Unvergessliche Erinnerungen
Driesen (Drezdenko), Sommer 1943
Es war ein herrlicher Abend in der Bibliothek. Tante zeigte alte Bilder aus ihrer Hamburger Zeit. Das vornehme Mietshaus am Schwanenwik, ihren damaligen Modesalon in der Schröderstraße, das heimelig schöne Hamburg an der Außenalster, aber auch an anderen Ecken, von denen sie traurig sagte, dass sie den Bomben zum Opfer gefallen seien. Dann glänzten ihre Augen wieder, sie erzählte von ihren Kundinnen am Harvestehuder Weg, deren Villen größer als seien, als die ostischen veralteter Begriff für Ost-Deutsch
. Herrenhäuser ihrer Bekannten und voller Stolz von denen, welche einer Fahrt nach Südamerika den Vorzug gaben als einer auf die Uhlenhorst. Besuchten diese aber Tantchen, dann kamen sie stets in großer Limousine mit Fahrer in blauem Anzug nach neuestem Schnitt und mit blauer Mütze und weißen Handschuhen. War aber Essen oder Gesellschaft angesagt und der Herr Gemahl konnte nicht, dann tauschte der Fahrer den Schlips aus, und Handschuh’ und Mütze blieben im Benz.
Wir lachten.
Der Sandmann
klopfte an. Ab ins Bett. Verdunklung war angesagt.
Tante hasste Verdunklung und noch mehr den Blockwart, den sie nur als Kontrollfuchs mit den zwei Gesichtern
bezeichnete. Es war Vollmond, gespenstisch wirkte die Halle. Nur eine kleine Leuchte im oberen Stockwerk, wo die Schlafzimmer lagen, wies uns den Weg.
Wir tasten uns zur Treppe, die so maßlos knarrt. Ein Quietschen. Die Kellertür öffnet sich! Im grellen Lichtschein erscheint eine Frauengestalt im Nachthemd mit geraffter Schürze, schreit laut auf und lässt die Schürze fallen. So etwas wie Kugeln kullern auf den Fliesenboden.
Tante ruft entsetzt: Oh, Mamsell, was ist das denn?
Die prompte Antwort: Na, Äppel, jnädije Frau!
Tantchen erwacht aus der Erstarrung. Mamsell, ich dulde zwar ihr Landser-Bratkartoffelverhältnis, aber müssen Sie sich dabei auch noch mit meinem Spalierobst unterhalten? So was tut man doch nicht im Beisein meines Neffen!
und schiebt mich in mein Zimmer.
Advent 1944
Ich bin das letzte Mal in Driesen, in der ach so heilen Welt. Tante zeigt mir den kleinen schreienden Rotschopf im Kinderwagen und sagt: Schau, hat uns Mamsell nicht ein süßes Christkind beschert?
Ich frage, ob ihr Spalierobst ein bestimmtes Fruchtbarkeitsaroma besitzt.
Sie streichelt über meinen Kopf und antwortet: Hatte Dein Vater bei seinem letzten Fronturlaub nichts Besseres im Sinn, als Dich aufzuklären? So was tu aber nie Deiner Familie an, Du weißt, wenn Dein Vater nicht wiederkommt, trägst Du eine große Verantwortung!
Schwerin (Skwierzyna), Sommerurlaub 1944 in Schweinert Hauland
Ulli und ich toben vom Wohnhaus zum Mühlberg, jeder eine große Stulle mit Mettwurst in der Hand. Ausgerechnet die Gutsförster’sche, die immer Eier für ihre Berliner Sippschaft schnorrt, läuft uns über den Weg. Na ihr Bengels, bei dem Futter werdet ihr aber stramme deutsche Jungs!
Kräh-kräh
schreien wir und eilen mit flügelschlagenden Handbewegungen davon. Die zahnlose alte Kethner’sche lacht laut hinter ihrem kaputten Zaun und verschwindet pantinenschlürfend in ihrer alten Kaschemme.
Ulli ruft: Die alte Postliese kommt!
Na, die wird Augen machen! Auf, hinter den Busch!
Grasbüschelsegen über Liese.
Watt een Schreck ooch! Die Beng’schen ihre Lausejungs sind wieder uff’n Hoff! Habt keen Zielwasser jetrunken, wa? Aus Euch Lulatsche werd’n nie richtje Soldaten! Hier habt Ihr’n paar Bonbons, aber passt uff, die kleben noch. Mutter hat se aus Zuckerrübensirup jekocht. Nächstetma nehmta Euch als Ziel die Vogelscheuche von Eure Großmutta!
Mensch Ulli, schau, Tafelmüller hat mindsten fuffzich Fichtensetzlinge gepflanzt. Du, da reißen wir zehn Stück für Omas Park raus, das merkt der Gnibberich sowieso nicht.
Gesagt - getan. Sie wurden ausgerissen, in feuchtes Moos gewickelt und im Schweinestall bei der aggressiven, trächtigen Sau versteckt - auf Nimmerwiedersehen, denn der Gong rief zum Essen.
Drei Tage später. Fünf-Uhr-Tee. Tafelmüller war geladen.
Wir, geschniegelt und gebügelt, am Katzentisch bei Schmalzbroten.
Tafelmüller wirkt erregt. Stellt Euch vor, man hat mir zehn der kostbaren Fichtensetzlinge gestohlen. Ich werde beim Ortsgruppenführer Anzeige erstatten!
Wir schauen unsere Mütter an. Verständlicher Blickkontakt.
Jungs, geht auf den Hof! Rudi, aber reite nicht wieder auf dem Schäferhund die Milchkannen um. Und Ulli, setz nicht wieder der alten Angorakatze die Schutenmütze von der Puppe unserer Berliner Liselotte auf, es genügt, dass der Kater ein Mal wie wild die Bäume rauf und runter gerast ist.
Herbst 1944
Vaters letzter Urlaub im geliebten Schwerin.
Ich komme aus der Schule und höre, wie Vater in seinem Arbeitszimmer zu Mutter sagt: Der Bengel macht mir Sorgen. Wenn er doch eine Schaufensterscheibe zerschlagen würde! Seine geliebte Tante muss unbedingt einen Fußball besorgen!
Mutter antwortet: Brauchst keine Angst zu haben. ‚Tafels’ Fichtensetzlinge, welche der Sohn Deines Freundes und Dein Herr Sohn ausgerissen haben, haben uns je Familie 200 Reichsmark gekostet und Ullis Großmutter drei Mastgänse! Dafür bekommen wir zu Weihnachten nur eine halbe Gans.
Vater ruft mich, er zieht leicht an meinem rechten Ohr und sagt: Junge, so einen Mist bau mir nie wieder. Ich weiß nicht, wann ich wieder nach Haus komme. Du musst jetzt ganz lieb zu Deiner Mutter sein!
Hamburg, Hauptbahnhof, Herbst 1953
Der Bahnsteig ist überfüllt.
Fragende, hoffnungsvolle Angehörige warten auf Spätheimkehrer. Auch Vater soll dabei sein. Neun Jahre russischer Zwangsarbeit in einem Schweigelager in Sibirien liegen hinter ihm.
Der Zug fährt ein.
Glückliche Menschen liegen sich in den Armen. Lachen und Weinen lösen sich ab.
Verzweifelung bei denen, die umsonst kamen und vergeblich warteten.
Vor Mutter und mir steht ein alter, gebrochener Mann, gezeichnet von schwerer Krankheit: mein Vater.
Wir liegen uns in den Armen, er flüstert mir ins Ohr: Danke Junge. Ich bin stolz auf Dich. Lieb, dass Du auf Mutter aufgepasst hast. Kannst Du Dich erinnern? Jetzt habe ich Mist gebaut!
Drei glückliche Menschen fahren einer neuen Zukunft entgegen.