Sauerampfer und Panzerfaust
In meiner Kindheit war ich nur von Frauen umgeben. Im Juli 1937 geboren, war ich gerade mal zwei Jahre alt, als mein Vater zur Wehrmacht eingezogen wurde. Er kam erst 1946 aus englischer Kriegsgefangenschaft zurück, so dass ich mit neun Jahren einen mir völlig fremden Menschen kennenlernte. Doch dazu später.
Ich wuchs in Goslar auf, in einem alten Haus aus dem zwölften Jahrhundert Ecke Bergstraße/Schreiberstraße, das meinem Großvater gehörte. Es war ein ehemaliger Bauernhof in der Nähe der Kaiserpfalz. Frühere Besitzer hatten im Innenhof noch Schweine gehalten, in späteren Zeiten diente der Innenhof als Garage, Parkplatz und Lagerfläche. Meine Mutter hatte mich als Hausgeburt in einem Gebäude am Goslarer Marktplatz zur Welt gebracht. Wir lebten zusammen mit den Schwestern meiner Mutter, meinen Tanten Threse und Trudel, und meinen Cousins und Cousinen. Die Männer waren im Krieg. Wir hatten insgesamt Glück. Weil Goslar Lazarettstadt war, wurde die Stadt von Bombardierungen verschont. Allerdings gab es auch hier häufiger Fliegeralarm. Ich erinnere mich, dass wir in solchen Fällen in den Keller unseres Hauses hinabstiegen, der meterdicke Wände hatte und in dem es dunkel und kalt war. Meine Mutter nahm meine Schwester Irene, 1943 geboren, an die Hand, und ich nahm das Körbchen mit meiner kleinen Schwester Uschi, die im Oktober 1944 zur Welt kam. An den Kellereingängen waren außen weiße Pfeile angebracht, damit eventuell Verschüttete gefunden werden konnten. Gott sei Dank ist nichts passiert.
Allerdings erinnere ich mich daran, dass der kleine Goslarer Flughafen, auf dem zwei oder drei Flugzeuge standen, bombardiert worden ist. Ich sah vom Berg Rauchschwaden aufsteigen. Bei diesem Angriff ist ein Bauer auf dem Feld getroffen worden.
Überwiegend erinnere ich mich aber an eine relativ unbeschwerte Kindheit. Ich konnte in dem großen Haus und auf den großen Dachböden, auf der Straße und im Wald unbegrenzt spielen. Spielkameraden gab es zuhauf. Ein Pfiff, und die Straße war unser. Autos gab es nicht, die Straßen waren leer. Wir konnten Völkerball und Kitschekugeln, so nannten wir das Murmelspiel, spielen. Häufig waren wir im Wald, der fünf Minuten von unserem Haus entfernt anfing. Dort kämpften wir, Bande gegen Bande. Aus Brettern haben wir Dolche geschnitzt, mit Federn im Haar, Strick um den Bauch, Dolch im Gürtel, waren wir dann Indianer. Wenn wir Hunger hatten, machten wir uns Brote
aus Sauerampfer und sammelten Blaubeeren, Himbeeren, Brombeeren, manchmal haben wir sogar rohe Pilze gegessen, aber nur Maronen. Vor dem Krieg war der Bereich ein Vogelschutzgebiet, und Wasser gab es in der Vogeltränke, das war eine kleine Quelle.
Eines Tages habe ich im Wald an einem Baum ein seltsames Gerät entdeckt und mit nach Hause genommen. Dort erhob sich großes Geschrei, meine Mutter war entsetzt, das Gerät entpuppte sich als Panzerfaust. Was meine Mutter damit gemacht hat, weiß ich nicht. Ein Mitschüler hatte weniger Glück. Er hatte eine Handgranate gefunden, die beim Spielen explodierte und ihm den halben Arm wegriss.
Viele Episoden konnte ich aufgrund meines geringen Alters nicht einordnen. Ein guter Freund von mir war Jakob. Unsere Mütter waren befreundet. Er wohnte mit seiner Familie in einer Villa in der Clausthaler Straße. Ich weiß noch, wie sehr ich die Schaukel bewundert habe, die in der Tür zum Wohnzimmer angebracht war. In der Wohnung schaukeln, das war toll. Zu meinem sechsten Geburtstag hatte ich auch ihn eingeladen, und besonders erinnere ich mich an die große Eisbombe, die ich vom Café Breuer, Hokenstraße, geholt habe. Und eines Tages war Jakob weg. Wieso und warum, das wusste ich nicht. Kurze Zeit später habe ich ein Gespräch zwischen meiner Mutter und einer Tante mitbekommen, meine Mutter schimpfte laut. Meine Tante versuchte sie zu beruhigen: Schrei nicht so laut rum, sonst holt uns die Gestapo auch noch.
Ich kam dazu und fragte, was die Gestapo sei. Meine Tante sagte: Das sind die Männer in den schwarzen Ledermänteln.
Meine Mutter hatte sich aufgeregt, weil die Familie ihrer Freundin abgeholt worden war. Heute gibt es eine Charley-Jacob-Straße in Goslar, die an einen jüdischen Mitbürger und die Deportation der jüdischen Bürger Goslars erinnert.
Als Kind war ich von der Hitlerjugend begeistert. Wie sie mit Trommeln, Posaunen, Trompeten und Fahnen durch die Stadt zogen, schön gekleidet in Uniform und einem richtigen Messer an der Seite, da haben wir kleinen Pökse sie glühend beneidet. Einmal war auch Hitler selbst in der Stadt. Ich erinnere mich, dass die ganze Stadt in heller Aufregung war und viele viele Menschen auf den Marktplatz strömten. Ich war natürlich auch neugierig, da ich aber so klein war und zwischen den vielen großen Menschen eingezwängt wurde und nichts sehen konnte, bekam ich Panik und lief nach Haus.
Im Herbst 1943 wurde ich regulär eingeschult. Aber ich ging nur wenige Wochen zur Schule, dann wurde meine Schule ein Lazarett. Wir gingen dann stattdessen zum Pastor, dort haben wir Gebete und sonst nicht viel gelernt. Goslar war Lazarettstadt, und das war unser Glück. Zwar gab es Fliegerangriffe, aber die Stadt selbst wurde nicht getroffen. Im Herbst 1944 wurde ich dann ein zweites Mal eingeschult. Ich erinnere mich daran, dass wir aufsprangen, wenn der Lehrer zur Tür hereinkam und den Hitlergruß entboten. Arme hoch und Heil Hitler
sagten. In meine Klasse gingen viele Flüchtlingskinder. Als Einheimischer hatte ich es gut, wir hatten genug zu essen und waren gut vernetzt mit Nachbarn und Verwandten. So war ich bei unseren Kinderspielen meistens der Anführer.
Im Mai 1945 ging der Krieg zu Ende.
Als ich eines Tages zum Bäcker ging und wieder Heil Hitler
sagte, drehte sich eine ältere Frau um und sagte: So, mein Junge, jetzt darfst du wieder Guten Morgen sagen
.
Die Amerikaner rollten mit ihren Panzern durch die engen Goslarer Straßen. Viele Häuser wurden dabei an den Ecken beschädigt. Überall hingen weiße Laken aus den Fenstern. An unserer Ecke stand das Hotel Zur Börse
, dort bauten die Amerikaner Tische mit Lebensmitteln auf und riefen den Frauen und Kindern, die aus den Fenstern guckten, zu: Come on
. Aber zuerst traute sich niemand, weil alle Angst vor dem schwarzen Mann
hatten und wir bisher niemals schwarze Menschen gesehen hatten. Die Drohung dann holt dich der schwarze Mann
saß tief. Aber so langsam tauten wir auf, wir merkten, dass die Amis freundlich waren. Wir kleinen Jungen trauten uns, die Notreserve, Corned Beef, Kaugummi und Schokolade aus den Jeeps, die in langer Reihe in der Bulkenstraße standen, zu klauen. Mit den Köstlichkeiten sind wir zur Kaiserpfalz gelaufen und haben dort in den Büschen gespeist. In der Schule haben wir dann von den Amerikanern Quäkerspeise
bekommen. Jedes Kind brachte ein Militäressgeschirr mit und bekam dann Reis-, Erbsen- oder Milchsuppe. Ich habe meine Quäkerspeise oft an Flüchtlingskinder verschenkt, die es nötiger hatten als ich. Am Freitag gab es sogar eine kleine Tafel Schokolade dazu.
Einige Zeit später spielte ich gerade unten im Hof, als mich meine Mutter aus dem Fenster zu sich rief. Oben angekommen, stand ich vor einem Mann in einem abgerissenen Militärmantel. So, Junge, das ist dein Vater. Nimm ihn mal in den Arm
, sagte meine Mutter zu mir. Da mir aber Männer bis dahin völlig fremd waren, sträubte ich mich.
Leider ist mir mein Vater immer fremd geblieben. Weder er noch die Männer meiner Tanten, die alle aus dem Krieg zurückgekommen sind, haben jemals ein Wort über den Krieg verloren.