Sehnsucht – bitte melde dich
Auch diese Aktion Mitte der 1990er Jahre hielt man in meiner Ursprungsfamilie für angemessen und korrekt. Weiterhin blind gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen in dieser Familie lebte ich mein unabhängiges Leben. Das verlief in jeder Beziehung wunschgemäß. Es gab Abenteuer.
Jetzt übte ich einen anderen Beruf aus. Der war nicht mehr mit so viel Macht verbunden, aber mit einer seltsamen Form des Respekts. Der begründete sich in meinem Wissen als Bauphysiker und Statiker. Auf Baustellen traute man sich nicht, mir zu widersprechen. Das war komfortabel, aber irgendwie seltsam, eben die Wirkung von gefürchtetem und lästigem Spezialwissen.
Eines Tages kam die besorgte Nachbarin aus ihrem Haus und sagte zu mir: „Sie müssen unbedingt Ihre Mutter anrufen!“ Die Frau war im Berufsleben Dienstmagd bei Jagdpächtern und traute sich den vermeintlich gesellschaftlich viel höherstehenden Gutshausbesitzer nicht mit „Du“ anzusprechen, trotz unserer sehr vertrauten Gespräche. Auf die Idee, dass jemand in meiner Familie schwer erkrankt oder gestorben sei, kam ich nicht und reagierte überrascht: „Hä? Sie hat meine Telefonnummer und meine Adresse, außerdem stehe ich im Telefonbuch. Sie könnte mich leicht anrufen. Ihre Telefonnummer habe ich allerdings nicht und sie steht auch nicht im Telefonbuch.“ Hier sei noch einmal betont, das war vor der Internet- und Smartphone-Zeit. Normalbürger telefonierten mit dem Festnetz und schickten Postbriefe, Faxe oder Telegramme.
Die Nachbarin erklärte: „Ihre Mutter lässt im Radio Lieder für Sie spielen und dann wird unser Ort genannt, mit dem Aufruf: Bitte melde dich“.
Die näheren Erklärungen der Nachbarin zeigten, es war eine Sendung mit deutschen Gassenhauern und Schlagern der 1930er bis 1950er-Jahre. Das war aus meinem Blickwinkel eine sehnsüchtige Radiosendung für alte Leute. Solch ein Radioprogramm hörte ich mir wegen des abschreckenden Liedguts nicht an. Das wusste Mutter. Dieses Programmkonzept erlaubte das Absetzen von privaten Grüßen und Suchmeldungen. Nostalgische Liebesbekundungen und Sehnsucht. Genau das, was man nicht braucht, wenn Abstand zur Familie lebenswichtig ist.
Weil ich Mutter nicht erreichen konnte, begann ich bei Rundfunksendern zu recherchieren. Vielleicht waren dort die Telefonnummer und die Postadresse hinterlegt. Die Recherche ergab, die Beantragung eines Musikwunsches mit einer solchen Suchmeldung ist sehr umständlich und mit etlichen Telefonaten zwischen Sender und Antragsteller verbunden. Der gefundene Sender vermittelte wegen der komplizierten internen Prozeduren keine Kontakte.
Nun stellte sich mir die Frage: „Was soll das denn jetzt wieder? Mutter kann mich unkomplizierter anrufen, als so eine Suchmeldung aufgeben.“ Außerdem: „Wie konnte diese Frau bei unserer letzten Begegnung sofort abrupt grußlos gehen und mich nach Jahren per Suchmeldung ausrufen lassen?“ Eine plausible Erklärung für das Verhalten dieser Frau fand ich nicht, hatte aber einen Verdacht: Wieder eine ihrer Narzissmus-Aktionen.
Inzwischen wurde ich von mehreren Nachbarn auf weitere Suchmeldungen angesprochen. Man fragte aufgebracht, warum ich denn nicht endlich meine Mutter anrufen würde? Man zeigte Unverständnis, weil ich meine Mutter so leiden ließ.
Nun begann sich Mutters öffentliches Bitten negativ auszuwirken. Das Dorf, in dem mein Landhaus stand, hatte knapp fünfzig Einwohner, ich war in großem Umkreis als Ingenieur bekannt. Man sah mich an, guckte weg und grüßte nicht zurück.
Meine Lage bot mir nicht viele Handlungsmöglichkeiten. Mutters Telefonnummer hatte ich nicht. Im damals üblichen Telefonbuch stand Mutter nicht. Meine Brüder nannten mir ihre Telefonnummer und ihre Postadresse nicht. So konnte ich keinen Postbrief direkt an Mutter schicken. Außerdem war es zweifelhaft, ob meine Brüder einen Brief an Mutter weiterleiten würden. Mit meinem Spürsinn hätte ich die Straße, in der Mutter wohnte, finden und dort nach dem Haus suchen können. Die siebenhundert Kilometer Fahrt dafür erschienen mir zu aufwendig. Schließlich war es fraglich, ob ich Einlass gefunden hätte.
Mein Verlangen, mit Mutter zu sprechen, hielt sich in Grenzen. Erfahrungsgemäß hätte mein irgendwie doch möglich gemachter Anruf die Situation nicht geändert, der konnte sogar Beschimpfungen auslösen und zu ihrer barschen Frage führen: „Was willst du, warum rufst du hier an?“ Deswegen war damit zu rechnen, dass sie ihre Radio-Appelle leugnete. Da hätte auch eine schriftliche Bestätigung des Senders nichts genutzt.
Die im Rundfunk demonstrierte mütterliche Sehnsucht beschädigte meinen Ruf und ging mit einem bedrohlichen Auftragsrückgang einher. Es ist jedoch nicht eindeutig, woran das lag. An der aufkommenden Krise im Baugewerbe, oder an der von Mutter gerissen, narzisstisch geäußerten Sehnsucht, die wie üble Nachrede wirkte, oder ob es an beidem lag. Die Aktion passte in die bis dahin erlebten NS-linientreuen mütterlichen Eingriffe in mein Leben und hatte Erfolg. Das destruktive Familienleben hatte mich wieder am Haken. Selbst der zu dieser Familie gehaltene Abstand schützte mich im Alltag nicht mehr. Mein Leben musste ich danach erneut ändern. Die aktive dissoziative Amnesie verschluckte und vernebelte weiterhin Familienereignisse. Sie packte alles in den sehr vollen, versteckten Dateiordner meines Gehirns. Bis zum Überlaufen dauerte es noch dreiundzwanzig Jahre.
Epilog – Erfahrung
Der NS-Erziehung kann man durch lebenslanges soziales Lernen entkommen. Den möglicherweise ererbten Narzissmus kann man durch solches Lernen auf ein sozial verträgliches Maß abschwächen. Dem Narzissmus der Eltern entgeht man erst nach deren Tod, doch das Erlittene wirkt nach …


