Frühe Kindheit
Ich erblickte die Welt 1944 im Exil
, in Glogau, Niederschlesien. Die Hebamme soll meiner Mutter gegenüber bei der Geburt geäußert haben: Der Knabe lebt einmal auf großem Fuß
– wegen meiner sichtbar großen Füße. Meine Mutter war und blieb die wichtigste Person in meinem Leben. Meinen Vater, der in Frankreich als Schirrmeister im Rang eines Feldwebels oder Oberfeldwebels im Kriegseinsatz war, kannte ich bis 1947-48 nur aus Erzählungen. Er, geboren 1911, stammte aus Lockstedter LagerDas Lockstedter Lager (auch Truppenübungsplatz Lockstedt genannt) war ein als Truppenübungsplatz genutzter Gutsbezirk in Holstein, aus dem 1927 dann eine gleichnamige Gemeinde gebildet wurde. In der Zeit der Weimarer Republik war das Lager ein Sammelpunkt rechtsextremer Gruppierungen. Der Ort galt als Wiege der schleswig-holsteinischen SA. Wegen des schlechten Rufes änderte die Gemeinde 1956 ihren Namen in Hohenlockstedt
.Siehe: Wikipedia.org in Schleswig-Holstein, meine Mutter, geboren 1913, aus Barmbek-BaschBarmbek Basch ist eine in Hamburg verwendete Bezeichnung für die angeblich sprichwörtliche Rüpelhaftigkeit der Bewohner des Stadtteils Barmbek. Nach diesem historischen Begriff hat sich das im Januar 2010 eröffnete Community Center Barmbek°Basch in Barmbek-Süd benannt.Siehe: Wikipedia.org.
Wir kamen auf unserer Flucht von GlogauDer Landkreis Glogau war ein preußischer Landkreis in Schlesien, der von 1816 bis 1945 bestand. Der Landkreis Glogau umfasste am 1. Januar 1945 die drei Städte Beuthen an der Oder, Heerwegen (bis 1937 Polkwitz), Schlesiersee (bis 1937 Schlawa) und 111 weitere Gemeinden mit weniger als 2000 Einwohnern sowie einen Gutsbezirk (Forsten).Siehe Wikipedia.org aus, nach Erzählungen, zunächst nach Celle zu Verwandten. Daran habe ich keine eigene Erinnerung. Auf der Flucht vor den Russen, per Eisenbahn, das erzählte meine Mutter immer wieder, war meine Ernährung sehr schwierig. Ich bekam oft nur in LokomotivwasserDie Zeitzeugin Ursula Gehm schildert es ähnlich: Das Baby einer Freundin meiner Mutter brauchte unbedingt etwas zu trinken. Beim nächsten Halt lief die Mutter nach vorne und bettelte beim Lokführer um etwas Lokomotivwasser für das Baby
. aufgeweichten Zwieback. Mein immer wieder verschmutzter Babyhintern konnte manchmal aus Wassermangel nur mit Spucke gereinigt werden. Meine Mutter und ich haben dieses ganze Chaos der letzten Kriegsgeschehnisse jedenfalls gut überlebt. Später kamen wir wieder nach Hamburg in eine neue Wohnung in der Groß-Flottbeker Straße.
In meiner Erinnerung ist diese erste kleine Wohnung in der zweiten Etage sehr lebendig. Sie bestand aus einem einzigen Wohn-Schlafraum, der gleichzeitig das Ehebett aufnahm. Ich schlief in einem sehr kleinen, unbeheizten, ungedämmten Boden-Nebenraum. Die relativ geräumige Küche befand sich außerhalb der Wohnung auf der gleichen Etage. Eine Toilette gab es eine Etage tiefer als Gemeinschafts-WC. Waschen konnten wir uns an einem Becken im Wohnraum.
Meine Mutter, eine hübsche, lebenslustige, warmherzige Frau, war eine ausgezeichnete Hausfrau und Köchin. Sie zeigte mir allerdings auch klare Grenzen auf und konnte sehr streng sein. Wenn die Hand ausrutschte, gab's Backpfeifen oder Schläge auf die nackten Oberschenkel. Andererseits genoss ich sehr große Freiheit.
Unsere rechteckige Etagenküche hatte ein Fenster zur Hauseingangsseite an der Längswand rechts von der Tür. An der Stirnseite zum Flur hing ein Wandschrank, darunter befanden sich eine Spüle und die Arbeitsplatte. Mitten im Raum stand der Küchentisch. Wir waren aufgrund des ausgeprägten Mangels nicht verwöhnt. Alle Lebensmittel wurden restlos genutzt, es gab Brotsuppen, selbst eingedickte Sauermilch mit dicker Fettschicht, bestreut mit Zucker und Schwarzbrot dazu war superlecker. Einen Kühlschrank kannten wir nicht. Wir aßen viel Gemüse und Hülsenfrüchte, selten Fleisch, eher Fisch, den es reichlich und günstig gab; alles in allem leckere, nahrhafte Hausmannskost. Für mich war es immer spannend, meiner Mutter bei ihren Küchenarbeiten beziehungsweise Essensvorbereitungen zuzusehen.
Aus der Wohnung traten wir in ein Treppenhaus auf einen Treppenabsatz, den links ein Geländer begrenzte, alles aus Holz gebaut. Das Geländer war glatt und eignete sich perfekt, um darauf bis auf den nächsten Absatz und weiter bis in den Eingangsbereich herunterzurutschen. Das war zwar verboten, aber machte unbeobachtet tollen Spaß.
Gut erinnern kann ich mich daran, dass mein Vater in dieser Zeit, das Jahr weiß ich nicht, es kann vielleicht um 1947-1948 gewesen sein, plötzlich aus der französischen Kriegsgefangenschaft ziemlich abgemagert nach Hause kam. Meinem Vater gegenüber fremdelte ich zunächst.
Eine sehr enge Bindung an ihn entsinne ich bis zu dem Wegzug meiner Eltern, meines Bruders aus Hamburg nicht. Er spielte schlicht in diesen geschilderten Kindheitserinnerungen keine nachhaltige Rolle für mich.
Es herrschte eine Zeit des Mangels. Oft konnte mein kräftiger Hunger nicht voll befriedigt werden. Meine Mutter stand bei Nachfragen nach Brot immer wieder vorm Küchenschrank mit kleinsten Portionen Margarine, Brot oder Aufschnitt und musste mir sagen, es gäbe entweder nichts oder nur kleine Brocken, da mein Vater das Vorhandene für seinen Arbeitstag benötigte.
In besonderen Situationen versuchte meine Mutter selbst oder vertrauenswürdige Familienboten, noch vorhandene Wertgegenstände auf dem Land gegen Nahrungsmittel einzutauschen. Eine solche Mission endete offenbar in einem Desaster. Um diesen damals streng untersagten Tauschhandel möglichst zu unterbinden, gab es die sogenannte Bahn- oder Transportpolizei, die ein waches Auge auf schwer tragende Menschen auf oder an den wenigen funktionierenden Bahnstationen hatte. Entweder meine Mutter oder ein Bote wurden also erwischt und mussten alle die mühsam eingetauschten, dringlich ersehnten Lebensmittel abgeben, das war ein schlimmer Schlag. Man munkelte damals, dass solche Beschlagnahmungen von diesen meist rücksichtslosen Polizisten gerne selbst vereinnahmt wurden.
Ein für mich überraschendes, freudiges Erlebnis waren die Flugzeugabwürfe von nicht mehr benötigten Notrationen amerikanischer Soldaten in festem, grauen Karton. An kleinen Stofffallschirmen schwebten sie sachte vom Himmel. Wir Kinder versuchten natürlich gern, solche zu erhaschen. Daran hinderte uns allerdings oft die Nachbarin, eine alte Dame, ein wenig hexengleich, die wie ein Derwisch hin und her rannte, um diese Päckchen an sich zu raffen. Ob oder wie viele solcher interessanten Päckchen mit leckerem Inhalt ich ergattern konnte, weiß ich nicht mehr. Ich weiß aber, dass sie später auch aus Selbstbedienungsautomaten gegen kleines Münzgeld zu ziehen waren. Sie enthielten unter anderem Mars, Kekse und Kaugummi. Letzteres schmeckte mir allerdings überhaupt nicht.
Im Souterrain wohnte der Hausmeister Lange mit seiner Frau. Er war ein Mann, der im Haus sehr auf Ordnung achtete und mit uns Kindern oft schimpfte. Wir haben ihn hin und wieder zu gern geärgert sowie mit dem Spruch geneckt, da kommt der Lange mit der Stange
, wenn er dann aus seiner Wohnung stürmte. Wir Kinder sind natürlich jedes Mal amüsiert geflüchtet. Er oder Mädchen aus der Straße haben besonders mich öfters verpetzt, wenn ich hin und wieder Regenwürmer geteilt habe, um zu untersuchen, ob deren Teile allein weiterlebten oder wenn ich mal wieder Vogelnester ausgeraubt hatte. Von meiner Mutter gab es dann regelmäßig ein kräftiges Donnerwetter, mal auch die eine oder andere Backpfeife.
Mein Vater verdiente zu dieser Zeit so viel Geld, dass wir zumindest kein krasses Mangelleben mehr führten. Dennoch gab es immer wieder Überraschungen. Eines Tages beauftragte meine Mutter mich beim Gemüsemann in der Beselerstraße eine kleine Portion Pfifferlinge zu holen. Als ich wieder zu Hause ankam und meine Mutter die Pilze zubereiten wollte, entdeckte sie, dass sie voller Maden und unbrauchbar waren. Wutentbrannt ist sie mit mir wieder zum Kaufmann gegangen und hat kräftig Rabatz gemacht. Es nützte nichts, neue Ware haben wir trotzdem nicht bekommen. Das Geschäft war anschließend natürlich tabu.
Neben diesem Gemüseladen gab es übrigens einen großen Kohlenhof, von dem aus damals Häuser und Wohnungen in der Umgebung mit Brennmaterial beliefert wurden.
Es war immer wieder interessant dort zu beobachten, wie beispielsweise Säcke über Schütten mit Wiegeeinrichtung befüllt, Schottsche-Karren und kleinere Lieferwagen mit den Säcken beladen wurden. Aber auch lose Kohleverladungen fanden statt, jedenfalls war es dort immer ordentlich aktiv und staubig. Die Lieferung der Kohle auf die Etage erfolgte durch Männer, die auf Kopf und Nacken grobe Jutesackkapuzen trugen und jeden Sack einzeln schulterten. Eine schweißtreibende und schmutzige Sache.
Meine Eltern gründeten zu der Zeit einen eigenen Lesezirkel in der Nähe der Sternbrücke in Hamburg. Das Büro befand sich im Souterrain direkt gegenüber der Johannis-Kirche, der heutigen Kulturkirche Altona. Hier verbrachte ich fortan viel Zeit. Hamburg war damals noch von englischen Truppenverbänden besetzt. Eines Tages rollte, ungemein spannend für mich, eine lange Panzerkolonne mit viel Getöse in Richtung Altonaer Bahnhof durch die Straße Allee
.
Wenn meine Eltern, speziell an Wochenenden, für sich sein wollten, bekam ich in Abständen 50 Pfennig fürs Landhaus-Kino. Das befand sich am Ende der Beselerstraße und war regelmäßig Treffpunkt vieler weggeschickter
Kinder. In der Beselerstraße gab es noch ein zweites Kino, das Liliencron-Lichtspielhaus. Meine Kindheit habe ich im Wesentlichen in guter Erinnerung. Man konnte nahezu gefahrlos überall spielen, es fuhren nur wenige Autos. Dafür waren Fahrräder und die sogenannten Schottschen Karren unterwegs, Gefährte mit zwei größeren Rädern und Ladeplattform, die an zwei Hebelarmen geschoben wurden. Damit transportierte man alles und jedes, was auf die Plattform passte. Das waren unter anderem Gemüse, Kohlen, Gerätschaften; Sammler von Flaschen, Lumpen und Papier, die laut rufend durch die Straßen zogen, nutzten sie. Dann gab es Männer, die manchmal triefendes Wassereis oder dampfendes Trockeneis auf den Karren zu Händlern oder Kneipen brachten. Das Trockeneis musste mit Handschuhen und Picken angefasst und bewegt werden, weil die Hände sonst daran klebten und man sich die Haut abreißen konnte. Vor Ort sägten die Eishändler Scheiben oder größere Stücke von langen Vierkant-Eisstangen ab, je nach Bedarf der Empfänger.
Eines Tages machte ich dennoch unangenehme Bekanntschaft mit einem Auto, als ich ziemlich achtlos über die Straße rannte, wurde leicht angefahren, überstand die Kollision offenbar jedoch glimpflich mit einigen Prellungen und blauen Flecken. Fortan achtete ich genauer auf den Verkehr.
Irgendwann, vielleicht 1949, erfüllten meine Eltern, zu meiner übergroßen Freude, meinen sehnlichen Wunsch nach einem Tretroller; er war todschick in blau-gelb. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Ein tolles Gefährt mit zwei etwas größeren hartgummibereiften Rädern. Der aufrechte starre Lenkarm trug den leicht gerundeten quer verlaufenden Lenker. Über dem starren unteren Trittbrett befand sich ein weiteres bewegliches Trittbrett, das mit einer Zahnstange in ein Zahnrad am hinteren Rad mündete. Mit Auf- und Ab-Bewegungen des oberen Trittbretts konnte man so mit dem Roller eine ordentliche Geschwindigkeit erreichen.
Der Tretroller erweiterte meinen Aktionsradius ganz erheblich. In unserer Umgebung befanden sich damals noch ausgedehnte Wiesen und Felder, es grasten viele Kühe. Bauern bewirtschafteten ihre Felder, vor allem in Richtung Hemmingstedter Weg, der sich noch heute bis fast nach Hochkamp hinzieht. Eine herrliche Welt, in der es jeden Tag etwas Neues zu entdecken gab. Es spielten viele Kinder in der Gegend.
Zu Hause war Geld immer noch knapp. Deswegen war es eine einmalige Gelegenheit, als ich auf einem meiner Ausflüge plötzlich vor einem großen hölzernen Garagentor einen Stopper aus massivem Eisen entdeckte. Schon uns als Kindern war sonnenklar, dass alle Rohstoffe, zumal Metalle, sehr wertvoll waren.
Nach Lagesondierung, habe ich den sehr schweren Klotz schnell auf meinen Roller geladen und ihn zu einem benachbarten Schrotthöker gefahren. Der wunderte sich zwar über den Steppke, der ihm diesen gewichtigen Eisenbarren brachte. Auf Nachfrage erzählte ich ihm eine kleine Geschichte zu meinem Fund. Ob er sie glaubte oder sein Interesse an dem interessanten Eisenblock überwog, weiß ich nicht. Jedenfalls bekam ich wohl einen Zwanziger. Für mich ein Großereignis. Was ich davon behalten durfte oder ob meine Mutter alles einkassierte, erinnere ich nicht. Diese ganze Zeit ist mir als eine völlig unbeschwerte, sorglose in Erinnerung.
An ein Erlebnis zusammen mit meiner Oma denke ich oft besonders. Wir waren im Sommer zusammen durch den Hemmingstedter Weg spazieren und hatten uns an einen Wiesenrand zum Ausruhen hingesetzt, vorher hatten wir Beerenfrüchte genascht. Ganz unbemerkt machte sich hinter dem Stacheldrahtzaun eine neugierige Kuh direkt an uns heran. Plötzlich muhte das Tier kräftig, meine Oma und ich waren so erschrocken, dass wir fluchtartig aufsprangen.
In Hochkamp wohnten zu der Zeit meine Tante Toni, die mittlere Schwester meiner Mutter, mit ihrem kriegsversehrten Mann und Sohn. Gemeinsame Besuche dort empfand ich als sehr anregend, weil mein Onkel viele interessante Geschichten und Anekdoten erzählen konnte. Außerdem hatten mein Neffe und ich großen Spaß daran, sich aus dem Kleidungsfundus von Tante Toni lustig zu verkleiden, mit deren Hüten, Kleidern und hochhakigen Schuhen.
Die Winter waren damals oft frostig kalt, an den alten Fenstern aus billigem Einscheibenglas blühten immer wieder Eisblumen und meine Oma, eine kleine, liebe, herzensgute Frau mit Dutt, bewahrte im Wohnraum auf einem Schrank, so lange sie sich hielten, Äpfel auf, die einen schönen Duft verbreiteten. Zudem konnte sie herrliche Geschichten erzählen. Wann sie verstarb, erinnere ich nicht.