Kindheit und Jugend in Weimarer Republik und NS-Diktatur
Kapitel 6
Bewegte Studienzeit
Abitur bestanden! Was nun?
Ich wollte Pädagogik studieren und Lehrer werden und meldete mich bei der Schulbehörde an. Ich bekam umgehend eine Absage: Sie haben keine Aussicht, zur ersten Lehramtsprüfung zugelassen zu werden
. Das bedeutete keine Zulassung zur Universität. Als ich dann telefonisch anfragte warum nicht, brüllte mich mein Gegenüber an und sagte, was mir einfiele, überhaupt noch zurückzufragen?! Mir fiel nichts mehr ein! Ich legte den Hörer auf. Ich war offenbar als Erzieher deutscher Jugend nicht genehm. Diese Periode war abgeschlossen. Aber was nun?
Ich muss im Blick auf meinen Lebensweg der Schulbehörde für die Berufsblockade dankbar sein. Mit dem Abitur, dessen Datum ich keine Minute meines Lebens vergessen habe, waren die unfruchtbaren Schuljahre abgeschlossen.
Nach der Abfuhr bei der Schulbehörde ging ich zu meinem Freund Walter Kersten, EC-ler, Vikar in der Eilbeker Gemeinde bei Pastor Hahn. Ich erzählte ihm, was geschehen war. Er strahlte und sagte: Das ist ja ausgezeichnet, dann wirst du Theologe!
Ich antwortete: Du bist verrückt! Drei alte Sprach-Examen nachholen!
Hab' ich doch auch gemacht
, sagte er, melde dich bei der Theologischen Schule in Bethel an!
Sehr gerne bin ich am 1. April 1936 zur Theologischen Hochschule (damals noch Theologische Schule
) in Bethel bei Bielefeld gegangen. Ich begann dort zu arbeiten wie nie zuvor. Die Faulheit aus der Schule kehrte nicht wieder. Der Fleiß, der mich jetzt beflügelte, war echt. Bereits am 26. Juni 1936 bestand ich das Hebraicum an der Universität in Münster und machte eine Fleißprüfung in Kirchengeschichte.
Ich war froh, dass das arbeitsreiche Semester vorbei war, aber die vier Monate Semesterferien waren nicht weniger arbeitsreich. Ich übernahm die Führung von Dr. Göbel, einem blinden Dozenten in Bethel. Er gab mir dafür Lateinunterricht. Das war ein billiger Tausch, denn ich kam verhältnismäßig schlecht weg. Dann arbeitete ich einen Monat lang in einer diakonischen Anstalt in Bielefeld als Jugendleiter. Die Jugendarbeit hatte ihren Höhepunkt in einem evangelischen Jugendlager in Dassel. — Lebenserfahrung gewann ich als diakonischer Mitarbeiter im Altersheim. Außer dem Leiter waren die Mitarbeiter nicht normal: ein drogenabhängiger ehemaliger Arzt und ein Kleptomane.
Und schließlich, im letzten Monat der Ferien, also im Oktober 1936, ging ich mit Ernst-August Zubeil nach Marburg. Einen Monat lang paukten wir bei einem Einpauker täglich acht bis zehn Stunden Latein und bestanden am 29. Oktober das Große Latinum. Am 1. November ging es weiter mit Griechisch. Nach einem Monat mahnte mich der Lehrer, dass ich nicht genügend mitmache. Dabei strengte ich mich an, so gut ich konnte.
Zu Weihnachten fuhr ich per Anhalter mit einem Laster nach Hamburg. Dort legte ich mich hin und war krank. Tuberkulose. Eine Krankheit, die mich vom Dezember 1936 bis zu meinem letzten Sanatoriumsaufenthalt 1944 begleitete.
Meine christlichen Eltern und der EC hatten mich auf den Weg gebracht. Wie würde dieser Weg weiter gehen? Zunächst kam ich zur Kur nach Bad SülzhaynSülzhayn liegt an der Sülze, einem Zufluss der Zorge, unterhalb des Dreiländerecks zwischen Thüringen, Sachsen-Anhalt und Niedersachsen am Südhang des Harzes. im Südharz. Dort legte mir Dr. Heinichen eine Thoraxdrainage an. Es folgte (zu Hause) die Zeit der Liegekur unter der Fürsorge meiner Schwester Grete. Danach mehrfache Aufenthalte im Sanatorium.
Eines Tages besuchte mich angstbestimmten Kranken Heinz Harten. Ich sagte im Gespräch zu ihm, dass ich bereit wäre zu sterben. Seine Reaktion war seelsorgerlich vorbildlich: Du denkst wohl, du seist besonders fromm, wenn du das sagst. Du sollst aber bereit sein zum Leben und zum Sterben.
Einige Tage später fand ich Psalm 118, 17: Ich werde nicht sterben sondern leben und des Herrn Werke verkündigen.
Ich war getröstet und gestärkt.
Aufgrund der Tuberkulose passierte etwas ganz Besonderes: Ich wurde nicht eingezogen. So konnte ich, nachdem die Krankheit weit genug zurückgegangen war, weiter studieren.
Aber vorher musste ich noch in den sogenannten Studentischen Ausgleichsdienst
. Er war für Studenten angeordnet worden, die aus gesundheitlichen Gründen beim Reichsarbeitsdienst ausgemustert worden waren. Mit zwei anderen Kommilitonen landete ich in Kerpen bei Köln im Rheinland. Dort mussten wir die Kirchenbücher verkarten
, also alle Eintragungen für ein sogenanntes Dorfsippenbuch
auf Karteikarten umsetzen. Ein halbes Jahr lang haben wir das mitmachen müssen. In dieser Zeit wurden wir einmal zusammengerufen und sollten vereidigt werden. Aber die Vereidigung blieb aus. Ich glaube, ich bin der Einzige meines Jahrgangs, der durch das enge Netz eidlicher Bindungen an Hitler hindurchgeschlüpft ist.
Ich war noch in Bethel, als 1938 eine Volksabstimmung anstand, in der zwei Aussagen auf dem Wahlzettel miteinander verbunden waren: Seid ihr für den Anschluss Österreichs an Deutschland und für die Politik Hitlers?
Die Verneinung lag bei den Theologiestudenten auf der Hand. Jedenfalls hatten mehrere das schöne alte Zitat aus dem Propheten Jesaja 43, 24 auf den Wahlzettel geschrieben: Ihr seid aus Nichts, und euer Tun ist auch aus Nichts, und euch wählen ist ein Gräuel.
Es ist die Zeit, in der mein Kommilitone Helmut Plate aus Gelsenkirchen aus der SS austrat, in die er im Überschwank seiner Gefühle zwei Jahre vorher eingetreten war.
Zu Beginn meines Studiums 1936 war ich in die Deutsche Christliche Studenten-Vereinigung (DCSV) eingetreten, die im vorigen Jahrhundert in Amerika gegründet worden war. Die DCSV wurde 1938 verboten, aber es wurde erlaubt, die Studentengemeinde als Gemeinde der Kirche zu gründen. In der Studentengemeinde, der einzigen Organisation an der Universität, die 1945 noch bestand, sammelten sich vor allem Studenten der verbotenen DCSV und der Bekennenden Kirche. Die letzten Generalsekretäre der DCSV, Eberhard Müller (später Akademie Bad Boll) und Hanns Lilje (später Bischof in Hannover), hatten ihre Arbeit 1936 abgegeben an Pastor Horst Bannach (später Gründer des Radius-Verlages) und Pastor Martin Fischer (später Professor für praktische Theologie, Berlin). Ich arbeitete intensiv mit. Auf meinem Schreibtisch stand das Bild von Martin Niemöller, eine Postkarte. Darunter ein Zitat von ihm: Wir sind nicht gefragt, was wir uns zutrauen, sondern was wir dem Worte Gottes zutrauen.
Es war ein Leitmotiv für mich viele Jahre durch.
Ich war von Anfang an Mitglied der Bekennenden Kirche und kämpfte gegen die sogenannte Hauer-BewegungDie Deutsche Glaubensbewegung war in der Zeit des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 eine religiöse, von völkischem Gedankengut geprägte Bewegung, welche das Christentum ablehnte und durch einen arisch-nordischen
Glauben ersetzen wollte.[1], Rosenbergs Mythus
und die Deutschen Christen, soweit es da was zum Kämpfen gab. Zum Beispiel in Großkundgebungen dieser Größen in unseren Kirchen selbst.
Meine Heimat war die Bekennende Kirche und die Studentengemeinde. Das Studium, das ich zunächst in Rostock (Wintersemester 1938/39) und dann in Erlangen fortsetzte, gab mir viel Gelegenheit zum Studium selbst. Ich machte mein Graecum und mehrere Fleißprüfungen und konnte nun sprachfrei
die theologischen Studien fortsetzen.
Vor dem Ausbruch des Krieges wurde ich zu einem Gemeindepraktikum bei Pastor Parels, dem Bruder des Justitiars der Bekennenden Kirche, in Rehfelde an der Ostbahn bei Berlin entsandt. Inzwischen war die Trimestereinteilung eingeführt worden. Ich setzte meine Studien in Berlin an der verbotenen Kirchlichen Hochschule fort. Bewährte Männer waren meine Lehrer, wie beispielsweise Hans Asmussen, der 1932 als Propst in Altona nach dem BlutsonntagAls Altonaer Blutsonntag wird der 17. Juli 1932 bezeichnet, an dem es bei einem Werbemarsch der SA durch die damals zur preußischen Provinz Schleswig-Holstein gehörende Großstadt Altona/Elbe zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam, bei denen 18 Personen erschossen wurden.[2] die sogenannte Altonaer Erklärung
verfasst hatte, und Günther Dehn, der bereits 1931 als christlicher Pazifist seinen Lehrstuhl in Halle unter dem Druck der SA verloren hatte. Wir trafen uns in Privatwohnungen und studierten in kleinen Gruppen. Unsere Lehrer waren fast alle schon einmal verhaftet gewesen. Meine Kenntnisse über die politischen Verhältnisse konnte ich damals im Hause von Generaloberst von Hammerstein vertiefen, zu dem ich zu einem Freitisch
einmal wöchentlich durch Fürsprache von Professor Gollwitzer vermittelt worden war.
Die Landeskirche hatte inzwischen mein Stipendium gestrichen, weil ich TBC hatte. Aber da war zum Beispiel der freundliche Professor Friedrich Büchsel in Rostock, der mir eines Tages, von hinten kommend, auf die Schulter klopfte und sagte: Können Sie wohl ein Stipendium gebrauchen?
. Wegen der wenigen Theologiestudenten, die es noch gab, war der große Fonds an Stiftungen für Stipendiaten nicht abgebaut worden. Und er gab mir in dem Semester 200 Mark. Das ist für mich unvergesslich, denn ich musste sonst mein Studium fast allein finanzieren.

Im März 1941 legte ich das 1. theologische Examen vor den Hamburger Hauptpastoren ab. Danach berief mich Martin Fischer zum Reichs-Obmann
der Evangelischen Studentengemeinden in Deutschland und holte mich nach Berlin. Offiziell wurde ich für ein Jahr beurlaubt und der Berliner Mission zugeordnet. Missionsinspektor Pastor Braun am Georgenkirchplatz war mein Mentor und nahm meinen Dienst gelegentlich bei Missionsgottesdiensten in der Mark Brandenburg in Anspruch. Von Berlin aus sammelten wir die Restbestände christlicher Studenten an den Universitäten und hatten an jeder Universität Vertrauensprofessoren und Vertrauensstudenten, sodass die evangelischen Studentengemeinden unter dieser Obhut wachsen konnten. Aber mein eigentlicher Auftrag bestand im Reisedienst, durch den das Bewusstsein des gemeinsamen Weges gestärkt wurde. Zwei- bis dreimal im Jahr kamen die Vertrauensstudenten zusammen, um organisatorische Fragen zu besprechen, die Bibel zu lesen, den Austausch über kirchen- und universitätspolitische Angelegenheiten zu pflegen.
Im April 1942 wurde ich Lehrvikar in der Gemeinde in Hamburg-Hamm, und im März 1943 legte ich das 2. theologische Examen ab. Danach heiratete ich am 3. Juni und wurde am 13. Juni durch Hauptpastor Herntrich in der Hamburger Katharinenkirche ordiniert. — Ich zog mit meiner Frau in das Hauptpastorat ein. Zwei Wochen später verbrannten die Kirche und das Pfarrhaus im Feuersturm. Nach der Ausbombung hatten wir das Gefühl von Freiheit und von Solidarität.
Der Krieg hatte mich bis dahin verschont. Im Gegensatz zu vielen anderen hatte ich mein bürgerliches Leben ungehindert weiterleben können. Ich konnte studieren, Examen machen und mit dem kirchlichen Dienst als Pastor beginnen.
[1] Hauer-Bewegung: Die Deutsche Glaubensbewegung war in der Zeit des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 eine religiöse, von völkischem Gedankengut geprägte Bewegung, welche das Christentum ablehnte und durch einen arisch-nordischen
Glauben ersetzen wollte.
Als Altonaer Blutsonntag wird der 17. Juli 1932 bezeichnet, an dem es bei einem Werbemarsch der SA durch die damals zur preußischen Provinz Schleswig-Holstein gehörende Großstadt Altona/Elbe (1938 durch das Groß-Hamburg-Gesetz nach Hamburg eingemeindet) zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam, bei denen 18 Personen erschossen wurden. Dieser Vorfall wurde von der Reichsregierung unter Franz von Papen als Anlass benutzt, um die noch amtierende preußische Regierung im Preußenschlag
am 20. Juli 1932 abzusetzen.
Am 16. Juni 1932 hob die Regierung Papen das im April 1932 von Heinrich Brüning erlassene SS- und SA-Verbot wieder auf, um sich den Nationalsozialisten für die Tolerierung seines Minderheitskabinetts erkenntlich zu zeigen. Damit waren erhebliche Auseinandersetzungen im Wahlkampf für die Reichstagswahlen am 31. Juli in Deutschland zu erwarten. Innerhalb eines Monats gab es in Deutschland 99 Tote und 1125 Verletzte bei Auseinandersetzungen vorwiegend zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten. Auch in Schleswig-Holstein, zu dem Altona gehörte, hatte es Zusammenstöße gegeben. So waren in den ersten Julitagen zwei Sozialdemokraten und zwei Kommunisten von den Nationalsozialisten getötet worden. Für den 17. Juli wurde vom Altonaer Polizeipräsidenten Otto Eggerstedt ein großer Demonstrationszug von 7.000 aus ganz Schleswig-Holstein zusammengezogenen uniformierten SA-Leuten durch die verwinkelte Altonaer Altstadt genehmigt, die wegen ihrer mehrheitlich kommunistisch oder sozialdemokratisch wählenden Arbeiterschaft als rotes Altona
galt und unter der lokalen Bezeichnung Klein-Moskau
bekannt war. Die Kommunisten sahen diesen Aufmarsch durch die Arbeiterwohngebiete als eine Provokation an. Trotz dieser bedrohlichen Lage waren Eggerstedt und sein Stellvertreter am Tag der Demonstration nicht in Altona. Ihr Vorgesetzter, der Schleswiger Regierungspräsident, war auch nicht durch einen höheren Polizeibeamten vor Ort vertreten.
Quelle: Wikipedia.de