Prolog:
Nach der Flucht vor dem russischen Heer im Januar 1945 gab es schon einmal ein Wiedersehen mit der Stadt Osterode, und zwar im Jahre 1987. In diesem Jahr vom 31. August bis 5. September 2006 sind wir, meine Kinder, Schwiegerkinder und ich, noch einmal in die einstige Heimat Ostpreußen gefahren. Ich, um endgültig Abschied zu nehmen von der alten Heimat.
Wiedersehen mit der Heimat nach 61 Jahren
61 Jahre nach der Flucht aus unserer Heimat Ostpreußen, fand vom 1. bis 3. September 2006 das Hauptkreistreffen der Kreisgemeinschaft Osterode/Ostpreußen e.V. in Osterode (heute Ostróda) statt.
Hier das Grußwort des polnischen Bürgermeisters von Ostróda/Osterode Jan Nosewicz:
Liebe Osteroder!
Mit großer Freude habe ich die Nachricht erhalten, dass Osterode in diesem Jahr zahlreiche ehemalige Einwohner unseres Landkreises aus Deutschland empfangen wird. Dies wird ein weiteres Zeichen ihrer Verbundenheit und der Liebe zur Heimat sowie der Erinnerung an die Orte ihrer Kindheit und ihrer Jugendzeit sein.
Das Osteroder Gebiet ist eine zauberhafte Gegend, von der Natur mit besonderer Schönheit und einmaligem Charme gesegnet. Die Besonderheit dieser Gegend betont der große Osteroder Hans Hellmut Kirst schon im Titel seines bekannten Buches
Gott schläft in Masuren.Mit Zufriedenheit beobachte ich die Tatsache, dass viele Generationen Osteroder, Deutsche und Polen, die das grausame Schicksal in alle Welt verstreute, mit Osterode festen Kontakt hielten. So oft sie nur konnten, besuchten sie unsere gemeinsame Stadt, nahmen Kontakt auf und baten um aktuelle Informationen über die Entwicklungspläne für die Burg an der Drewca/Drewenz. Sie boten auch ihre Hilfe bei der Lösung städtischer Probleme an.
Das Wissen, dass viele Personen, die Osterode kennen gelernt haben, die Stadt ihr Leben lang nicht vergessen und ständigen Kontakt mit ihr halten, erfüllt mich mit Stolz.
Liebe Damen und Herren, wir bilden also eine große Familie der Osteroder. Die Liebe zu diesem wunderschönen Ort, die märchenhafte Natur und die einmalige Landschaft verbinden diejenigen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, auf eine bessere Zukunft der Region, die von der Geschichte schwer getroffen wurde, hinzuarbeiten.
Bis zum Ende des zweiten Weltkrieges war Osterode eine schöne, gepflegte Stadt. Anfang des Jahres 1945 wurde sie, aus den allgemein bekannten Gründen, zerstört. Drei Generationen polnischer Einwohner haben die Stadt mit Entschlossenheit aus den Trümmern wieder aufgebaut, die nötige Infrastruktur geschaffen, alte und neue Häuser renoviert. Heute ist Osterode fast zweimal so groß wie vor dem Krieg. (ca. 36.000 Einwohner) Bei der Entwicklung unserer Stadt vergessen wir nicht ihre Vergangenheit. Wir bemühen uns, die Spuren unserer Vorfahren zu erhalten und zu pflegen, alles was die 650-jährige Geschichte Osterodes bezeugt. Es soll ein sichtbares Zeichen der Verbundenheit der heutigen Generation der Osteroder mit denen sein, die unsere Stadt in den vergangenen Jahrhunderten gestaltet haben.
Wir bauen unsere Stadt Osterode, damit auch Sie auf sie stolz sind. Die Stadt an der Drweca/ Drewenz ist wieder schön und gepflegt. Sie wird noch schöner, weil wir gute Entwicklungsperspektiven haben. Wir sorgen für die Umwelt und spezialisieren uns im Bereich Touristik.
Ich lade Sie herzlich nach Osterode ein! Ich glaube, dass wir dort gemeinsam angenehme Stunden verbringen, gute Erinnerungen wecken und die Stadt mit neuer Energie erfüllen.
Die Tore unserer Stadt werden immer weit offen stehen für Sie. Wir sehen uns in Osterode, der Perle Masurens und der Perle des Oberlandes.
Die Reise nach Polen – 61 Jahre später
In der Osteroder Zeitung, die zweimal im Jahr erscheint, bot die Firma Radmer-Reisen aus Hohenwestedt diese Reise nach Osterode/Ostpreußen an.
Meine Kinder und ich wollten diese Reise wagen. Es war eine Busreise, Ziel war das Schlosshotel Karnitten in Karnitten. Dieser Ort liegt in der Nähe von Liebemühl, nicht weit von Osterode entfernt. In Osterode selbst waren zu dieser Zeit alle Hotels ausgebucht.
Die Busfahrt dauerte 15 Stunden und ging von Hohenwestedt über Lübeck, Hamburg, Rostock, Stettin und Stargard nach Karnitten. Um 20:30 Uhr trafen wir dort ein. Die zugewiesenen Zimmer aufsuchen, zu Abend essen und zu Bett gehen nach dem anstrengendem Tag war angesagt.
Am Freitag, dem 1. September 2006 nach dem Frühstück, brachte uns der Bus nach Osterode. In der Herderstraße, vor dem Deutschen Verein Tannen
, in unmittelbarer Nähe der evangelischen Stadtkirche wurden wir abgesetzt. Die Kirche konnten wir an diesem Tag leider nicht besichtigen, weil sie verschlossen war.
Wir fünf starteten unser Wiedersehen, beziehungsweise Kennenlernen mit dieser Stadt von hier aus.
Ich selbst, Jahrgang 1921, bin in Osterode geboren, zur Schule gegangen, in der Stadtkirche konfirmiert und getraut worden. Auch meine Tochter wurde hier noch, fünf Tage vor der Flucht, geboren.
Mein Elternhaus stand und steht immer noch in der Roonstraße 25. Dort wollten wir als erstes hingehen. Wir gingen die Schillerstraße abwärts und rechts die Hindenburgstraße hoch. Linker Hand, am ehemaligen, noch gut erhaltenen Gymnasium vorbei und bogen links in die Roonstraße ein. An der Ecke steht immer noch das zweistöckige Haus vom damaligen Kriminalbeamten Brosda. Gleich daneben auch die damalige Baptisten Kapelle. Auch heute noch als solche erkennbar. Bis auf mein Elternhaus, das ganz hinten stand, gab es keine weiteren Häuser mehr in dieser Straße. Auch damals nicht. Rechts und links der Straße, durch hohe Mauern abgegrenzt, war und ist militärischer Bereich. Neu war für mich, dass über die Straße ein Zaun gezogen war, der das Weitergehen untersagt. Kein Durchkommen zum elterlichen Haus. Wir mussten also umkehren. Um von der Rückseite an das Haus heranzukommen, gingen wir die Hindenburgstraße bis zur Bahnlinie hinunter und bogen in die Sandstraße ein. Die Sandstraße ist heute eine asphaltierte Straße, die parallel zur Bahnlinie verläuft, ich weiß nicht, wo sie hinführt. In der Sandstraße ist heute Industrie angesiedelt. Von dieser Seite hofften wir, an mein Elternhaus heranzukommen. Leider auch vergebens. Auch hier war alles abgesperrt. Damals stand hier ein undurchsichtiger Bretterzaun, heute ist es ein Maschendrahtzaun. Da alle damaligen Stallungen auf dem Grundstück meines Vaters abgebrochen sind, hatten wir einen guten Blick durch den Drahtzaun auf die Rückseite des Hauses. Vor dem Haus stand ein polnischer Panzer. Es gab leider keine Möglichkeit, näher an dieses Haus heranzukommen. Wir mussten uns mit einem Foto durch den Maschendrahtzaun begnügen. Waren es Tränen der Enttäuschung, die dann in die Augen stiegen?
Wir gingen zurück über die Bahnlinie in die Friedrichstraße. Die Luisen-Schule und das Vergnügungslokal Elisenhof
stehen nicht mehr. Der Elisenhof
war damals ein beliebtes Tanzlokal, in dem besonders die Soldaten gerne verkehrten.
Weiter geht es dann an der wieder aufgebauten Landkirche vorbei.
Rechts und links, den alten und neuen Markt einfassend, stehen Plattenbauten. Die alten, schönen Häuser aus der Ordenszeit wurden von den Russen 1945 zerstört.
Das Café Rathaus, das mitten auf dem Markt stand - zwischen altem und neuem Markt - gibt es nicht mehr. Dafür wurde ein Informationsgebäude hingestellt. Die vier Bäume, die zu deutscher Zeit, eine kugelförmig geschnittene Krone hatten, sind in den Himmel gewachsen. Vor dem Café Rathaus stand einst der Drei-Kaiser-Brunnen
, ein Brunnen, der auf seiner dreiseitigen Stele die Abbilder der drei Kaiser trug. Dieser Brunnen wurde von den Polen entfernt und 2004 nach altem Vorbild wieder aufgebaut.
Er ist heute ein Denkmal, ein Denkmal der Europäischen Einheit, das am 01. Mai 2004 eingeweiht wurde. Die Stele trägt heute die Wappen Ostródas, der Patenstadt Osterode am Harz und den Sternenkreis Europas. Am Fuß ist eine Gedenktafel angebracht mit einem Hinweis auf die drei deutschen Kaiser.
Vom alten Markt aus geht es in die Baderstraße. Kurz vor der Brücke über die Drewenz stand einst ein großes Haus. Im unteren Bereich befand sich die Kolonialwarenhandlung der Firma Breda. (Mein Arbeitsplatz im Büro dieser Firma) Außerdem eine Gaststätte und ein Kino, damals bekannt als Flohkiste
. Dieses Haus, mit seinen im Hof gelegenen Lagerhäusern, steht nicht mehr.
Über die Drewenzbrücke gehend, an der linken Ecke der Straße steht noch das Gebäude der ehemaligen Osteroder Zeitung, das sehr ungepflegt aussieht. Genau gegenüber, die Gartenstraße querend, geht es den Berg hinauf zum ehemaligen evangelischen Friedhof. Er ist verwildert und völlig zugewachsen mit Gras und Wildkräutern. Bekannte Grabstellen sucht man vergebens. Wir gehen zurück und biegen wieder in die Gartenstraße ein. Vorbei an der Hindenburg-Schule und dem damaligen Amtsgericht. Links runter gehend empfangen uns gepflegte Anlagen am Drewenzsee. Gegenüber sieht man das wieder aufgebaute Ordensschloss, in dem sich heute ein Museum befindet. Der Schlosshof lädt zum Verweilen ein, so machen wir Rast und hören dort einer singenden und musizierenden polnischen Jugendgruppe zu und erfrischen uns bei einem Glase Bier.
Schräg gegenüber der Burg steht noch und wird auch genutzt, die alte Post. Rotes Backsteingebäude. An der Post vorbei kommt man direkt zum Ufer des Drewenzsee. Die mir bekannte Uferpromenade zog sich an der Bahnhofstraße entlang. Neu ist die Uferpromenade mit der Mole. Die Osteroder Zeitung berichtet, dass die Mole am Ufer des Drewenzsee mit einer Länge von 50 beziehungsweise 30 Metern, in L-Form und einer Breite von acht Metern flächenmäßig die größte ihrer Art in Polen ist. Die Mole zusammen mit ihren Cafés und Pubs am Seeufer ist der am meisten besuchte Platz der Stadt. Auf dem See tummeln sich Schwäne und Enten in großer Zahl.
Die neue Promenade zieht sich am See entlang und endet am Bismarckturm, den man zu deutscher Zeit nur über die Bismarckstraße erreichen konnte. Am Bismarckturm gibt es einen neuen, sehr schönen Flachbau, das Park-Hotel. Auch früher gab es hier schon eine Lokalität. Auch damals war diese Gaststätte sehr beliebt und gut besucht. Hier machten wir Rast, aßen gebackenen Hecht und genossen das Panorama der Stadt Osterode über den See.
Auf dem Rückweg zum Deutschen Haus
in der Herderstraße konnten wir an einem Denkmal vor der katholischen Kirche eine Gedenkfeier mit militärischen Ehren beobachten. Diese Feier erinnerte an den Kriegsbeginn am 01.09.1939 und die vielen Toten dieses Krieges. Hier sahen wir auch die ersten polnischen Soldaten. Sonst sind keine Soldaten in der Stadt präsent. Um 17.30 Uhr holte uns der Bus vom Deutschen Haus
in der Herderstraße wieder ab und brachte uns in unser Hotel nach Karnitten. Nach dem Abendessen saßen wir noch lange gemütlich zusammen.
Am 2. September brachte uns der Bus wieder nach Osterode. Die Festveranstaltung fand im Sportzentrum ul. Kosciuszki 22a, der ehemaligen Olgastraße statt.
Wir klinkten uns wieder aus zu unserem eigenen Programm.
Wir wanderten die Märkerstraße entlang. Gleich an der Ecke, gegenüber der Artillerie-Kaserne steht noch der Wohnblock, in dem die Eltern meines Mannes wohnten. Die Blocks sehen ungepflegt aus und sind nur noch zum Teil bewohnt. Weiter entlang den Mauern rechts und links der Märkerstraße gelangt man in die Kaiserstraße. Dort befindet sich auch der Haupteingang zur Kaserne. Dann kommt man am katholischen Friedhof vorbei, der genau so verwildert ist, wie der evangelische Friedhof. Allerdings ist der nicht so groß und man kann noch vereinzelt Grabstellen erkennen. Geradeaus führt der Weg wieder direkt zum See. Wir kamen auf die Idee, von Osterode per Bahn einen Abstecher nach Danzig zu machen. Die Erkundigungen am nahen Bahnhof ergaben aber, dass die Zeit, auf einen Tag beschränkt viel zu knapp bemessen gewesen wäre. Also unterblieb dieser Wunsch. Per Bus fuhren wir zurück nach Karnitten. Uns erwartete eine unruhige Nacht. Der große Festsaal im Hotel war für eine Hochzeitsfeier festlich geschmückt. Wie wir hörten, waren 130 Gäste zu dem Fest geladen. Die machten dann auch die Nacht zum Tage und raubten den übrigen Hotelgästen den Schlaf.
Sonntag, der 03. September begann mit Regen. Der Bus brachte uns nach dem 7.00 Uhr Frühstück nach Osterode. In der evangelischen Kirche fand ein ökonomischer Gottesdienst statt. Die Kirche war von Polen und Deutschen besucht. Die Predigt wurde von drei polnischen Pastoren und einer polnischen Pastorin gehalten und abschnittweise in die deutsche Sprache übersetzt. Die Lieder sang jeder in seiner Sprache. Zum Ende des Gottesdienstes hörte man die Glocken läuten. Es sind immer noch dieselben Glocken, die auch zu deutscher Zeit läuteten. Die Feier und der Abschluss des Osteroder Treffens fand im Hotel SAJMINO in Buchwalde, heute Kajkowo (bei Osterode) statt. Wir hatten es uns bis zur Rückfahrt nach Karnitten in einem Osteroder Lokal gemütlich gemacht, nachdem der Tag sowieso verregnet war. In den drei Tagen, die ich mit meinen Kindern meine ehem. Heimatstadt Osterode durchstreifte, habe ich, beziehungsweise wir, viel gesehen.
Mein letzter, sehr kurzer Besuch in dieser Stadt war, zusammen mit meinem verstorbenen Mann, im Jahre 1987, lag also 19 Jahre zurück. Aber in dieser Zeit ist die Stadt wieder aufgeblüht, hat ein ansprechendes Gesamtbild bekommen und wird ganz bestimmt, wie auch zu deutscher Zeit, eines Tages wieder die Perle des Oberlandes sein. Wir Deutsche müssen uns damit abfinden, dass Osterode, Ostróda nun eine polnische Stadt ist.
Am Montag, dem 04.09.2006, unserem letzten Tag in Ostpreußen, stand eine Fahrt auf dem Oberländischen Kanal auf dem Programm.
Frühstück um 7.00 Uhr, Abfahrt per Bus um 8.15 Uhr. Das Wetter klar und sonnig. Der Bus brachte uns nach Hirschfeld, wo wir das Schiff bestiegen. Der Oberländische Kanal verbindet die Städte Osterode und Elbing. Das ist allerdings eine Tagestour. Wir wollten aber nur vier Rollberge (geneigte Ebenen) überfahren.
Mittags holte uns der Bus von Buchwalde und setzte uns in Osterode ab. Den letzten halben Tag hatten alle zur freien Verfügung. Wir ließen den Tag in der Stadt geruhsam ausklingen. Der Bus holte uns gegen 18.00 Uhr nach Karnitten ins Hotel zurück. Es hieß: Koffer packen. Am 5. September 2006 Abfahrt vom Hotel um 7.00 Uhr. Um 8.30 Uhr waren wir schon in Marienburg. Hier hielten wir für ein Foto vor der Marienburg. Majestätisch, wie immer, steht sie an der Nogat. Jetzt ging es aber zügig weiter mit wenig Pausen über Stargard, Stettin Richtung deutsche Grenze. Um 15.30 Uhr waren wir wieder auf deutschem Gebiet. Um 21.30 Uhr erreichten wir Hamburg und eine Stunde später, bei gutem U-Bahn Anschluss und Taxe ab Langenhorn Markt mein Zuhause.
Ein Wort zum Abschluss von Herrn Henryk Hoch, Vorsitzender des Vereins Deutscher Gesellschaften in ehemaligen Ostpreußen mit Sitz in Allenstein und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft Tannen
in Osterode sagt:
Liebe Landsleute. Besucht die Stadt Osterode, die zwar nicht das Aussehen hat, wie in Eurer Kindheit, weil sie sinnlos zerstört wurde, die aber in unseren Herzen für immer das alte Osterode bleiben wird.
Wir haben Osterode vom 31. August bis 5. September 2006 besucht und uns überzeugt, dass es gerade in den letzten Jahres sehr viele positive Entwicklungen gegeben hat. Osterode ist auf einem guten Wege wieder zur Perle des Oberlandes zu werden.
Mein liebes Osterode am schönen Drewenzstrand ,
du wirst mit Recht die Perle des Oberlands genannt.
Rings um der Kranz der Wälder, die Seen klar und schön.
Weit kann von deinen Türmen man in die Lande seh'n.
Epilog:
Vor dieser Reise habe ich mich über die Stadt Osterode in Ostreußen, die ich nur aus den Erzählungen der Eltern kannte, ausführlicher informiert. Dabei fiel mir auf, dass es auch hier eine Synagoge gegeben hatte. Aus dem Fenster ihrer Lehrstätte beim Händler Broda hätte meine Mutter als damals 17jährige Sicht auf dieses prächtige Gebäude haben müssen. Auf meine Frage, ob sie sich an die Synagoge erinnern könne, antwortete sie ausweichend: Da hat es mal gebrannt.
.
Solche Verdrängungen habe ich in 20jähriger Zeitzeugenarbeit häufiger erlebt, auch bei anderen Zeitzeugen.
Die Synagoge in Osterode wurde am 9. November 1938, während der sogenannten Reichskristallnacht
, auch Reichspogromnacht
genannt, vollständig zerstört, obwohl das Gebäude inzwischen veräußert worden war. Auch der jüdische Friedhof wurde eingeebnet, um die Juden ihrer Geschichte zu berauben. Wer die Macht über die Geschichte hat, hat auch Macht über Gegenwart und Zukunft. George Orwell (1984)
Befragt man die Archive, war der Anteil jüdischer Bürger mit fünf Prozent 1880 am höchsten. 1933 betrug die Zahl der jüdischen Mitbürger rund 150, überwiegend Einzelhändler, Viehhändler und Fabrikanten, auch waren einige als Magistratsmitglieder und Stadtverordnete tätig. Im Frühjahr 1939 meldete der Gauleiter Osterode judenfrei
, es gab keine jüdische Gemeinde mehr in Osterode.Quellen: Ronny Kabus, Juden in Ostpreußen / The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust (Vol. 2), S. 949
Als ich meine Mutter mit den Worten das ist deine letzte Gelegenheit
ermunterte, diese Reise mit uns, ihren Kindern zusammen anzutreten, konnte ich nicht wissen, wie recht ich mit diesen Worten behalten würde.
Eine Woche nach dieser Reise erlitt sie am 17. September 2006 einen sehr schweren Schlaganfall, an dessen Folgen sie kurze Zeit später am 13. Oktober verstarb. Vielleicht spürte sie ihren nahen Tod, da sie diesen Reisebericht noch in aller Eile schrieb. [H.Kennhöfer]