Die Reise nach Sukkur
In der letzten Woche unseres Besuches in Pakistan wollten wir mit Eduard (siehe Segeln in Karatschi1984 kam es zu einer Einladung der Mitarbeiter nach Karatschi zum Segeln
) von Karatschi nach Sukkur fahren. Er hatte dort beruflich zu tun und wir durften mitfahren. Auch seine Frau wollte mitkommen, was sonst eher unüblich war. Denn es war immer schwer abzuschätzen, wie lange die Verhandlungen dauerten, es konnte schon mal eine Woche oder mehr werden. Vorher hatten wir aber noch ein langes Wochenende, denn Freitag ist ja der muslimische Sonntag und so zog sich das Wochenende bis Montag hin. In den Basaren wurde an diesen freien Tagen besonders viel gehandelt. Der Familie Janssen stand auch ein Badehaus am Strand des Arabischen Meeres zur Verfügung, dahin wollten wir am Samstag. Joseph, der Fahrer, sollte Fee, Petra und die kleine Lena mit dem Auto dorthin bringen. Eduard und ich wollten dahin segeln. Im Segelclub ließ Eduard eine 470er Jolle auftakeln. Es handelt sich dabei um eine sehr schnelle Jolle, 4,70 m lang 1,68m breit und mit 12,7 Quadratmeter Segelfläche. Mehr ein Turngerät als ein Segelschiff. Mit Einsetzen der Ebbe machten wir uns gegen den leichten Ost-Monsun von drei Windstärken auf die Reise. In der Bucht machte mich Eduard auf eine Sandbank aufmerksam. Dort waren vor drei Jahren die Einwohner eines ganzen Dorfes ertrunken. Der Mullah des Dorfes hatte eine Vision
, er sollte seine ganze Gemeinde nach Mekka führen. Alle Einwohner verkauften Haus und Hof und begaben sich zu Fuß auf die Reise. Am Wasser angekommen folgten sie blindlings ihrem Mullah, auf Allah vertrauend, in den Fluss, obwohl keiner von ihnen schwimmen konnte, so dass alle Männer, Frauen und Kinder von der Strömung mitgerissen wurden.
Nach zwei Stunden hatten wir die Mündung erreicht und konnten nun auf Westkurs mit achterlichem Wind gehen. Die Wellen, aus dem Indischen Ozean kommend, hatten eine Höhe von einem Meter, waren aber sehr lang gestreckt. Der Himmel war wolkenlos, tiefblau und die Wassertemperatur lag bei fünfundzwanzig Grad. Der Traum eines jeden Seglers! Wenn da nicht verdächtige Schatten in einigen Wellenkämmen zu sehen gewesen wären. Auf meine Frage bestätigte mir Eduard, dass es sich um Haie handelte. Da eine Jolle bei achterlichem Wind und achterlicher See sehr instabil ist, galt es, die nächsten vier Stunden sehr konzentriert zu segeln, um nicht zu kentern. Von weitem sahen wir schon die bunten Badehütten im Abstand von hundert Metern an dem menschenleeren Strand stehen. Mit Baden, Grillen und Ball spielen verbrachten wir den Nachmittag. Auf dem Standweg zog eine trommelnde, Flöte spielende, tanzende Gesellschaft vorbei, alle in Weiß gekleidet. In der Mitte trugen sie ein weißes Bettgestell mit einer in Weiß verhüllten Person darauf. Wir dachten an eine Hochzeit, aber Joseph erklärte uns, dass es eine Hindu-Beerdigung ist. Da die Hindus an die Wiedergeburt glauben, freuen sich alle, dass der Verstorbene jetzt von seinem schweren Erdendasein erlöst ist und in einer neuen, schöneren Wiedergeburt zurückkommt. Dann war da noch die Begegnung mit einem Vater, der mit seinen beiden wohl heiratsfähigen Töchtern am Strand spazieren ging. Er bat mich um ein Foto mit seinen Töchtern, ich sollte mich in die Mitte stellen und mal der einen, dann der anderen zugewandt meinen Bauch besonders herausstellen. Was ich doch gerne tat, endlich wurde mein Bauch mal gewürdigt.
Mit dem Ruf des Muezzin brachen wir nach dem etwa fünfhundert Kilometer nördlich von Karatschi gelegenen Sukkur auf. Vorbei an einem Fußballfeld großem Kleidermarkt. Joseph erzählte, dass wenn wir in Deutschland Hosen oder Schuhe gespendet haben, wir sie hier für ein paar Rupien wieder kaufen könnten. Mit der aufgehenden Sonne hatten wir auch schon bald die Nationalstraße Nr.5 erreicht. Die Straße Nr.5 lief einigermaßen parallel zum Indus und war vergleichbar mit unseren Bundesstraßen, nur etwas breiter. Außen fuhren in einer fast geschlossenen Kette die Busse und Lastkraftwagen, alles Siebeneinhalbtonner, dazwischen auch Kamel- oder Eselskarren. In der Mitte der Straße fuhren die privaten Personenwagen, jeweils natürlich nur in eine Richtung. Obwohl Joseph ein sicherer Fahrer war,, war ich doch froh, dass ich hinten bei den Frauen saß, denn bei Gegenverkehr musste Joseph sich mit dem Wagen zwischen die Lastwagen quetschen. Oder ein Lkw scherte plötzlich aus, ohne zu blinken, um einen Eselskarren zu überholen, und das auch noch bei dem für mich ungewohnten Linksverkehr sowie bei dem rasanten Tempo. Neben der Straße war in beiden Richtungen ein Sandstreifen auf dem in ununterbrochener Reihe Einheimische im Dauerlauf liefen, die eine Schlange nach Süden, die andere nach Norden. Etliche von ihnen hatten eine Blechschüssel von zirka sechzig Zentimetern Durchmesser auf dem Kopf. An einer Baustelle konnten wir dann sehen, wozu sie benutzt wurde. Es wurden damit Sand und kleine Steine auf dem Kopf zum Straßenbau transportiert. Aber auch zum Waschen oder Essen kochen dienten sie dem Besitzer. Ungefähr alle zwanzig Kilometer gab es eine Ansammlung von drei bis vier Hütten aus Lehm oder Holz. Hier wurden Getränke und einfache Reisgerichte verkauft. Einheimische Reisende konnten hier auch übernachten. Allerdings bestanden die Hotels
nur aus vier Wänden, Dach und einem Lehmboden auf dem geschlafen wurde. Zwischen der Straße und dem Indus verlief auch noch eine Eisenbahnstrecke von Karatschi über Sukkur nach Multan. Wenn die Eisenbahn die Straße querte und die Schranken geschlossenen waren, hielt Joseph schon weit vorher an, denn vor den geschlossenen Schranken gab es nun auf beiden Seiten ein unglaubliches Gewirr von Autos, Kamelkarren und Menschen über die ganze Breite der Straße. Nach dem Öffnen der Schranken dauerte es dann auch jedes Mal fünfzehn bis zwanzig Minuten, bis sich alle wieder auf ihrer Straßenseite eingeordnet hatten.
Von Süden kommend fuhren wir am späten Nachmittag über eine lange, steinerne Brücke über den Indus nach Sukkur. Neben der Brücke suhlte sich eine Herde schwarzer Wasserbüffel im Schlamm. Unser zweigeschossiges Hotel lag gleich in der Nähe des Flusses und von unseren Zimmern konnten wir auf die Hauptstraße sehen. Was spannender als jedes Fernsehprogramm war. Allerdings tauschten wir die Zimmer noch einmal mit Eduard und Fee, denn wir hatten ein Zimmer mit einer hier üblichen Toilette bekommen, das war einfach ein Loch im Boden, zwei Fliesen daneben für die Füße und zwei Haltegriffe. Das andere Zimmer war mit einer Toilette ausgestattet, wie wir sie gewohnt sind. Auch das Restaurant war zweigeteilt, eine Hälfte im landesüblichen Stil, die andere Hälfte mit Tischen und Stühlen, Messern und Gabeln. Als wir zum Essen gingen, saßen in ihrer Hälfte schon fünf wohlbeleibte ältere Herren im Schneidersitz auf zahlreichen Kissen um eine große Schüssel mit Reis und Hammelfleisch herum. Sie formten mit den Fingern in der Schüssel kleine Kugeln aus dem Reis und schoben sich diese dann in den Mund, um erneut mit den Fingern in der Schüssel herum zu rühren. All pigs
schimpfte Fee leise vor sich hin. Wir bekamen wunderbar gegrillte Steaks mit Bohnen und Süßkartoffeln. Wieder im Zimmer bot sich uns ein faszinierendes Schauspiel. Die Wasserbüffel, die wir am Fluss gesehen hatten, kamen nun zur Nacht über die Hauptstraße in die Stadt zurück. Ohne Anleitung bogen die einzelnen Büffel von der Straße ab und verschwanden in den einräumigen Lehmhäusern. Wenn der Büffel in seiner Ecke stand, wurde in dem Haus das Bettgestell herunter geklappt, auf dem die ganze Familie schlief. So diente der Büffel nachts als Heizung bei der gegenüber der Tagestemperatur doch empfindlichen Kälte. Wenn die Büffelherde vorübergezogen war, bedeckten ihre Ausscheidungen die ganze Straße, das störte aber niemanden, alle gingen unbekümmert barfuß oder mit ihren dünnen Plastiklatschen durch den Mist. Nun zogen die Händler mit ihren Essenwagen auf. Eine Feuerstelle war auf ein fahrbares Gestell montiert und jeder Wagen hatte etwas anderes zu bieten. Der eine Suppe, der nächste Reis mit Gemüse oder Fleisch. Hier aßen die Wanderarbeiter, Handwerker und kleinen Geschäftsleute. Da an jeder Karre eine Fackel oder eine Petroleumlampe angebracht war, ergab das für uns ein einmaliges Bild. Auch die Straße war danach wieder sauber!Die vielen Menschen hatten alles breitgetreten. Am nächste Morgen, Eduard war schon früh zu seinem Kunden gefahren, machte mich ein regelmäßiges Hämmern neugierig. In einer Nebenstraße fand ich dann die Ursache. In einer Tonne, die in die Erde eingegraben war, stand ein Mann, vor sich eine dicke Eisenplatte, auf der er mit Hammer und Meißel Streifen von einer verzinkten Blechplatte abtrennte. Die Platte wurde von zwei Helfern an ihm vorbei geschoben. Weitere Handwerker brachten an jeder Seite einen Falz an und dann wurden die Blechstreifen über einem Baumstamm zu Regenrinnen gebogen. Gearbeitet wurde vom Morgengebet, das vor Sonnenaufgang abgehalten wird, bis zum Abendgebet nach Sonnenuntergang, nur unterbrochen vom Mittagsgebet. Während des Ramadan (Fastenmonat) durfte zudem weder etwas gegessen oder getrunken werden. Unvorstellbar für einen Europäer! Während ich den Handwerkern zuschaute, zupfte mich jemand am Hemd. Ein kleiner Junge, etwa zehn Jahre, mit einer Haut wie Milchkaffee, vollem schwarzen Haar und großen braunen Augen sah mich erwartungsvoll an. Mit Gesten machte er mir klar, dass er gerne mal meine Hand berühren möchte. Natürlich nickte ich und ganz vorsichtig berührte er mit seinem Zeigefinger meine Hand. Er strahlte über das ganze Gesicht vor Erleichterung, dass ihn nun nicht der Schlag getroffen hatte. Denn ich war wohl den erste weiße Mann
den er sah und von denen hatte er sicher nichts gutes gehört. Dann zeigte er auf sich und sagte auf Englisch I am Malik
, ich antwortete: Fine, I am Bernd
. Überglücklich rannte er davon, sicher war er an dem Tag der glücklichste Junge von Sukkur.
Aber die Nebenstraßen hatten noch weiteres Faszinierendes zu bieten. Da war eine ganze Straße mit Schneidern. Auf Nähmaschinen, die bei uns schon im Museum stehen, fertigten sie in ihren halb offenen Geschäften alle Arten von Kleidung. Als Nächstes blieb ich vor den Drechslern stehen. Da wurden aus kleinen Baumstämmen Tisch- und Stuhlbeine gefertigt. Die Hölzer wurden zwischen zwei Spitzen gespannt, dann wurde der Holzstamm mit einer Art Flitzbogen mit der rechten Hand hin und her bewegt, mit der linken Hand wurde das Stecheisen geführt, das mit den Füßen gehalten wurde. Bei dem anschließenden Einfärben der Hölzer wurde genau so verfahren, bloß eben mit Farbe. Auch eine Straße mit Schreibern entdeckte ich, hier wurden Briefe oder amtliche Schreiben vorgelesen, erklärt und gegebenenfalls beantwortet. Alles mitten auf der Straße. Die Friseure betrieben ihr Geschäft ebenfalls am Straßenrand, da stand einfach ein Stuhl mitten im Gewühl der Straße und der Kunde wurde bedient. Um einen der Stühle stand eine größere Menschentraube, neugierig drängelte ich mich dazwischen, bis ich begriff, dass dort, im Staub der Straße, dem Kunden ein Zahn gezogen wurde. Außerdem fiel mir in Sukkur auf, dass es im Gegensatz zu Karatschi keine Bettler und keine verstümmelten Kinder gab. Nur ein wohl heiliger Mann war zu sehen, vor dem sich viele Einheimische verneigten und ihm etwas zusteckten, ich weiß aber nicht, welcher Religion er angehörte. Über meine spannenden Erlebnisse hatte ich total die Zeit vergessen. Im Hotel erfuhr ich dann, dass Petra und Fee sich auf eine Stadtrundfahrt begeben hatten. In ihre Saris gekleidet, die sie schon in Karatschi gekauft hatten, orderten sie eine zweirädrige Pferdedroschke. Bei ihrer Rundfahrt hatten sie dann großen Spaß. Der Kutscher saß auf der Pferdedeichsel und die Beiden auf der Bank mit dem Rücken zur Fahrtrichtung. Unter ihrem Sari guckten nur die Füße in Sandalen mit rot lackierten Fußnägeln heraus. Sofort hatte sich eine kleine Traube von Jungen gebildet, die hinter der Kutsche herliefen. Ganz mutige tippten ihre Füße auch schon mal mit den Fingern an. An einer Kreuzung, wo ein junger Polizist den Verkehr regelte, brach das Chaos aus. Er war sich wohl nicht mehr sicher, wer nun Vorfahrt hatte, die weißen Ladies oder die Eselskarren.
Auf der Rückfahrt zeigte Joseph uns dann noch etwas Besonderes aus der Geschichte Indiens. Nachdem wir die Nationalstraße verlassen hatten, zog sich ein etwa fünf Kilometer breiter Grünstreifen entlang des Indus hin, wo Gemüse angebaut wurde. und durch den sich noch von den Engländern angelegte Bewässerungsgräben zogen. Dann fuhren wir in die Wüste. Etwa zwanzig Kilometer weiter erreichten wir die Überbleibsel einer riesigen Festung. Hier residierte einst ein indischer Mogul, es waren hier zehntausend Pferde mit ihren Reitern stationiert und tausend Kampfelefanten mit ihren Mahuts. Uns beeindruckte dann auch besonders das gut erhaltene Eingangstor, das mit kräftigen, spitzen Eisenstangen bestückt war, um feindliche Elefanten abzuwehren. Gut erhalten waren auch noch die zahlreichen Bäder, Frauengemächer, Festsäle und Küchen, nur die Brunnen waren versiegt. Am vorletzten Abend unserer Abreise durften wir mit zu einer Gartenparty eines englischen Bankers. Sein Haus im Stil eines kleinen englischen Schlosses stand in einem parkähnlichen Garten. Hinter dem Haus waren zwei Tennisplätze, auf denen Tische, Stühle, Grills und Wannen mit Stangeneis zum Kühlen für die alkoholfreien Getränke für die zirka zweihundert Gäste bereitgestellt waren. Auch Flaschen mit alkoholischen Getränken standen auf den Tischen. Die einheimischen Diener schenkten nur die alkoholfreien Getränke ein, den Alkohol musste man sich selbst dazu gießen.
Vor der Abreise ging ich mit Petra, Fee und Joseph noch einmal in den Bazar zum Einkaufen. Petra bekam einen Pelzmantel, wir beide dazu passende Pelzmützen, und Joseph handelte für uns einen sehr günstigen Preis aus. Nach dieser sehr erlebnisreichen Reise sollte es von Karatschi mit dem Flugzeug direkt nach Frankfurt gehen, aber unser Abenteuer war noch nicht zu Ende. Kurz bevor wir den afrikanischen Kontinent erreichten, fiel ein Triebwerk aus, sodass wir in Kuweit notlanden mussten. Die Passagiere wurden schließlich nach langen Verhandlungen, es hatte ja keiner ein Visum für Kuweit, in ein Hotel gebracht, da ein Ersatzflugzeug frühestens am nächsten Tag bereitgestellt werden konnte. Petra und ich sowie noch ein paar andere Lufthansamitarbeiter, die ja für zehn Prozent des Flugpreises reisten, kamen natürlich nicht in den Genuss einer Hotelübernachtung. Nur zwei junge Kollegen hörten nicht auf uns und schlossen sich den Passagieren an. Am nächsten Tag beim Weiterflug hörte ich dann, wie die beiden von dem Hotel schwärmten, Tausendundeine Nacht
hätten sie erlebt. Bis die Stewardess kam und ihnen erklärte, dass ihnen 382.-- Dollar vom nächsten Gehalt für die Übernachtung abgezogen wird. Wir hatten die Nacht sehr viel ungemütlicher verbracht. In dem palastähnlichen, voll klimatisierten Flughafengebäude, alles in Marmor mit einer wunderhübschen Moschee innerhalb des Gebäudes, mussten wir die Nacht auf dem kalten Fußboden verbringen. Zum Glück hatten uns die örtlichen Mechaniker noch ein Paar Wolldecken gebracht und Petra war froh, dass sie ihren Pelzmantel anhatte. Auch den Restaurantbesuch verkniffen wir uns nach dem Lesen der Speisekarte. Ich holte von einem Imbissstand das teuerste Hähnchen meines Lebens. Zweiundzwanzig Dollar musste ich für ein halbes Hähnchen mit Pommes bezahlen! Der letzte aufregende Moment dieser Reise kam dann noch in Frankfurt bei der Zollkontrolle. Ob wir wohl Petras Pelzmantel versteuern mussten? Nein, es war ja Anfang Februar mit Eis und Schnee in Deutschland, sodass Petra nicht die Einzige im Pelzmantel war.