Tränen zu Weihnachten
Nachdem wir, meine Eltern, mein kleiner Bruder und ich, in Wandsbek in der Lengerckestraße ausgebombt waren, wohnten wir in Bahrenfeld in einer alten Villa. Das zweigeschossige Haus stand direkt an der S-Bahn-Brücke am Bahrenfelder Kirchenweg. Im oberen Stockwerk wohnten die Besitzer, ein altes Ehepaar. Vom alten Herrn kannte ich nur die Stimme, wenn er mal wieder Ruhe
durch das Treppenhaus grölte. Die Dame
des Hauses bekamen wir Kinder ab und an mal zu sehen, wenn sie aus dem Fenster pöbelte, weil wir im Garten Löcher buddelten. Eine Sandkiste durften unsere Eltern dort nicht bauen. Im unteren Stockwerk führte ein Flur von der Eingangstür zu einer Diele, von der die Zimmer abgingen. Wir hatten hier eine Küche mit einem anschließenden Zimmer, unsere gute Stube. Als Heizung diente nur der kleine Kohleofen in der Küche. Das Schlafzimmer war auf der anderen Seite des Hauses, gleich neben der Eingangstür und damit direkt neben der S-Bahn-Brücke, über die alle zwanzig Minuten eine S-Bahn donnerte und nachts eine endlose Kette von Güterzügen. Das Zimmer konnte nicht beheizt werden, sodass wir zur Weihnachtszeit schöne Eisblumen auf den Fensterscheiben hatten.
Die Familie auf der anderen Seite der Diele hatte drei zusammenhängende Zimmer. Hier wohnten sie mit drei Kindern und der Oma. In ihrem Wohnzimmer gab es einen wunderschönen, bis an die Decke reichenden Kachelofen. Da mein Vater nach dem sehr kalten Winter 1947 für einen vollen Kohlenkeller gesorgt hatte, von dem das ganze Haus heizte, öffneten sie abends ihre Tür zur Diele, damit wir fünf Kinder es hier beim Spielen in der dunklen Jahreszeit auch warm hatten. Dann war da noch auf der linken Seite ein Zimmer in dem ein Frollein
wohnte. Das Fräulein mochten wir nicht besonders, aber ihren Freund! Das war ein englischer Offizier, der sie zwei bis drei Mal die Woche besuchte. Dann alberte er mit uns in der Diele herum, bis alle Kinder da waren. Dann zog er eine große Tafel Schokolade aus der Tasche und verteilte sie gerecht, sodass auch die Kleinsten ihren Anteil erhielten.
Nun war der vierundzwanzigste Dezember herangekommen. Wir Kinder wurden wie üblich auf die Straße geschickt. Mutter werkelte mit rotem Kopf in der Küche, es roch nach Kuchen und Braten. Leider war es nur ein falscher Hase
aus Hack, denn die richtigen Kaninchen, die wir das ganze Jahr gefüttert hatten, wurden uns eine Woche vorher aus dem Käfig gestohlen. Es wurde schon langsam dunkel, als mein Vater von der Arbeit nach Hause kam. Er verschwand auch gleich in der guten Stube und schloss die Tür zu. Mein Bruder und ich setzten uns in die Küche davor. Meine Mutter erzählte was von dem Weihnachtsmann helfen
, mein kleiner Bruder glaubte das wohl auch, aber ich ging ja schon zur Schule und wusste das natürlich besser. Aus der Stube kamen komische Geräusche, sollte es den Weihnachtsmann vielleicht doch geben? Endlich war es soweit. Es polterte in der Stube und dann wurde endlich die Tür geöffnet. Leider war der Weihnachtsmann gerade durch das Fenster weiter gezogen, er hatte ja auch noch so viele andere Kinder zu besuchen.
Auf der rechten Seite der Stube stand ein Tannenbaum mit viel Lametta, bunten Kugeln, Schokoladenkringeln und Papierengeln. Auf dem Wohnzimmertisch war eine dem Blankeneser Elbufer nachempfundene Landschaft aufgebaut. Kleine Holzhäuschen waren auf dem Hang drapiert. Die Elbe war mit blauem Buntpapier ausgelegt, mit Bojen und Leuchttürmen bestückt. Ein Dutzend verschiedener Schiffe schwammen hier. Mit meinem Vater begann sofort eine lebhafte Diskussion, welches Schiff Vorfahrt hatte und warum. War es der Tanker mit explosiver Ladung oder das Binnenschiff, das von Steuerbord kam?
Meine Mutter lenkte unsere Aufmerksamkeit dann auf die bunten Teller, die ja auch noch für uns Kinder bereit standen. Sie waren mit selbstgebackenen Keksen, Äpfeln, braunen Bonbons, die auch selbstgemacht waren, und Haselnüssen gefüllt. Auf meinem Teller war unter den ganzen Köstlichkeiten dann noch ein Buch versteckt. Sigismund Rüstig
Der Neue Robinson
oder Schiffbruch der Pacific
. Eine Erzählung für die Jugend. Aus dem Englischen des Kapitän Marryat, bearbeitet von Franz Hoffmann. Schmidt & Spring Stuttgart 1848, Zweite aufs Neue durchgesehene AuflageSiehe Wikipedia.org stand auf dem bunten Umschlag, der ein gestrandetes Segelschiff zeigte. Mein erstes richtiges Buch. Interessiert verzog ich mich in eine Ecke und fing an zu lesen. Von Seite zu Seite wurde es spannender, ich vergaß alles um mich herum, bis meine Mutter mir das Buch aus der Hand nahm, damit ich endlich zum Essen kam.
Danach zog ich mich noch mehr zurück, damit mich ja keiner störte. Es war so spannend, wie eine Familie nach der Strandung ihres Segelschiffs durch die Hilfe eines alten Schiffszimmermanns auf eine kleine Insel gerettet wurde. Er zeigte ihnen, wie man dort überleben konnte. Im Mittelpunkt des Romans stand der Junge der Familie, dem der alte Sigismund Rüstig alles zum Überleben beibrachte. Er baute mit ihm ein Haus, sie gingen zusammen auf die Jagd und erkundeten zusammen die Insel. Mit jeder Seite des Buches identifizierte ich mich mehr mit der Rolle des Jungen. Vergeblich versuchte meine Mutter, mich ins Bett zu scheuchen. Es muss wohl schon gegen Morgen gewesen sein, als ich langsam zum Ende der Geschichte kam. Die Familie in dem Buch wurde schon tagelang von wilden Einheimischen belagert und war vor dem Verdursten. Da wagte sich der alte Sigismund hinter den Palisaden hervor, um mit einem Krug Wasser für die Kinder von der Quelle zu holen. Dabei wurde er von einem vergifteten Pfeil getroffen, schleppte sich aber noch mit dem Wasserkrug hinter die Palisaden. Die Familie wurde dann kurze Zeit später durch das Eintreffen einer englischen Fregatte gerettet, aber Sigismund starb in den Armen meines Helden.
Das hat mich so erschüttert, dass ich in einen regelrechten Weinkrampf verfiel. Meine Eltern konnten mich nicht beruhigen. Alle anderen Geschenke waren vergessen, nur der gute SigismundEs ist kein Wunder, dass der kleine Bernd, der sich mit dem Protagonisten identifizierte, einen Weinkrampf kriegte. Der Protagonist war nämlich Schuld am Tod von Sigismund. Es verhielt sich nämlich so:
Der kleine Junge hatte die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass der Wasserbehälter innerhalb der Palisaden immer voll war, damit im Falle eines Angriffs genug Trinkwasser vorhanden war. Das hatte er aber versäumt, und so musste der alte Robinson dieses Risiko eingehen, was er schließlich mit dem Leben bezahlte.Anmerkung der Redaktion (MM) schwirrte durch meinen Kopf.