baden lassen, danach seid ihr, du und Papa in die Wanne gestiegen, das Wasser wurde zwischendurch nicht gewechselt.
Heute würde man ein Kind, das so aufwächst, sehr bedauern, aber ich hatte damals eine sehr schöne Kindheit mit viel Freiheit und ich hatte die Möglichkeit, viel Phantasie beim Spielen zu entwickeln.
Ich danke dir, liebe Mutti.
Deine Renate