Schicksal im letzten Jahrhundert
im Gedenken an meine Großmutter Sophie
Ich beneide das Schicksal eines Menschen, der in einem Land geboren wurde, in einer Großstadt oder in einem Dorf lebte – egal, dort zur Schule ging, dann vielleicht studierte, nachher arbeitete. Vielleicht reiste er viel in seinem Land oder in die große Welt, aber er konnte immer in sein Elternhaus zurückkehren, er konnte Klassenkameraden oder Kommilitonen und Kollegen treffen, hatte seine Sprache, seine Bücher und zum Schluss konnte er seine letzte Ruhe finden auf dem Friedhof, wo auch seine Eltern ruhten.
Leider war das Schicksal vieler Leute im letzten Jahrhundert ganz anders. Leute wurden wie trockene Blätter vom starken Wind der Kriege und der Revolutionen getrieben.
Meine Großmutter Sophie kam 1878 in dem kleinen Ort Alt-AutzAuce (deutsch: Alt-Autz) ist eine Stadt im südlichen Westen Lettlands und liegt nahe der Grenze zu Litauen. 1426 wurde erstmals ein Owcze schriftlich erwähnt. 1576 wurde Alt-Autz von den Gütern des ersten Besitzers Johann von Bremen abgeteilt.Siehe Wikipedia.org [1] im KurlandKurland (lettisch Kurzeme) ist neben Semgallen (Zemgale), Zentral-Livland (Vidzeme) und Lettgallen (Latgale) eine der vier historischen Landschaften von Lettland. Kurland liegt südwestlich des Flusses Düna und bezeichnet den von Ostsee und Rigaischem Meerbusen umfassten Westteil des Landes um die Städte Liepāja (Libau) und Ventspils (Windau). Die Hauptstadt Kurlands war bis 1919 Jelgava (Mitau). Nördlichster Punkt Kurlands ist Kap Kolka. Kurland umfasst eine Fläche von 13.628,28 km². Das Gebiet ist mit Ausnahme der hügeligen Gegend um Talsi (Talsen) in der Kurländischen Schweiz relativ flach. Hauptfluss ist die Venta (Windau).Siehe Wikipedia.org [2] zur Welt. Kurland gehörte zu Russland, aber die meisten Gebiete dort gehörten den deutschen Baronen von Bremen und von der Osten-Sacken. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war mehr als die Hälfte aller Landgüter in Lettland in deutschem Besitz.
In Autz gab es eine große deutsche Gemeinde und das Gut des Barons. Zu Zeiten der Zarin Ekaterina, oder sogar bevor, waren wahrscheinlich zusammen mit den Deutschen auch deutschsprachige Juden vom Westen nach Kurland umgesiedelt. Im Hause meiner Großmutter wurde Deutsch gesprochen. Ihr Vater war der Inhaber eines Ladens im Ort, er hatte 16 Kinder, Sophie war die Vorletzte. Die Familie war nicht reich, aber auch nicht ganz arm; sie hatte ein eigenes Haus und es war möglich, den Kindern eine Ausbildung zu geben, sie sogar ins Ausland zu schicken.
Sophie war nicht besonders begabt, in der Schule keine Leuchte. Aber sie war nett, sympathisch, umgänglich und bescheiden. Mit 20 hat sie geheiratet. Ihr Mann Gerson war verwitwet, seine verstorbene Frau war die ältere Schwester von Sophie, bei Juden war es so üblich. Seine Tochter Frieda war für Sophie nicht nur Stieftochter, sondern auch Nichte. Gerson lebte in Riga, als Kaufmann musste er Steuern der Ersten Gilde zahlen, um außerhalb der Ansiedlungsgrenze für Juden zu leben.
Sophie wurde eine perfekte Hausfrau. Sie bekam zwei Töchter – Polia und Bella, meine Mutter. Im Haus war alles auf hohem Niveau, es gab eine Köchin, ein Dienstmädchen und eine Bonne, welche die Mädchen in Französisch unterrichtete. Zuhause sprach man Deutsch und Russisch, kein jüdisch, aber manchen Traditionen ist man gefolgt, zum Pessach hat Gerson einen Teller zerschlagen und Maseltof
Masel tov (מזל טוב) ist jiddisch bzw. hebräisch und bedeutet frei übersetzt Viel Glück
oder Viel Erfolg
. Es geht auf das hebräische Mazal (mit stimmhaftem s) zurück, das ursprünglich Sternzeichen bedeutet. Chabad interpretiert das Wort als Ein Tropfen von oben. Tov heißt wörtlich gut
. [3] geschrien und es gab Gefillte Fisch
Gefilte Fisch, auch Gefillte Fisch geschrieben (jiddisch געפילטע פיש, deutsch gefüllter Fisch
, wörtlich gefüllte Fische
), ist ein besonders bei aschkenasischen Juden beliebtes kaltes Fischgericht, das am Sabbat, an Feiertagen und zu besonderen Gelegenheiten als Vorspeise gegessen wird. Es besteht im Wesentlichen aus gewürzter Fischfarce von gehacktem oder gewolftem Karpfen, Hecht oder Weißfisch, die je nach Variante als Klößchen, in Scheiben oder in die Fischhaut gefüllt als ganzer Fisch in Brühe pochiert und im erkalteten, gelierten Sud serviert wird. [4]. Und Sophie verstand Teiglach
Teiglach, auch Taiglach oder Teglach (jiddisch: טייגלעך, Singular Teigel, wörtlich kleiner Teig
) sind kleine, verknotete Gebäcke, die in einem Honigsirup gekocht werden. Sie sind eine traditionelle aschkenasische jüdische Leckerei zu Rosch Haschana, Sukkot, Simchat Tora und Purim. und Hamantasch
Hamantasch (Plural Hamantaschen; jiddisch הָמָן־טאַש, hebräisch אוזני המן) ist ein süßes Gebäck der jüdischen Küche. Die dreieckigen Gebäckstücke werden aus Hefe- oder Strudelteig gebacken und mit Mohn oder Pflaumenmus gefüllt. Sie werden traditionell zum Purimfest gegessen. zu backen. Die Familie war vollständig assimiliert. Und ich kann mich nicht erinnern, dass Großmutter jemals zu Gott betete, ich weiß nicht, ob sie gläubig war. Diese Jahre in Riga waren für sie unbeschwert.
Dann ist der Erste Weltkrieg ausgebrochen. Die Familie ist nach Petrograd umgesiedelt, so nannte man jetzt die Stadt. Frieda, die schon erwachsen und verlobt war, ist in Riga geblieben. Dann ging es nach Rybinsk an der Wolga. Dort erkrankte Gerson und starb. Sophie ist mittellos geblieben, die Mädchen waren 15 und 13 Jahre alt. Hilfe bekam Sophie von ihrem Bruder Benno, der in Moskau lebte und Ingenieur war. Und dann kam 1917 die Revolution. Vor Hunger, Gewalt und Chaos ist sie mit ihren Töchtern auf die Krim geflohen.
In Russland herrschte Bürgerkrieg. Zuerst war die Krim in weißen Händen
. Das Leben war hart, man verkaufte die verbliebenen Habseligkeiten, um dafür Brot zu kaufen. Mutter erzählte, dass sie aus Holz und Stricken Sandalen bastelten und und auf dem Markt verkauften. Die Rote Armee näherte sich. Es herrschte Panik. Bekannte Weißgardisten halfen Polia, einen Fahrschein für das Schiff zu kriegen, denn sie wollte nach Paris, um dort Kunst zu studieren. Mutter hat ihre Schwester niemals mehr gesehen. Sophie und Bella sind geblieben. Dann kamen die Roten
. 1922 half Benno ihnen, nach Moskau zu übersiedeln.
Mutter wurde Studentin der Technischen Hochschule, lebte im Studentenheim. Benno half Sophie eine Bleibe zu finden. Von der Zeit ist bei uns ein Bescheid geblieben: Nach dem Gerichtsbeschluss vom 19. Mai 1923 ist die Bürgerin Orkina Sofja Michailowna anerkannt als nicht Ausbeuterin fremder Arbeitskraft … und lebt vom Unterhalt ihres Bruders, Angestellter Volksrichter. Sekretär
Benno war damals ein wohlhabender NEP-Die Neue Ökonomische Politik (Abk. NEP; russisch НЭП - Новая экономическая политика, NEP – Nowaja ekonomitscheskaja politika) war ein wirtschaftspolitisches Konzept in der Sowjetunion, das Lenin und Trotzki 1921 gegen erheblichen Widerstand in der eigenen Partei durchsetzten. Ihr Hauptmerkmal war eine Dezentralisierung und Liberalisierung in der Landwirtschaft, im Handel und in der Industrie, die der Wirtschaft teilweise auch marktwirtschaftliche Methoden zugestand. Die NEP blieb bis 1928 reale Politik und führte zu einer Verbesserung der Versorgung und zu relativen gesellschaftlichen Freiheiten.Siehe Wikipedia.org [5]mann. Bennos Frau war Primadonna des Hebräischen Theaters Gabima. Benno war klug und hatte vorausgesehen, dass mit dem NEP bald Schluss sein wird. Er hatte Sophie geraten, nach Riga zu emigrieren, so lange es noch möglich sei – eine Witwe von einem Kaufmann zu sein war in der UdSSR sehr gefährlich. 1924 ist Sophie zu Frieda nach Riga ausgereist, und nachher zusammen mit Friedas Familie (Laserson) – nach Wien gekommen. Benno selbst hat seine Frau zu Gastrollen nach Paris begleitet, dort hat sie ihn verlassen, er ist nachher nach Riga gefahren und während des Krieges dort im Getto ermordet worden.
Sophie lebte in Wien in guten Verhältnissen, der Schwiegersohn war erfolgreicher Ingenieur. Aber natürlich hatte sie Sehnsucht nach ihren leiblichen Töchtern. 1929 ist Polia bei einer Grippe-Epidemie verstorben. Mit Bella konnte man nur Briefe wechseln. Nachdem Hitler 1933 die Macht übernommen hatte, wuchs in Österreich der Antisemitismus von Tag zu Tag und die Familie überlegte, das Land zu verlassen. Friedas Töchter waren schon weg, die ältere mit ihrem Freund, beide waren kommunistisch gesinnt, gingen nach Australien, die Jüngere nach Paris.
Es war nicht leicht gewesen, eine Erlaubnis zu bekommen, um in die UdSSR zu emigrieren. Die Lasersons möchten gern ins Land der Freiheit
einreisen, hofften, dass Bella sie einlädt. In der UdSSR herrschte 1937 schon die bittere Zeit des großen Terrors. Aber davon durfte Bella in Briefen nichts schreiben und die Linken im Westen glaubten nicht der kapitalistischen Presse. So hat Mutter nur für Großmutter Sophie ein Visum geschickt. Die Lasersons waren sogar beleidigt, obwohl sie es kurz nach dem Anschluss noch geschafft hatten, nach Palästina zu gehen.
Sophie hat überhaupt den Ernst der Lage nicht verstanden. Es sind doch so nette Menschen hier und Ordnung, wieso muss man fliehen?
Sie hat niemals selbst Entscheidungen getroffen, zuerst war es ihr Mann, dann die Töchter und der Bruder. Aber der Instinkt zu helfen, sich für ihre lieben Menschen zu opfern, stand bei ihr über alles. Und Bella war verwitwet, hatte ein kleines Kind, also brauchte sie ihre Hilfe.
So erschien Großmutter Sophie 1937 in Moskau. Sie kam mit viel Gepäck, mit Schmuck und Kleidern für sich und Mama – es war keine Flucht. Aber es war für sie ein furchtbarer Schock. In Wien hat sie die russische Sprache beinahe völlig vergessen. Nach dem geregelten Leben in Wien mit Bedienung, Café, Skat kam sie in Verhältnisse, die sie an den Bürgerkrieg erinnerten, an Kriegskommunismus. Ein Haus mit einer Gemeinschaftsküche für 14 Partien, wo die Petroleumkocher summten und qualmten und wo die Hausfrauen im Waschtrog die Wäsche wuschen. In derselben Küche musste man sich am Becken waschen und Zähne putzen. Es gab kein Bad, man musste in der Banja Schlange stehen. Und ein dreckiges Klosett, wo man am Morgen den Eimer ausschütten musste, und kein Toilettenpapier! Aber so lebten damals in Moskau die meisten. Dazu noch hatte ich Blöde mit Großi (das Wort Oma
war uns unbekannt) meinen eigenen Krieg geführt. Ich konnte ihr nicht verzeihen, dass meine liebe Njanja
wegmusste, für zwei Personen fehlte es an Raum und Geld. Großi war auch strenger, sie hat mir immer ihre Wiener Kinder als Beispiel vorgehalten und bei ihr konnte schon einmal die Hand ausrutschen
. Dann petzte ich bei meiner anderen Oma. Aber Deutsch hat mir meine Großi beigebracht, und allmählich hatte ich mich an sie gewöhnt.
Großi liebte Unterhaltung, Geselligkeit, ins Kino gehen, sie hat ihre Wiener Kleider getragen und sah sehr ausländisch
aus. Das Land erschütterten politische Prozesse und Menschen verschwanden. Man traute sich nicht mit Verwandten im Ausland zu korrespondieren, am besten verschwieg man, dass sie existieren. Und dazu noch die Großmutter aus Wien, vielleicht eine Agentin? Der Personalleiter hat Mutter dringend empfohlen, aus Moskau zu verschwinden und im System der NKWD unterzutauchen – das war die beste Tarnung. Mutter wurde zum Moskau-Wolga-Kanal nach Dmitrow abkommandiert. Der Kanal wurde von gefangenen Volksfeinden
gebaut, Mutter arbeitete dort als Freiwillige
Ingenieurin. Das Leben dort war ebenso dürftig wie in Moskau, weniger Unterhaltung
. Die arme Großi wurde auf der Gasse von einem Kalb überfallen, sie dachte, es wäre ein Stier. Sie ist in den Graben gefallen und hat sich die Hand gebrochen. Aber niemals hat sie sich beklagt, kein Vorwurf war von ihr zu hören, sie hat meine Mutter über alles geliebt.
Nach anderthalb Jahren kamen wir zurück nach Moskau. Und allmählich hat sich Großi an das Moskauer Leben gewöhnt, an das Kochen in der Gemeinschaftsküche, an die Nachbarn, hat auch ein wenig Russisch dazugelernt. Sie liebte es, Zeitungen zu lesen, aber sie hat dennoch sehr wenig von der Lage in der UdSSR und in der Welt mitbekommen.
Dann kam der Zweite Weltkrieg. Es waren weniger als 20 Jahre nach dem Bürgerkrieg vergangen, das Chaos und der Hunger waren noch in Erinnerung. Schon in den ersten Tagen des Krieges waren die Regale in den Läden leer. Lebensmittel, Petroleum, Salz, Zündhölzer, Seife – wie ausgefegt. Wir sind schon Mitte Juli mit dem ersten Zug von Mutters Arbeit nach Swerdlowsk gefahren. Großi wollte nicht in die Evakuation, sie wusste nicht, oder wollte nicht glauben, was mit den Juden in Deutschland und Polen passierte, ging aber Mutter zuliebe mit. Moskau wurde noch nicht bombardiert, aber jede Nacht haben Sirenen geheult und man musste zum Bunker laufen. Die ersten Bomben sind kurz nach unserer Abreise gefallen. Wir fuhren im Güterzug, eine Woche lang, haben noch Glück gehabt – die Deutschen waren noch weit entfernt, und wir wurden nicht bombardiert.
In Swerdlowsk hatten es die Evakuierten schwer gehabt. Wir wurden bei einer Frau einquartiert. Ihr Zimmer war nur zwölf Quadratmeter groß, fünf davon musste sie uns abgeben. Sie war halbblind, ihr Sohn ist an der Front verschwunden. Sie hasste uns, nur mit mir hat sie noch geredet. Das Zimmer lag im langen Flur, gekocht wurde in einer Gemeinschaftsküche, wo jeder mit seinem eigenen Brennholz Feuer machen musste. Das Klosett lag in einer anderen Etage, in der Nacht brannte dort kein Licht, es war ein einziger Alptraum.
Alles war normiert, aber es war schwer, die Marken umzusetzen, immer musste man stundenlang Schlange stehen. Am schlimmsten war es, die Brotkarten zu verlieren. Man tauschte seine Habseligkeiten für Lebensmittel, die Frauen aus den Dörfern kamen in die Stadt. So gingen alle Wiener Kleider verloren. Irgendwie hat man sich durchgeschlagen, Möglichkeiten krank zu werden oder viel zu meckern hatte man nicht.
Anfang 1943 musste Mutter allein zurück nach Moskau, den Familien war es noch nicht erlaubt. Erst als ich erwachsen wurde, habe ich verstanden, wie schwer für meine Großi die Evakuierung war, wie schwer es war, allein mit mir zu bleiben, welche Verantwortung es war. Wegen ihres schlechten Russisch musste ich sie immer begleiten, manchmal fing sie an, Deutsch zu sprechen, und dann habe ich sie angefaucht: Schweig, du Faschistin
. So eine Närrin war ich mit meinen neun Jahren.
Im Herbst 1943 sind wir zurück nach Moskau gekommen. Das Leben war noch immer sehr schwer, es mangelte an Allem, man war ständig hungrig. Aber von der Front kamen gute Nachrichten, und alle schwärmten, dass nach dem Krieg das Leben ganz anders sein wird.
1945 endete der Krieg, aber viel leichter ist es nicht geworden. Im Sommer 1946 haben wir alle in Riga, in Jurmala Urlaub gemacht. Nach vielen Jahren hat Großmutter ihre Schwester Sara, deren Familie die Flucht aus Riga gelungen war, getroffen. Dort am Massengrab konnte sie ihrem Bruder Benno und noch zwei ihrer Geschwister gedenken, die mit ihren Familien ermordet wurden. Ihre Schwester Rosa wurde in Frankreich ermordet.
Dann fing der Kalte Krieg
an. Man hatte Angst eine Verbindung mit dem Ausland zu pflegen, Briefe von dort zu bekommen. Frieda und ihre Kinder haben ein paar Päckchen geschickt, aber Mutter hat ihnen angedeutet, dass eine Verbindung zurzeit unerwünscht sei. Dann war für viele Jahre Schweigen.
1948 hat Mutter ihre Doktorarbeit gemacht, und materiell ist es sofort leichter geworden, aber Schlange musste man bis zum Ende der UdSSR stehen. Mutter hat eine Wasserleitung und einen Gasherd in unserem Zimmer installiert, und Großi musste nicht mehr zur Gemeinschaftsküche gehen. In dieser Hinsicht war das Leben leichter geworden.
Die Diktatur der Partei und der Stalinkult hatten sich verstärkt. Die Partei kämpfte gegen Andersdenkende, Kosmopoliten
, Zionisten
. Wieder verschwanden Menschen. Der Antisemitismus wuchs. Großmutter hat das alles nicht richtig mitbekommen, obwohl sie immer die Prawda
studierte. 1949 haben wir ihren Geburtstag gefeiert, sie ist 70 geworden. Ich habe für sie eine schöne Zeitung gemacht und an die Wand gehängt. Die Gäste waren erschrocken: In diesem Jahr wurde auch Stalin 70 Jahre, und nur ER durfte so gefeiert werden.
So hatten wir gelebt. Großi liebte es, in den Gorki Park zu fahren, ein paar Haltestellen vom Haus entfernt. Dort saß sie im Grünen in einer Lesehalle und hat Zeitungen und Zeitschriften gelesen, ich leistete ihr gern Gesellschaft. Als ich älter wurde und keine Zeit mehr hatte, machte sie es allein. Im Sommer hat Mutter ihr immer einen Schein für einen Monat in einem Erholungsheim besorgt. Großmutter war immer sehr zufrieden mit allem – mit den Zimmernachbarn, mit dem Essen, mit dem Kino am Abend. Immer war sie für alles dankbar.
Es war im Jahr 1959, Moskau hat irgendeinen ausländischen Politiker empfangen, die Straßen wurden gesperrt und das Volk musste mit den Fähnchen winken. Der Eingang zum Gorki-Park wurde geschlossen und das Publikum musste den weiteren Ausgang benutzen. Großmutter war ganz irritiert und erschöpft, irgendwie hat sie es doch nach Hause geschafft. Drei Tage ist sie im Bett geblieben, dann wurde ihr besser. Aber ein Schaden ist geblieben, wahrscheinlich hat sie einen Mikroschlag gehabt.
Seitdem ging alles bergab. Mutter musste der Großi ein Schildchen mit unserer Adresse an den Mantel annähen. Dann konnte man sie nicht alleine zu Hause lassen. Sie suchte ihre Kinder und die Wiener Enkelkinder unter dem Kopfkissen. Aber sogar in ihrer Krankheit war sie nett und bescheiden: O, es schmeckt so gut, ich habe so was noch nie gegessen!
, sagte sie über eine Speise, die jeden Tag auf den Tisch kam. Sie konnte nicht mehr ins Erholungsheim, die letzten zwei Sommer hat sie auf unserer Datscha verbracht, Mutter war schon pensioniert.
Im Juni 1962 hatte sie dort einen schweren Schlag erlitten, das Bewusstsein verloren und nach drei Tagen ist sie verstorben. Ihr Grab befindet sich auf einem fremden kleinen Dorffriedhof. Damals war es unmöglich, für Verstorbene im Moskauer Gebiet eine Erlaubnis für eine Beerdigung in Moskau zu bekommen. So hat die Wanderung meiner Großmutter geendet.
Nach zehn Jahren haben wir die Datscha verkauft. Ich hatte eine kleine Tochter und keine Möglichkeit, den 75 Kilometer von Moskau entfernten Friedhof zu besuchen. So habe ich den Grabstein nach Moskau gebracht und auf das Familiengrab gelegt, wo nachher auch Mutter bestattet wurde.
Dann sind wir nach Deutschland ausgewandert. Ich habe auf dem Friedhof in Norderstedt einen Platz gekauft und einen Stein aufgestellt, darauf steht Familie Orkin
geschrieben. Dorthin komme ich mit Blumen für meine Toten.
Sehr viele in meinem Alter hier haben Wanderungen hinter sich. Jetzt sind auch jüngere Leute dazu gekommen.
Welche Götter, außer Kriegen und Revolutionen, sind verantwortlich für das Schicksal eines einfachen Menschen, wer kann das wissen?
[2] Kurland (lettisch Kurzeme) ist neben Semgallen (Zemgale), Zentral-Livland (Vidzeme) und Lettgallen (Latgale) eine der vier historischen Landschaften von Lettland. Kurland liegt südwestlich des Flusses Düna und bezeichnet den von Ostsee und Rigaischem Meerbusen umfassten Westteil des Landes um die Städte Liepāja (Libau) und Ventspils (Windau). Die Hauptstadt Kurlands war bis 1919 Jelgava (Mitau). Nördlichster Punkt Kurlands ist Kap Kolka. Kurland umfasst eine Fläche von 13.628,28 km². Das Gebiet ist mit Ausnahme der hügeligen Gegend um Talsi (Talsen) in der Kurländischen Schweiz relativ flach. Hauptfluss ist die Venta (Windau).
[3] Masel tov (מזל טוב) ist jiddisch bzw. hebräisch und bedeutet frei übersetzt Viel Glück oder Viel Erfolg. Es geht auf das hebräische Mazal (mit stimmhaftem s) zurück, das ursprünglich Sternzeichen bedeutet. Chabad interpretiert das Wort als Ein Tropfen von oben. Tov heißt wörtlich
gut.
[4] Gefilte Fisch, auch Gefillte Fisch geschrieben (jiddisch געפילטע פיש, deutsch
gefüllter Fisch, wörtlich
gefüllte Fische), ist ein besonders bei aschkenasischen Juden beliebtes kaltes Fischgericht, das am Sabbat, an Feiertagen und zu besonderen Gelegenheiten als Vorspeise gegessen wird. Es besteht im Wesentlichen aus gewürzter Fischfarce von gehacktem oder gewolftem Karpfen, Hecht oder Weißfisch, die je nach Variante als Klößchen, in Scheiben oder in die Fischhaut gefüllt als ganzer Fisch in Brühe pochiert und im erkalteten, gelierten Sud serviert wird.
[5] Die Neue Ökonomische Politik (Abk. NEP; russisch НЭП - Новая экономическая политика, NEP – Nowaja ekonomitscheskaja politika) war ein wirtschaftspolitisches Konzept in der Sowjetunion, das Lenin und Trotzki 1921 gegen erheblichen Widerstand in der eigenen Partei durchsetzten. Ihr Hauptmerkmal war eine Dezentralisierung und Liberalisierung in der Landwirtschaft, im Handel und in der Industrie, die der Wirtschaft teilweise auch marktwirtschaftliche Methoden zugestand. Die NEP blieb bis 1928 reale Politik und führte zu einer Verbesserung der Versorgung und zu relativen gesellschaftlichen Freiheiten.