Lämmerhüpfen
Kochendes Wasser blubbert im Samowar, würziger Teegeruch, heimelig-wohlige Wärme durchzieht den Körper, zeitlose Tanzmusik aus dem Radio. Ich wühle in alten Fotos, die ich schon seit 50 Jahren sortieren und einkleben wollte.
Hups! - was ist das?
Oha! Glückliche Jugendzeit aus und in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.
Charlottchen, erste in der zweiten Reihe von links und ihre Freundinnen, meine Freunde und ich, untere Reihe - ehemalige Tanzschüler einer Elmshorner Tanzschule. Meine Eltern wohnten damals neben Charlottchens Eltern in Neuendeich.
Irgendwann luden Charlottchens Eltern zum LÄMMERHÜPFEN nach Neuendeich ein. Alle waren dabei, nur Karin nicht.
Ich hatte mich in Karin verliebt, als Freunde und ich bei ihrem Bruder eingeladen waren. Karins erster selbstgebackener Kuchen wurde aufgeschnitten. Und ausgerechnet ich fand in meinem Stückchen einen kleinen Tapeziernagel! Er war fortan mein Talisman bis vor ein paar Monaten, als meine Fußbodenkosmetikerin
meinen Schreibtisch entstaubte. Jetzt weiß ich wieder, mein Schreibtisch ist aus Mahagoni, der Talisman aber offenbar in der Mülle!
Rückblende 1954.
Ich hörte, Karin geht zur Tanzschule. Ich nach! Auch meine Freunde.
Hieß es dort, die Damen auffordern, schlug mein Herz schneller, aber die Beine waren langsamer, zu langsam. Deshalb geriet ich immer an Erika, die Kleine mit dem
Ponyschnitt. Sie war steif wie ein Stock!
Tango.
Eins und zwei... kommandiert der Adele-Sandrock-Verschnitt von Tanzlehrerin, herzlich aber streng! Und jetzt mit Musik aus dem Grammophon! Kennen Sie die Sache mit dem Tangogeiger nicht? Die Hüften wiegen, meine Lieben - vorwärts, rückwärts, seitwärts, Schluss und drehen! Er kommt direkt aus Argentinien!
Rudolf, Ihre Hand hat unterhalb der Taille Ihrer Partnerin nichts zu suchen! Auf den Rücken damit!
Erika, keinen Katzenrücken!
Drehen, meine Lieben - Herren wechseln die Damen!
Ich lasse Erika stehen, laufe zu Karin.
Rudolf, laufen Sie mir meine Mädels nicht um!
Fräulein Gisela, Sie tanzen mit Herrn Rudolf!
Knistern von der Schelllackplatte. Langsamer Walzer. <Ich tanze mit Dir in den Himmel hinein...>
Auf Zehenspitzen federleicht schweben, meine Lieben, '...in den siebenten Himmel der Liebe! ' Rudolf, schauen Sie Ihrer Dame ins Gesicht!
Unmöglich. Gisela ist Einsneunundsiebzig, ich Einssiebenund-sechzig!
Ich sehe nur die blauen Blumen ihrer Bluse. Ich schaue höher, erst der Hals, dann das Kinn, ein warmer Hauch von Atem durchweht mein Haar.
Aua
, schreit Gisela. Kein Wunder bei der Schuhgröße! Ich werde ja zum Trittbrettfahrer. Hoppla, wir küssen das blanke Parkett!
Du Lümmel!
Der Tritt mit dem spitzen Schuh war saftig!
Dieter, Sie tanzen mit Gisela, Rudolf - tschüss bis nächsten Dienstag!
Ohne mit Karin getanzt zu haben, durchwalze ich zwei Monate Tanzschule. Meine Einladung zum Abschlussball schlug sie aber nicht aus.
Stolz stand ich vorm Dielenspiegel. Neuer Anzug! Selbst geschneidert! Schein vom Vater in der Tasche. Zusage von Karin - mein Fahrrad flog mit mir zum Abtanzball!
Ein Engel kam angeschwebt. Weiße Bluse mit Keulenärmel, enger Samtmiedergürtel, schwarzer, weiter Rock auf weißem Petticoat, das schöne Gesicht umweht von einem Schwarzhaar-Pferdeschwanz. Zwei große dunkle Augen sahen mich an!
Ich führte Karin stolz zu Tisch, übersah aber den großen Blonden am Nebentisch!
Wir blieben nicht allein. Zu unserem Tisch stürmten Erika, meine Tanzstundendame, und Dieter und Gisela. Wir waren dicke Freunde geworden.
Haltung, Rudolf!
Herr Ober, zwei Flaschen Liebfrauenmilch!
Was anderes kannte ich nicht!
Walzer - Stuhl fällt um. Ich bin der erste! Karin in meinem Arm. HURRA!
Du siehst aus wie eine Prinzessin aus dem Biedermeier
, sage ich.
Ihre Antwort: Ja, das Postkutschenzeitalter muss schön gewesen sein, aber Deine Biedermeierprinzessin ist schon vergeben!
Sie zeigte auf den großen Blonden, der hinter uns mit Erika tanzte.
Ich hatte verloren.
Ich brachte Karin zum Platz und verschwand, bezahlte den bestellten Wein und ließ mich durch den Ober entschuldigen.
Ich schwang mich auf mein Rad. Halb weinend, halb lachend fuhr ich durch die laue Herbstnacht. Auf der Drehbrücke hielt ich an, schaute auf das silberne Band der Pinnau und schwor nie, nie zu heiraten!
Ich lege das Foto zurück, langsam verschwindet die Erinnerung wie ein Schatten durch die Tür.
Ich schaue in den fast blinden Dielenspiegel. Ein alter Mann schaut mich an. Na alter Junggeselle
, sage ich zu meinem Spiegelbild und lächle über das hübsche Lied von Paul Lincke, das mir gerade in den Sinn kommt:
Wenn auch die Jahre enteilen, bleibt die Erinnerung doch...
glaub mir, die Märchen beginnen alle: Es war einmal!