Montagsdemonstrationen 1989 in Leipzig
Auszüge aus meinem Tagebuch
Ich habe ein Wunder erlebt
Der Durchbruch der Friedlichen RevolutionAls Friedliche Revolution in Deutschland wird die Gesamtheit der politischen Ereignisse und Strukturveränderungen in Ostdeutschland in den Jahren 1989 und 1990 bezeichnet. Die Stadt Leipzig spielte dabei eine bedeutende Rolle.mehr in Wikipedia [… Klick] – das war unsere große Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 hier in Leipzig, mehr als siebzigtausend friedliche Demonstranten auf dem Ring, und die Staatsgewalt besaß keine Chance gegen sie. In den Tagen und Wochen danach brach das DDR-Regime wie ein Kartenhaus zusammen. Immer wieder schauen wir mit angehaltenem Atem auf die erste gelungene Revolution in der deutschen Geschichte zurück – und sie verlief absolut friedlich. In mein Gedächtnis hat sich diese Zeit als das Aufwühlendste eingeschrieben, was ich bisher erlebte. Ohne den 9. Oktober 1989 kein Mauerfall am 9. November 1989. Und auch in Berlin wurde die Mauer von den kleinen Leuten
aufgedrückt, von innen! Joachim Gauck hat die Zusammengehörigkeit von Friedlicher Revolution und deutscher Wiedervereinigung so formuliert: Vor der Einheit war die Freiheit. Die gewaltfreie Beseitigung des DDR-Regimes ist der Beitrag der Ostdeutschen zu unserer nationalen Identität.
Ein Guter Geist
hat mir eingegeben, ab Januar 1986 Tagebuch Meine Tagebücher ab Januar 1986 zu führen. Die Spannungen nahmen allenthalben zu, Veränderungen lagen förmlich in der Luft. Ich greife Einträge heraus. Mai/Juni 1989: Die
Organe
verbieten den Pleiße-Pilgermarsch, mit dem auf die katastrophale Umweltsituation in der Stadt aufmerksam gemacht werden sollte. Man müsse mit härtesten Polizeimaßnahmen rechnen.
Eintrag am 4. Juni:
Betroffenheit, Trauer und Wut. Als ich vor mir die dichte Kette der Polizei auf der Karl-Liebknecht-Straße sah, hatte ich plötzlich die Assoziation: Faschisten.
Der Wahlbetrug
Die Kommunalwahlen in der DDR 1989 fanden am 7. Mai 1989 statt. Es wurden die Volksvertreter in Gemeinden, Städten und Kreisen gewählt. Nach der Wahl konnte der Staatsführung Wahlfälschung nachgewiesen werden.Egon Krenz 1984 Marxen, Werle, S. XVIII. Sieben Fälle aus der Zeit der DDR wurden dokumentiert (S. 3–92)
mehr in Wikipedia [… Klick] von Egon Krenz, die Reinwaschung des Massakers in PekingTian’anmen-Massaker ist die verbreitete Bezeichnung der gewaltsamen Niederschlagung einer Protestbewegung, bei der der Tian’anmen-Platz (deutschPlatz am Tor des Himmlischen Friedens) in Peking durch eine ursprünglich studentische Demokratiebewegung besetzt wurde.mehr in Wikipedia [… Klick] alserfolgreiche Niederschlagung eines konterrevolutionären Putschversuchs. Unverkennbare Auflösungserscheinungen in Osteuropa: Sowjetunion, Ungarn, Polen. Eintrag am 24. Juni: Im Großen wie im Kleinen ist die Auflösung von Strukturen erlebbar: Den Machteliten wird die Gefolgschaft versagt, nationalistische Tendenzen, Spannungen zwischen den sozialistischen Ländern … – typische Zeichen des Umbruchs.
Eintrag am 16. Juli:
Wir dürfen uns unsere Energien nicht durch angstvolle Auseinandersetzungen mit dem Fetisch des Staates abziehen lassen, sondern müssen unsere Energien in die Ausbildung neuer Strukturen und Werte investieren.
Eintrag am 24. August:
Es ist wirklich eine unerhört spannende, spannungsvolle Zeit, in der wir leben.
Das Genießen der Spannung – unbestreitbar eins der Hauptmotive, warum viele hiergeblieben sind. Auch ich. Wolf Biermann am 21. August in der TAZ: Die DDR laufe aus wie ein alter Eimer.
Eintrag am 12. September:
Anstatt jetzt aktiv zu werden, scheinen Lähmung und Resignation zuzunehmen. Manchem Intellektuellen geht es andererseits jetzt auch wieder zu schnell. Flucht und Ausreise bilden das Thema Nr. 1.
Eintrag am 14. September:
Bis heute früh lt. Deutschlandfunk knapp dreizehntausend Flüchtlinge in der Bundesrepublik eingetroffen.
Eintrag am 17. September:
Witz: Die westdeutsche Nationalhymne hat jetzt einen neuen Text: Deutschland, Deutschland über Ungarn …
Überhaupt: die WitzeAuch die Unfreiheiten in der DDR ließen dem Bürger einzig den Witz als Möglichkeit des politischen Protestes.mehr in Wikipedia [… Klick]; dafür bildete die DDR eine unerschöpfliche Ressource, und Humor ist bekanntlich, wenn man trotzdem lacht.
Ich möchte eine Fahrkarte nach Frankfurt (Oder), dort soll es Autoreifen geben, verlangt ein Berliner am Schalter, erhält aber kommentarlos ein Ticket nach Magdeburg.Ich will doch aber nach Frankfurt (Oder) wegen der Reifen, meint er verwundert.Das habe ich schon verstanden, sagt der Bahnmitarbeiter,aber anstellen müssen Sie sich schon.Wohnungstauschanzeige: Biete moderne Vierzimmerwohnung, suche einfaches Loch in der Mauer.
Im September die ersten scharfen Handgreiflichkeiten mit der Polizei. Eintrag am 18. September: Über Megaphon:
Bürger, räumen Sie die Straße, Sie behindern eine Maßnahme!DieMaßnahmebesteht in dem Versuch mehrerer Bereitschaftswagen, in die Ritterstraße hineinzufahren. Sie kommen nur ein paar Meter voran, verkeilen sich dann untereinander, einige Male wird rasant auf die Fußwege gefahren, sodass man zur Seite springen muss. Plötzlich Volkspolizei in Kombis mit Hunden. Ein paar Minuten später Panik: Die Hundekette hat sich in Bewegung gesetzt, die Leute spritzen Hals über Kopf davon, ich renne zwischen parkenden Autos und um Fußgänger-Absperrgitter, wie 20 Jahre nicht. Neben mir stürzt eine Frau. Geschrei, Entsetzen, Pfeifen. Die Hundekette ist nur um etwa 50 Meter vorgerückt, die Hunde haben ihre Beißkörbe noch um … wieder Johlen. Ein Vater mit seinem vielleicht vierjährigen, weinenden Kind auf dem Arm. In der Menge, munter und frisch: unser Klempner (Wir waren gerade beim Ausbau unserer Wohnung). Wie es ihm ginge.Sehr gut, sehen Sie doch.Die Hundekette zieht sich zurück. Klatschen,Schleimscheißer!wird ihnen hinterhergerufen.
Eintrag am 26. September:
Gestern hat Leipzig seit -zig Jahren seine erste große politische Demonstration für Reformen und Demokratie erlebt. In der Leipziger Volkszeitung heute:
Durch das besonnene und zurückhaltende Verhalten der Sicherheitskräfte blieb die neuerliche Zusammenrottung mit eindeutig antisozialistischer Tendenz begrenzt.
Eintrag am 1. Oktober:
Flüchtlinge in den Botschaften lt. Tagesschau vom 30. September: Prag 3.500, Warschau: 800. Letzte Nacht 653 über Ungarn/Österreich; insgesamt seit 11. September jetzt 23.697 … Witz: Wer ist der größte Feldherr aller Zeiten? Erich Honecker: Dreißigtausend in die Flucht geschlagen, siebzehn Millionen Gefangene.
Am 2. Oktober die zweite Montagsdemo. Eintrag am 5. Oktober: Von der Nikolaikirche aus setzte sich der Demonstrationszug wieder gegen 18:30 Uhr in Bewegung, nur dass es diesmal über zehntausend waren. Die
Internationalewird gesungen,Gorbi!gerufen,Neues Forum zu–las–sen!,Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!,Wir bleiben hier!… Vor der Polizeikette im Sprechchor:Väter gegen Söhne!undWir sind mehr!Die junge Frau in der Menge unter der Fußgängerüberführung am Konsument-Warenhaus, mit den anderen zu den Schaulustigen hinaufrufend:Mitmachen!und dannEs ist doch euer Land!, wobei sie die Hände vor ihr Gesicht schlägt.
Eintrag am 6. Oktober:
In der Leipziger Volkszeitung vom 6. Oktober:
Werktätige des Bezirkes fordern: Staatsfeindlichkeit nicht länger dulden…konterrevolutionäre Aktionen,Elemente,… endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand!Stasi-Minister Mielke gibt am 8. Oktober eine mehrseitige Weisung an alle Diensteinheiten des Ministeriums für Staatssicherheit heraus.Volle Dienstbereitschaftwird befohlen, dieZusammenrottung feindlicher Oppositioneller sowie weiterer feindlich-negativer und rowdyhafter Kräftesei zu verhindern.
Montag, 9. Oktober:
Die Gefühle schwanken zwischen Todesangst und Entschlossenheit. Es ist damit zu rechnen, dass sie schießen. Alle Innenstadtkirchen zu den Friedensgebeten 17 Uhr sind überfüllt. Vor den Eingängen verteilt das
Neue ForumFlugblätter: Keine Gewalt! Um 18 Uhr wartet auf dem Karl-Marx-Platz die unüberschaubare Menge auf den Beginn der Demonstration vom Nikolaikirchhof her. Den Ring sperren Kampfgruppen ab, Gott sei Dank ohne Maschinenpistolen. Ein Kommandeur spielt mit dem Totschläger in seiner Hand. Der Appell derLeipziger SechsDie Sechs von Leipzig (häufig auch als die Leipziger Sechs bezeichnet) ist die Bezeichnung für eine sechsköpfige Gruppe, die mit ihrem gemeinsamen Aufruf am 9. Oktober 1989 zur Gewaltfreiheit der Montagsdemonstration während der Friedlichen Revolution in Leipzig beitrug.mehr in Wikipedia [… Klick], verlesen von Gewandhauskapellmeister Kurt Masur über den Stadtfunk: Wir brauchen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land.18:30 Uhr. Unbeschreiblich, diese Menge! Der Karl-Marx-Platz, damals noch Parkplatz, heute der Augustusplatz mit doppelstöckiger Tiefgarage, steht voller Autos. Nicht ein Seitenspiegel geht zu Bruch, als wir uns zum Ring durchschlängeln. Straßenbahnen bleiben stecken. Für ein Krankenfahrzeug wird eine Gasse freigemacht, ein Bus mit westdeutschen Touristen zum Hotel durchgelassen.
Pressefreiheitwird gerufen,Wir wollen Reformen!,Schließt euch an!,Wir bleiben hier!Vor dem Stasigebäude:Keine Gewalt!Pfiffe rüber zu den Uniformierten, die im Dunkeln hinter den Bäumen lauern. Ich höre diese Rufe noch ganz genau:Wir sind keine Rowdys!Und dann die einfach-grandiose, positive Umkehrung und Auflösung, der Ruf, der der Friedlichen Revolution Wucht und Gemeinschaft verlieh:Wir sind das Volk!,Wir sind das Volk!
Eintrag am 10. Oktober:
Was für mich zum Ermutigendsten dieser gesamten Tage gehört, waren die Gespräche mit den Kampfgruppenangehörigen nach der Demonstration, sachlich und ruhig. Gute Leute, selbstbewusst und emanzipiert. Arbeiter untereinander. Einer sagt, morgen stehe ich wie du wieder an der Drehmaschine, und heute hättet ihr womöglich auf uns geschossen.
Der Tag der Entscheidung – erst im zeitlichen Abstand offenbart der 9. Oktober seine historische Bedeutung für unser Land und für Europa. Die absolute Gewaltfreiheit, die Entschlossenheit und die Menge der Demonstranten ließen die Sicherheitskräfte kapitulieren. Aus Wut wurde Mut. Es ging ein Stück Himmel auf an diesem Nachmittag und Abend. Ich habe ein Wunder erlebt. Kaum Fotos und nur wenige Filmaufnahmen existieren von dieser denkwürdigen Demonstration.
Fortan gab es den Zusammenbruch eines Systems zu beobachten. Aus Rowdys werden
Dialogpartner. Jeden Montag ziehen die Demonstrationen mehr Menschen auf die Straße – und keineswegs nur aus Leipzig! –, 300.000 am 23. Oktober.Egon, wir sind wetterfest!In seinem RomanDer Turmfindet Uwe Tellkamp für die Emanzipation, für die Verwandlung der Menschen das Bild, es sei die Alltagsschlacke auf den Gesichtern aufgebrochen.
Eintrag am 22. Oktober:
Es ist ungeheuer! Unwahrscheinlich viel zu tun! Die Chance kommt nie wieder! Jetzt oder nie – Demokratie!
9. November 1989: die Maueröffnung.
Wahnsinn– mit dem Wort versuchten die Menschen, das Unbegreifliche zu verstehen. Wir haben ein Wunder erlebt. Die Mauer endet als volkseigener Steinbruch. Aber der erste Stein aus ihr – so sehe ich das – ist in Leipzig herausgebrochen worden.
Eintrag am 10. November:
Mit einem Mal kracht das Regime hier zusammen, und was kommt zum Vorschein? Es war ein tönerner Koloss. Aber es hat uns allen den Atem genommen.
11. November:
Seit die Grenzen offen sind, befindet sich das Land im Taumel.
19. November:
Angst vor der unerhörten Konsequenz unserer Revolution.
Rückblick 20 Jahre später:
Wie gedenken wir heute dieser Ereignisse? Wie sichern wir der Friedlichen Revolution ihren Platz im historischen Gedächtnis? An die hundert Veranstaltungen erinnern allein in Leipzig in diesem Jahr daran. Festakt mit dem Bundespräsidenten am 9. Oktober, der erstmals ein städtischer Gedenktag ist; die ARD überträgt live. Ein spektakuläres Lichtfest wird am Abend die Stationen des Demonstrationsrings illuminieren. Geplant ist die Auslobung eines Freiheits- und Einheitsdenkmals in Leipzig, finanziert von der Bundesregierung als Dank an jene, die auf den Demonstrationen der Friedlichen Revolution zum Durchbruch verhalfen. Unter den 534 Entwürfen für das Denkmal in Berlin befand sich nicht ein einziger brauchbarer. Wie können wir ein gültiges Symbol für dieses Weltereignis finden?
Schließlich: Was können wir aus der Friedlichen Revolution für den politischen Diskurs in unserem Land lernen, für die Erwachsenenbildung? Bertolt Brechts Das Lied von der Moldau
mag uns bei der Antwort behilflich sein:
Am Grunde der Moldau wandern die Steine,
Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.
Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.
Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.
Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne
der Mächtigen kommen am Ende zum Halt.
Und geh‘n sie einher auch wie blutige Hähne,
es wechseln die Zeiten, da hilft kein‘ Gewalt.
Am Grunde der Moldau wandern die Steine,
es liegen drei Kaiser begraben in Prag.
Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.
Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.
Ich beziehe aus diesem Text und aus dem Erlebten drei Ableitungen, die in der politischen Bildung gut einsetzbar sind: Menschen können etwas bewegen. – Auch das scheinbar auf ewig Angelegte ist dem Wandel unterworfen; jähe Wechsel inklusive. – Geschichte ist nicht berechenbar.