Das Leben hinterlässt Spuren
oder:
Wochenkinderkrippe und Wochenkindergarten
Mit diesen beiden Begriffen kann nur ein Mensch, der seine Kindheit in der DDR verbracht hat, etwas anfangen. Wochenkinderkrippe und Wochenkindergarten waren Einrichtungen, in denen die Kinder von ihren Eltern am Montag früh abgegeben und am Freitagabend wieder abgeholt wurden. Diese Einrichtungen waren keine ganzen, aber auch keine halben Heime - für Kinder. Auf jeden Fall waren sie für Kinder gedacht, deren Eltern aus irgendwelchen Gründen nicht die nötige Zeit oder Muße für ihre Sprösslinge hatten.
Für die Kinder selbst glichen diese Anstalten eher einer seelischen Folterkammer.
Es waren Häuser voller Leid und Elend. Häuser, in denen Kinder, die kaum auf dieser Welt angekommen, statt von Freude und Geborgenheit umgeben, von Selbstzweifeln und Sehnsucht geplagt und letztendlich geformt wurden. Unsere Welt – denn auch ich gehörte zu diesen Kindern – bestand aus der quälenden Sehnsucht nach den Eltern und aus der verzweifelten Suche nach dem Grund dieses Zustandes.
Leider kann ich mich, vielleicht aus verständlichen Gründen, an diese insgesamt sechs Jahre meines Lebens kaum erinnern. Fast nichts ist übriggeblieben. Kein Bild, kein Name … nur ein einziges Ereignis. Dieses eine Ereignis, das ich so tief begraben wollte und das doch immer wieder, gleich einem Vulkan, aufbricht und meine Welt zum welken bringt.
Es muss wohl an einem Novembernachmittag gewesen sein. Draußen war es schon dunkel, als ich voller Vorfreude dem Kommen meines Vaters entgegenfieberte.
Ich hatte großes Glück, denn meine Eltern gehörten nicht zu denen, die ihre Kinder nur am Freitagabend abholten. Meine Eltern waren Künstler. Dieses Leben jedoch erlaubte kein geregeltes Leben, denn das Theater hatte und hat stets seinen ganz eigenen Rhythmus. So konnte ich auch an Tagen, an denen die anderen Kinder noch ausharren und warten mussten, den Qualen der Anstalt kurz entkommen. So auch heute. Dachte ich. Doch es kam anders, als erhofft.
Nein, mein Vater vergaß mich nicht. Nein, er kam. Zwar viel später als angekündigt, aber er war da. Am liebsten wäre ich ihm sogleich um den Hals gesprungen doch unsere Aufseherin hielt mich mit ihrer knochigen Hand fest und sagte mit strenger Stimme: Du bleibst jetzt hier!
Mit diesen fast schon warnenden Worten ging sie zu meinem Vater. Ich sah nur, wie sich die beiden angeregt unterhielten. Und zwar lange! Dann kam die Wärterin wieder und sagte knapp: Dein Vater kann dich heute nicht mitnehmen. Er kommt morgen wieder. Er muss heute noch arbeiten.
Das Gefühl, dass mich jetzt füllte, entzieht sich allen Beschreibungen. Es gibt kein einziges Wort, keine Musik, die den Klang dieser Tiefe ergreifen und vermitteln kann. Nichts vermag diesen Augenblick der Enttäuschung beschreiben … Nichts.
Mein Vater musste gehen und ich blieb. Bei den anderen Kindern. Die nur am Freitagabend abgeholt wurden.
Erst jetzt, nach etlichen Jahren riss die alte Wunde wieder auf.
Hinterhältig und unerwartet. In einem Augenblick der Schwäche.
Wir schreiben den 19. Februar 2018.
Draußen ist es dunkel.
Ich gehe den langen Flur entlang.
Überall Türen. Es ist kalt hier. Das Licht so grell.
Es kann sein, dass wir Sie heute Nacht zur Beobachtung hierbehalten müssen.
Mir wird bange. Ich will nicht allein hierbleiben müssen.
Längst vergessene Bilder machen plötzlich auf sich aufmerksam.
Doch ich will sie nicht sehen. Ich will sie nicht fühlen. Sie gehorchen mir nicht. Sie sind überall.
Sie füllen mein Herz mit Trauer. Mit Tränen. Mit Angst.
Ich erkenne meinen Vater. Ich erkenne mich als Kind. Bettelnd. Flehend. Weinend.
Er muss gehen. Ich muss bleiben.
Ich will nicht.
Ich will nicht allein bleiben müssen.
Kindertränen rollen über die erwachsene Landschaft meines Gesichts.
Unbeschreibliche Angst beherrscht mich.
Ich werde untersucht. Der Arzt ist gründlich.
Ich glaube, Sie können heute nach Hause gehen. Es reicht, wenn Sie erst in drei Tagen erneut zur Nachuntersuchung kommen.
Es ist Sonntag. Ich telefoniere mit meinem Vater:
Meine letzte Woche war sehr turbulent. Ich war im Krankenhaus und weißt du, irgendetwas dort, vielleicht die Türen, der Flur oder das Licht hat mich an den einen Abend im Kindergarten erinnert. An den Abend, als du mich nicht mitnehmen konntest, weil du noch arbeiten musstest. Das war unbeschreiblich. Dieses Gefühl wieder erleiden zu müssen. Ich hatte solch eine Angst, allein dort bleiben zu müssen. Ich glaube, ich habe die ganze Nacht durchgeweint.Mein Vater schweigt. Dann sagt er zögerlich:
Ja, das wollte ich dir schon immer sagen …Seine Stimme versagt.
Ich nutze die kurze Pause und frage nichts Gutes ahnend ungeduldig und vielleicht zu hart:
Was wolltest Du schon immer sagen?
Mich plagen solche Schuldgefühle … du glaubst gar nicht, wie leid es mir tut.
Was?
Ich musste an dem Abend nicht arbeiten.
Nein?
Nein.
Mein Vater verstummt. Ich warte.
Nein. Ich war an dem Abend betrunken und deshalb durftest du nicht mitkommen. Es tut mir so leid!Sein unerwartetes Geständnis raubt mir den Atem.
All die Jahre saß die Musik, das Theater auf der Anklagebank. Sie waren es, die mir meine Eltern nahmen! Doch nun drängte sich ein neuer, mir aber keineswegs unbekannter Gegner in den Mittelpunkt. Alkohol. Kann es sein, dass ich nicht nur dank der Tätigkeit meiner Eltern in diesen Einrichtungen meine Kindheit erleiden musste? Kann es sein, dass es einen anderen Grund gab und dass der der Wahre war?
Es fällt mir schwer jetzt, nach so langer Zeit zugeben zu müssen, dass diese Einrichtungen, die es in der DDR zu dieser Zeit noch gab, doch ihre Berechtigung hatten. Ich glaube, der geschulte Blick der Aufseherinnen und die Tatsache, dass wir von unseren Eltern getrennt leben mussten, hat so manche Kinder beschützt.
Mich auch.