Sonntagsbesuch von Oma und Opa
Ende der 1950er Jahre war die Zeit des Wiederaufbaus in den alten Bundesländern und des sogenannten Wirtschaftswunders. Zu der Zeit hatte nicht jeder ein eigenes Auto. Im Mietshaus, in dem meine Eltern, mein kleiner Bruder und ich wohnten, gab es 16 Mietparteien, davon hatten drei Familien ein Auto. Zwei hatten einen VW-Käfer und eine Familie einen alten DKW. Die anderen fuhren mit Straßenbahn, Bus oder U- und S-Bahn oder mit der Taxe durch Hamburg. Das Mietshaus stand in der Mozartstraße in Hamburg-Barmbek. Barmbek-Süd sagt man heute, denn es gibt ja noch Barmbek-Nord.
Nun aber zu Oma und Opa. Oma meldete sich per Telefon aus einer öffentlichen Telefonzelle bei meinem Vater im Geschäft an. Er war angestellt in einer Schneiderei in Fuhlsbüttel. Einen eigenen Telefonanschluss hatten meine Eltern in der Mozartstraße erst ab 1969. Meistens wurde eine Verabredung auf Sonntagmittag gelegt. Mein Vater erzählte es meiner Mutter, denn die musste ja für den Sonntag alles vorbereiten, ohne Kühlschrank oder Kühltruhe. Dafür hatte man eine kleine Speisekammer mit einem winzigen Fenster und der frischen Luft aus dem Hinterhof. Die Größe des Fensters war etwa 30 mal 20 Zentimeter. Wer hat heute noch eine Speisekammer? Fast keiner.
So ging Mutti am Samstag mit mir zum Einkaufen. Erst einmal ging es zum Schlachter. Der war an der nächsten Straßenecke in der Humboldtstraße und wohnte mit der Familie über dem Laden. Der Laden hatte eine runde Ecke am Eingang und viele Schaufensterscheiben zur Straße. Seine Angebote für Wurst und Fleisch malte er mit weißer Plakatfarbe an die Schaufensterscheiben. Links im Laden hatte der Chef seinen Arbeitsplatz, ganz rechts hatte der Altgeselle Alfred seinen Platz. Viele kauften aber lieber beim Chef, auch meine Mutter, sie kaufte einen Schweine-Schulterbraten. In der Mitte war die Wurstabteilung und die Kasse. Dort gab es für uns Kinder immer ein Stück Wiener Würstchen. Natürlich kaufte meine Mutter Wurst im Aufschnitt. Im Laden roch es nach geräucherten Wurstwaren, die an Haken an der Wand hingen. Es handelte sich hierbei um Schinken, Mettwürste, Schweinebacken und durchwachsenen Speck.
Jetzt brauchte meine Mutter noch was vom Gemüseladen, ein paar Geschäfte weiter. Die vor dem Eingang liegenden leeren Obst- und Gemüsekisten durfte man mitnehmen. Die waren immer gut als Anmachholz für die Kohleöfen in der Wohnung. Man musste aber schnell sein, sonst hatte ein anderer sie schon mitgenommen. Zu der Zeit gab es noch viele Wohnungen, die mit Kohlen beheizt wurden. Die Kisten brachte ich schnell in unseren Kohlenkeller. In der Zwischenzeit war meine Mutter schon im Feinkostladen von Alfred Müssigbrot. Der Laden war gegenüber unseres Mietshauses. Dort kaufte sie die Backzutaten für ihren Käsekuchen für Sonntag. Zwei Dosen Thunfisch brauchte sie auch, als Vorrat. Zum Schluss kaufte sie vier Flaschen Bier. Ganze 20er, 24er, oder 30er Kisten kaufte man zu der Zeit nicht. Meine Mutter bezahlte die Ware und packte sie in ihre große Einkaufstasche. Eine Kundin nebenan im Laden sagte ganz leise zur Chefin: Bitte in das Buch eintragen
. Man sagt auch anschreiben dazu. Natürlich half ich meiner Mutter beim Tragen. Mit all den Sachen stiegen wir die 60 Stufen in den dritten Stock. Vieles kam in die Speisekammer, mit Frischluft vom Hinterhof. Mutti holte die leere Milchkanne aus ihrer Ablagefläche. Jetzt hatte ich einen Arbeitseinsatz, mit Milchkanne und einer kleinen Einkaufstasche. Hier kam dann der Schichtkäse rein. Natürlich hatte sie mir auch Geld zum Bezahlen mitgegeben. Der Milchladen war um die Ecke in der Herderstraße im Souterrain. Die Milch wurde lose von einer Zapfanlage in die Milchkanne gefüllt. Den Schichtkäse hatte ich auch schon in der Tasche. Frau Dreier und ihr Mann hatten immer einen Spruch auf Lager. Auf dem Rückweg zum Mietshaus probierte ich einen kleinen Schluck frische Milch, die wie immer lecker schmeckte. Dann ging ich noch in das Kaffeegeschäft Java
in der Herderstraße, Ecke Humboldtstraße. Dort kaufte ich ein viertel Pfund Bohnenkaffee lose und ungemahlen. 500 Gramm Kaffee wurde zu der Zeit wenig gekauft.
Jetzt ging meine Mutter noch mit mir in den Keller zum Kohlen holen. Es handelte sich um Briketts und Steinkohlen. Die Eimer waren immer schwer in den dritten Stock zu tragen. Natürlich freuten sich meine Muskeln. In der Zwischenzeit machte Mutti einige Holzkisten klein zum Anmachen der Öfen. Hierbei handelte es sich um Tomatenkisten, Weintraubenkisten, Pfirsichkisten, Apfelkisten aus Italien und andere Holzkisten. Damit war alles für den Sonntag vorbereitet. Mein Vater konnte leider nicht helfen, da er Samstag ja Geld verdienen musste und er kam immer spät nach Hause.
Den Sonntagvormittag konnte ich kaum abwarten. Oma und Opa fuhren gegen 10 Uhr von der Holstenstraße in Altona los. So waren sie mit der Straßenbahn Linie 15 kurz vor 11 Uhr an der Haltestelle Winterhuder Weg, Ecke Schenkendorfstraße. Auf der Linie wurden Triebwagen mit Schiebetüren eingesetzt. Der Schaffner fertigte hinten die Barzahler ab und gab dem Fahrer ein Klingelzeichen zur Abfahrt. Wir gingen zur Haltestelle und holten sie ab. Ja, jetzt waren die beiden da. Alle freuten sich über das Wiedersehen. Oma nahm mich beim Überqueren der Herderstraße an die Hand. Natürlich war dort nicht so viel Verkehr wie heute auf der Bundesstraße 5. Ich glaube die Straße war damals noch nicht so breit ausgebaut, wie heute.
In der Wohnung angekommen, machten mein Vater und Opa erst einmal Frühschoppen. Denn Mutti hatte ja Flaschenbier am Vortage eingekauft. In der Küche roch es schon nach Schulterbraten, selbst gemachten Kartoffelklößen und Kohl. Das Rezept der Kartoffelklöße hatten meine Oma und Opa aus ihrer alten Heimat, dem Sudetenland mitgebracht. Der Kartoffelteig wurde durch eine Kartoffelpresse gedrückt. Zum Nachtisch gab es selbstgekochten Vanillepudding mit eingeweckten Pflaumen. Die Weckgläser hatten einen Inhalt von einem Liter.
Als alles aufgegessen war, kam der Abwasch an die Reihe. Den Küchentisch konnte man ausziehen, dann kamen zwei Emailleschüsseln, weiß mit blauem Rand, zum Vorschein. In diesen beiden Schüsseln wurde der Abwasch gereinigt und gespült. Als die Küche dann glänzte, versammelten sich alle im Wohnzimmer. Mein Vater holte Spielkarten aus dem Schrank und spielte mit Opa Karten. Es war ein Kartenspiel, das man im Sudetenland spielte. Für den Rest der Familie gab es dann Mensch ärgere dich nicht
. Da kam dann immer Freude auf, auch ohne Fernseher, den es zu der Zeit noch nicht gab.
Zur Kaffeezeit holte meine Mutter eine Schale aus dem Schrank. Mit der Schale sollte ich ein viertel Pfund Schlagsahne holen. So ungefähr 250 Meter von der Wohnung entfernt war die tolle Konditorei Bartsch. Die leere Schale wurde abgewogen und dann wurde sie mit Schlagsahne befüllt. In der Konditorei saßen rechts vom Eingang immer Herrschaften bei Kaffee und Kuchen. Ich befand mich ja auf der feinen Ecke, auf der Uhlenhorst. War die Konditorei einmal geschlossen, so gab es in der Herderstraße noch einen Eisladen, Riha-Eis
. Hier bekam man auch lose Sahne in die Schale gefüllt.
Es kam auch vor, dass unangemeldeter Besuch vorbeischaute. Der Kuchen reichte auch dann noch für alle. Mein Opa freute sich umso mehr, wenn es sein Freund Hermann mit Familie war. Oft dauerte das Kartenspiel länger als gewohnt. Dann stand Mutti vor der Herausforderung Vorbereitung für das Abendbrot zu treffen, was nicht in so einem großen Umfang eingeplant war. Aber alle Hochachtung, sie hat es immer geschafft. Sie kochte Eier, zerkleinerte sie, schnitt Gewürzgurken klein und machte eine oder zwei Dosen Thunfisch auf. Das kam alles in eine große Schüssel und wurde vermengt. Fertig war das Abendbrot für alle. Brot hatte Mutti immer reichlich im Hause. Bier und Silvetta-Brause, die mit dem Esel, gabs reichlich auch für uns Kinder. Es war immer ein geselliger Sonntag mit allen, wie auch das Bild auf dem Balkon Mozartstraße 12 im dritten Stock zeigt. Nach dem Abendessen machte sich der Besuch auf den Heimweg. Die Verabschiedung im Treppenhaus war immer recht lustig. Oma und Opa brachte ich an die Straßenbahn-Haltestelle der Linien 14 und 15. Die 14 fuhr Richtung St. Pauli und die 15 zum Bahnhof Altona.
Nur warum man als Kind, Onkel Hermann und Tante Erika sagen sollte, obwohl wir nicht verwandt waren, kann ich leider nicht sagen. Es wird immer ein Geheimnis bleiben, da meine Eltern schon seit vielen Jahren verstorben sind.