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Von Büchern und Bibliotheken

Ich habe früh gelernt zu lesen. Mit fünf Jahren hatte ich meine Kinderbücher und habe niemals darum gebeten, mir vorzulesen. Eigentlich bin ich in meiner Jugend ein richtiger Bücherwurm gewesen, meine Mutter hatte Schwierigkeiten, mich für Sport oder Spaziergänge zu gewinnen.

Dann kam der Krieg und wir wurden evakuiert. Unsere Bücher waren in Moskau geblieben und in Swerdlowsk, unserer neuen Bleibe, konnte man keine Bücher kaufen. Es gab kein Papier für Druckereien und überhaupt hatte man andere Sorgen. Dort, in meiner Schule, befand sich meine erste Bibliothek. Sie war in einem sehr kleinen Raum untergebracht, eigentlich war es eine Abstellkammer, und eine Lehrerin hat ehrenamtlich zweimal die Woche Bücher ausgeliehen. Für jedes Kind wurde eine Bibliothekskarte geführt und die Lehrerin wusste, was du gelesen hast. Manchmal hat sie mit dem Leser den Inhalt des Buches besprochen oder bat uns, einen kurzen Aufsatz über das Buch zu schreiben. Dann bekamen wir von ihr einen Bogen Papier, weil wir unsere Hausaufgaben  oft auf alten Zeitungen machten. Und dort, in Swerdlowsk, hatte ich mein erstes eigenes Buch gekauft. Im Zeitungskiosk hat mir die Verkäuferin ein Buch von Gogol Abende auf dem Weiler bei Dikanka verkauft. So ein Glücksfall! Ein paar Monate lang habe ich mich an den lustigen oder Schrecken erregenden Geschichten gelabt.

Im Herbst 1943 kamen wir nach Moskau zurück. Alle unsere Bücher waren weg, wahrscheinlich im kleinen Kanonenofen verbrannt. Nur sämtliche Werke von Shakespeare als Brockhaus Ausgabe sind geblieben, vielleicht zu schön, zu schade zum Verbrennen. In unserer Nähe war meine zweite Kinderbibliothek mit einem Lesesaal. Die war immer gut besucht. Zu Hause war es oft kalt und dunkel, wenig Platz. In der Bibliothek konnte man auch die Hausaufgaben machen. Aber die Hauptsache waren die vielen Bücher. Ich habe dort Puschkin und Turgenew, Tolstoi und Gorki ausgeliehen, habe Dickens, London und Tom Sawyer gelesen. Und auch dort war die Bibliothekarin sehr nett, hat sich für ihre Leser interessiert und viel mit uns gesprochen. Wenn ein Mädchen ein Buch über Liebe wollte und ein Junge über Abenteuer, hat sie geholfen es zu finden, und taktvoll bemerkt, dass man sich die Autoren merken muss. Ich habe auch meine Oma oft in den Gorki-Park begleitet, dort gab es einen öffentlichen Lesesaal mit Zeitungen und Zeitschriften, in denen man interessante Geschichten finden konnte. Man musste nur einen Ausweis vorlegen oder ein Pfand hinterlegen.

In der Schule hieß das Fach Russisch und Literatur. Wir haben die klassische russische Literatur chronologisch durchgenommen. In den letzten Klassen hatten wir die zeitgenössische und die ausländische Literatur. Wir hatten Molière, Heine, Goethe, Schiller und Shakespeare durchgenommen. Natürlich war immer die klassengebundene Einstellung dabei, aber wir haben viel gelesen, viel auswendig gelernt und für den Sommer immer eine Liste für Hauslektüre bekommen. Übrigens, es gab noch kein Fernsehen, das den Büchern Konkurrenz machen konnte.

Die Bücher waren aber Mangelware. Sie waren eigentlich billig, aber nicht zu haben. Ein Buch war 20 bis 30-mal billiger als ein Paar Stiefel. Man hat im Überfluss Bücher gedruckt, die einen Lenin- oder Stalin-Preis bekommen hatten. Solche Preise wurden jedes Jahr vergeben. Manche dieser Bücher, besonders von Autoren aus den Republiken, konnte man nicht lesen, so langweilig waren sie. Solche Bücher habe ich in der Schule ein paar Mal für gute Noten zum Abschluss einer Klasse geschenkt bekommen.

In den Buchhandlungen hatten sich lange Schlangen gebildet, wenn ein Buch zum Verkauf stand, irgendwie hatten es die Menschen durch Bekanntschaft mitbekommen. Wenn eine Ausgabe der Werke eines Autors bevorstand, haben sich monatelang Schlangen gebildet, um ein Buch zu ergattern. So kamen in unser Haus Puschkin und Chechov, Gorki und Balzac, je 30 Bände – zu viel!

Die Zeit verging, für die Kinderbibliothek wurde ich zu alt. In Moskau gab es damals viele öffentliche Bibliotheken für die Jugend. Dort konnte man schön  die Zeit verbringen und Bekanntschaften machen. Es gab Vorlesungen und sogar Konzerte.

Erwachsene, Studenten, Wissenschaftler nutzten große Bibliotheken: die Historische, die Technische und die berühmte staatliche Lenin-Bibliothek. Alle Bibliotheken waren kostenlos.

Die Lenin-Bibliothek habe ich viel genutzt, als ich meine Doktorarbeit machte. Dort gab es einen speziellen Saal für Wissenschaftler und einen riesigen Katalog. Eigentlich konnte man dort alle Bücher und Dissertationen finden. Dort war auch eine Sonderabteilung, für Unbefugte geschlossen, wo man unerlaubte Bücher zu lesen bekam. Man musste eine spezielle Erlaubnis vorlegen und sich jedes Mal in einem Buch registrieren lassen. Die Bibliothek war jeden Tag geöffnet, sonntags bildeten sich Schlangen an der Garderobe. Und die Bücher blieben immer Mangelware. In den 1970er Jahren hat man angefangen, für Altpapier Gutscheine auszugeben. Für 20 Kilo Altpapier hast du das Recht gehabt, ein begehrtes Buch zu kaufen – Königin Margot oder Die drei Musketiere. Und nach der Perestroika waren plötzlich auf der Straße verschiedene bunte Bücher im Verkauf. Sie waren aber recht teuer.

Ein Teil meiner Bücher habe ich nach Deutschland gebracht. Aber meine Enkelkinder lesen keine russischen Bücher. Richtige deutsche auch nicht. Die Enkelin liest so was wie Warrior Cats. Sie hat schon, glaube ich, 30 dicke Bände geschafft, aber das Team aus sechs Autorinnen schreibt schneller, als man lesen kann. In der Schule gibt es kein Fach Literatur. Man lernt auch nichts mehr auswendig.

Vor einigen Tagen war ich in der Norderstedter Bibliothek. Dort stehen die Bücher in vielen Rubriken verteilt: Kinder und Jugend, Männer, Frauen, Liebe, Erotik, Familie, Thriller, Humor, Historisches, Lateinamerika. Nana von Zola steht in Erotik und in dem Regal Männer habe ich Erich Kästner gefunden. Ich fragte die Bibliothekarin: Darf ich von hier Kästner nehmen? Sie hörte meinen Sarkasmus. Warum stehen denn die Bücher nicht nach den Autoren geordnet?, fragte ich. Zu uns kommen nicht nur Akademiker und wir müssen es allen unseren Lesern  schmackhaft machen, sie sollen ein Buch nach ihrem Interesse leichter finden, bekam ich zur Antwort. In welcher Rubrik muss man denn die Buddenbrooks suchen oder Anna Karenina? Natürlich findet man ein Buch, wenn man zu der Information geht. Die Bibliothekarinnen sind nett und in ihrem PC ist vermerkt, in welcher Rubrik sich ein Buch befindet. Trotzdem gefällt mir so was nicht.

Und ich habe nicht bemerkt, dass in der Kinderabteilung jemand mit dem Kind über das Buch spricht – alles ist anonym, man leiht ein Buch mithilfe eines Computers, ebenso gibt man es ab. Was du davon verstanden hast, bleibt dein Geheimnis.

Schade eigentlich, dass mit der Digitalisierung das Lesen von Büchern zurückgeht. Es ist doch so angenehm, beim Spazierengehen sich zu erinnern: O, Frost und Sonne! Welch ein Morgen! Noch schlummerst du, mein Schatz, geborgen. In Russisch klingt das Gedicht von Puschkin noch schöner.
Oder von Rilke: Die Sonne küsst uns. Traumverloren schwimmt im Geäst ein Klang in Moll.

Schade, dass für unsere Enkel so ein Genuss unmöglich sein wird!