Der 17. Juni 1953 darf nicht vergessen werden
Am 17. Juni 1953 schossen und walzten modernste, russische Panzer einen Volksaufstand in der jungen Deutschen Demokratischen Republik
(DDR) mit äußerster Brutalität nieder. Aus einem Streik der Bauarbeiter in der damaligen Stalinallee in Berlin gegen willkürlich erhöhte Arbeitsnormen war rasend schnell ein allgemeiner Volksaufstand in — laut Zeitzeugen — nahezu 500 Städten geworden.
Viel Hunger und viel PanzerLeipzig, den 19. Juni 1953.
Liebe Kinder!
Hiermit möchte ich Euch einige Zeilen von uns und den Ereignissen senden. Nochmals vielen Dank für das Päckchen. Wir haben uns darüber sehr gefreut. Sicherlich möchtet Ihr wissen, ob bei uns alles auf dem Damm ist. Jawohl, so einigermaßen sind wir noch gesund. Um auf die Ereignisse sprechen zu kommen, muss ich vorgreifen. Glaubt mir, Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie es uns hier geht. Wir hungern nicht bloß, sondern wir vegetieren nur noch. Wir können nicht sagen, was wir morgen bekommen. Wenn man 1 Pfund Nudeln oder Graupen erwischen will, muss man großes Glück haben. Fettigkeiten gibt es lange nicht mehr. Gestern gab es mal Schweinekopf, das Kilo DM 5,--. Mutter hat für DM 3,-- gekauft, da sieht man nicht viel von. Das Gemüse ist sehr teuer. Blumenkohl von DM 1,-- bis DM 2,--. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie verzweifelt wir alle waren.
Was heißt waren? Trotz Hunger aber gibt es jetzt viel strahlende Gesichter seit dem Bekenntnis für unsere über alles, geliebte Regierung durch riesenhafte Demonstrationen in Leipzig. Ihr könnt Euch vom Mittwoch kaum einen Begriff machen. Diese Massen auf den Straßen. In der Ritterstraße wurde ein ganzes Polizeiauto einfach umgeworfen, auf dem Markt der Pavillon angebrannt. Das Gefängnis in der Beethovenstraße gestürmt, die Gefangenen befreit. Die Wut und Verzweiflung war beispiellos. Das große Scherengitter vor dem Amtsgericht wurde buchstäblich mit Händekraft ab und zerrissen. Die Akten und Einrichtungsgegenstände zum Fenster hinausgeworfen, das Tor eingedrückt. Da schossen unsere Volksbehüter aus den Fenstern, auch die Volkspolizistinnen. Die Wut wurde zum Orkan. Die Menge ging zum Sturm über. Es gab Tote und Verwundete. Ein junges Mädchen bekam einen Bauchschuss und schrie fürchterlich. Einer Polizistin, die geschossen hatte, haben sie den Kopf zertreten.
Auch in der Innenstadt gab es Tote und Verwundete. Lieber Junge, das Volk, vor allem die Jungens sind nirgends gewichen. Die Wut der Massen wurde erst nach dem Zeitpunkt, als auf sie geschossen wurde, hemmungslos und kannte keine Grenzen mehr. Auch die Wassermassen der Feuerlösch-Polizei hielt der achtjährigen erbitterten und verzweifelten Menschheit in ihrem Freiheitskampfe nicht stand. Wir wollten Abtreten der vom Volk nicht gewählten Regierung, freie Wahlen, Freilassung aller politischen Gefangenen und bessere Ernährung. In der Stadt sieht man keine Propagandaplakate. Die Parteigenossen (SED) tragen keine Abzeichen mehr. Die, Volksverräter (Polizisten) waren machtlos. Da setzte man russische Panzer ein. Die konnten jedoch in der Masse nicht vor- und rückwärts, bis sie in die Menge hineinstürmten. O du trauriges Elend. Freiheit bringender Kommunismus. Vor Verzweiflung kamen mir die Tränen. Wir lange werden diese Knechtschaft und dieses Hungern nur noch dauern. Ich bin bloß noch ein Skelett, aber mit feuchten Augen und mutigem Herzen kämpfen wir weiter und hoffen auf ein geeinigtes und freies Deutschland.
Liebe Kinder, Ihr wisst, ich habe mir immer zu helfen gewusst, aber glaubt mir ich weiß nicht mehr, wo ich für meine Familie etwas holen soll. Auf die geringsten Kleinigkeiten gibt es jetzt viele Jahre Zuchthaus. Man hat bei Edith (Lehrmädchen in der HO) kleine Mädchen für geringe Vergehen, wie Mundraub, mit 1 bis 2 Jahren Zuchthaus bestraft. Auf ein Stück trockenes Holz aus dem Wald gibt es ebenfalls Zuchthaus, ins Unendliche könnte ich berichten. Liebe Kinder, auch in Schkeuditz (Pelzstadt bei Leipzig) hat alles gestreikt. Das „Aufklärungs"-Lokal hat das Volk gleich in Brand gesteckt. Ebenso in Halle, Magdeburg, Weißenfels und überall.
Wir wollen nicht mehr, wir machen einfach nicht mehr mit, wir können nicht mehr. Es hat Tote und Verwundete gegeben, wie viele, ist noch nicht bekannt. Ich teile es Euch im nächsten Brief mit. Vorerst haben wir noch Ausnahmezustand. Von 9 Uhr abends bis früh 5 Uhr darf keiner auf die Straße. Überall sind russische Panzer und kasernierte Volkspolizei.
Das Volk ist aber in Bewegung. Mit Wut und Erbitterung nehmen wir von den Schreibereien der Schmierblätter Kenntnis, wonach angebliche Westprovokateure für den Massenaufstand verantwortlich sind. Es erinnert sehr an die KartoffelkäferpropagandaVon Mai bis August 1950 befällt die DDR eine Kartoffelkäfer-Plage. Fast 20 Prozent der Anbaufläche sind mit dem Kartoffelschädling befallen. Die Versorgung mit Kartoffeln ist dadurch ernsthaft bedroht. Längst hat sich herumgesprochen, wem die DDR-Bürger die plötzliche Plage mit dem Kartoffelschädling zu verdanken haben sollen: Dahinter stecke eine Verschwörung des Westens. Amerikanische Flugzeuge, die sich angeblich außerhalb der üblichen Flugkorridore bewegen, würden Kartoffelkäfer abwerfen. vor drei Jahren, die hat auch niemand geglaubt.
Wir drücken unser tiefstes Mitgefühl für den unschuldigen, von den Russen standrechtlich erschossenen Willi Göttrich aus West-Berlin sowie unser innigstes Beileid aus. Es herrscht hier keine Ruhe und es wird auch keine mehr geben, bis wir frei von diesem schmachvollen System sind. Ihr Lieben, glaubt mir, es war nichts vorbereitet. Wie die Bienen kamen sie aus den Fabriken und Häusern. Unbekannte Menschen umarmten sich gegenseitig. Rüttelt auch bei Euch die Herzen der Menschen auf, helft uns. Allein können wir es nicht schaffen. Es ist doch auch Eure, also unserer aller Sache.
Ich hoffe, dass Euch mein Brief erreicht und Euch ein Bild von unserem Kampf und unserem furchtbaren Elend gegeben hat. Für die Margarine und das andere Gute meinen innigsten Dank. Wir nehmen gern alles entgegen, wenn ich mich auch manchmal dessen schäme, aber wir haben jetzt Tage hinter uns, wo es kein Brot gab, von Fettigkeiten gar nicht zu sprechen. Diejenigen, die Geld haben, haben die paar Lebensmittel in der HO aufgekauft und wenn es Gemüse gibt, stehen Schlangen, alles ist teuer und schnell alle.
Ja, etwas gibt es bei uns: Viel Hunger und viel Panzer!!!!
Euer Pappa Quelle: Ostpreußenblatt, Folge 20, vom 15.07.1953
Die DDR umfasste die sowjetische Besatzungszone und den sowjetischen Sektor von Berlin, obwohl für die deutsche Hauptstadt das Viermächteabkommen über Berlin
galt und von den Siegermächten rein rechtlich nur gemeinsam verwaltet werden durfte. Aber das kümmerte im Kalten Krieg den Kreml und das SED-Regime überhaupt nicht.
Den hunderten stählernen Kriegsmaschinen mit Kanonen und Maschinengewehren standen hauptsächlich Arbeiter, aber auch viele andere Menschen aus allen Schichten des Volkes protestierend und schutzlos gegenüber. Ihre physische Bewaffnung: Bloße Fäuste, Stöcke und Steine wie schon bei den Urmenschen, vielleicht hier und da ein Molotow-Cocktail als ihre modernste Waffe. Aber sie besaßen unbesiegbare, geistige Waffen: Unbändigen Freiheitswillen, die Menschenrechte und den gerechten Zorn auf das verhasste, diktatorische Regime, das sich nicht auf die Mehrheit des Volkes, sondern auf die hochgerüstete, sowjetische Besatzungsmacht stützen konnte. Die Bonzen der Sozialistischen Einheitspartei
(SED) in unheiliger Allianz mit dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund
(FDGB) forderten immer höhere Arbeitsnormen bei gleicher Bezahlung. Sie ernannten linientreue Hennecke-Typen
Adolf Hennecke wurde, nachdem der jüngere Bergmann Franz Franik die Durchführung einer Hochleistungsschicht abgelehnt hatte, da er die Reaktionen seiner Kollegen auf die von oben
angeordnete Sonderschicht fürchtete, vom Revierdirektor ausgewählt, um nach dem Vorbild des sowjetischen Bergmanns Alexei Stachanow eine Aktivistenbewegung in der sowjetischen Besatzungszone (später DDR) zu initiieren. Hennecke war 43 Jahre alt, SED-Mitglied und hatte eine Parteischule besucht. Anfangs weigerte er sich, da er befürchtete, dass ihm die Arbeitskollegen diese Aktion übelnehmen könnten (was dann auch in Form des Rufes Normbrecher
geschah). Aber später erklärte er sich bereit, seine Hochleistungsschicht zu fahren.
Hennecke fuhr in den Karl-Liebknecht-Schacht des Lugau-Oelsnitzer Steinkohlenreviers ein und förderte am 13. Oktober 1948 statt der üblichen 6,3 Kubikmeter (Hauer-Norm) in einer gut vorbereiteten Schicht 24,4 Kubikmeter Kohle. Die Abbaustelle hatte er sich am Tag zuvor ausgesucht. Damit erfüllte er die Arbeitsnorm mit 387 Prozent. Für diese Leistung erhielt Hennecke 1,5 Kilogramm Fettzulage, drei Schachteln Zigaretten, eine Flasche Branntwein, 50 Mark Geldprämie sowie einen Blumenstrauß des Kollektivs. Diese Normübererfüllung wurde zum Auslöser der sogenannten Hennecke-Bewegung. Ein Jahr später erhielt Hennecke 1949 als eine der ersten Personen den neu gestifteten Nationalpreis der DDR I. Klasse, der mit 100.000 Mark dotiert war.Quelle: Wikipedia (angebliche Normübererfüller) zu Helden der Arbeit und dekorierten sie mit großem Pomp.
Das vorläufige Ende ist bekannt: Ein Blutbad mit vielen Toten und Verwundeten, Verhaftungen, Zuchthaus und Hinrichtungen, Menschenverachtung, Willkür und dumpfe Knechtung des Geistes ‒ weitere quälende 36 Jahre lang.
Aber es war Gott sei Dank nicht das endgültige Ende des Freiheitskampfes, denn am 9. November 1989 trugen die freiheitsliebenden Menschen mit dem Fall der blutgetränkten Mauer ihren überwältigenden Sieg über die Unterdrücker davon. Millionen weinten vor Freude und Rührung, weil Hunderttausende unbeirrt, unermüdlich und vor allem friedlich demonstriert hatten. Ihre Waffen: Wir sind das Volk!
Keine Gewalt!
Deutschland einig Vaterland!
Montagsgebete und Kerzen gegen Prügelknechte und Maschinenpistolen. Die Menschen hatten inzwischen gelernt, wie eine Wende unblutig gelingen kann.
Willy Brandt am Brandenburger Tor: Hier wächst zusammen, was zusammengehört.
Für mich ein Weltwunder. Eine siegreiche Revolution ohne einen einzigen Schuss. Ein Triumph des Geistes. Wann gab es das?
Wie gut, dass die Abgeordneten im Bundestag der Bundesrepublik Deutschland damals den 17. Juni zum Tag der deutschen Einheit und zum gesetzlichen Feiertag erklärt hatten. Somit ist über Jahrzehnte hinweg immer wieder an die Hoffnung und den Wunsch nach Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands in Frieden und Freiheit erinnert worden.
Von den Ereignissen damals vor 60 Jahren im Jahre 1953 habe ich anfangs ganz wenig mitbekommen. Wir, die Oberprima, hatten gerade unsere zweiwöchige KlassenfahrtLesen Sie auch:
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durch Süddeutschland per Fahrrad beendet und arbeiteten sie auf. Während der Fahrt waren wir auf die vielen kulturellen Sehenswürdigkeiten, auf die wir uns gründlich vorbereitet hatten, fixiert und alles andere war Nebensache für uns. Natürlich gehörten auch regionale Köstlichkeiten wie zum Beispiel der Äppelwoi und die unerhört vielen Biersorten dazu. Die Neuigkeiten im Weltgeschehen erreichten (und interessierten) uns in diesen Wochen sehr, sehr spärlich; meistens nur das, was wir während der Fahrt mündlich aufschnappten.
Denn was die Nachrichtenversorgung betraf, darf man es sich nicht so wie heute mit dem Überfluss an Meldungen und Meinungen vorstellen. Als Standard galten Radio mit wenigen Sendern und dünne Tageszeitungen, aber auch nicht für jedermann erschwinglich. Die BILD-Zeitung steckte noch in den Kinderschuhen, kostete 10 Pfennig für vier Seiten, war aber nicht sonderlich angesehen bei den sogenannten Gebildeten wegen ihres Sensationsstils mit wenig Substanz. Hätte ich mich im Unterricht auf sie berufen, wären die Folgen für meine Deutschnote unabsehbar gewesen. Fernsehgeräte waren absolute Rarität. Es muss schon als Sensation bewertet werden, dass wir in einer der Jugendherbergen, in denen wir übernachteten, die Inthronisation der britischen Königin, Queen Elisabeth II, auf einem winzigen Schwarz-Weiß-Fernsehschirm gucken konnten. Farbfernseher gehörten noch nicht zum Stand der Technik.
Zu Hause angekommen, erfuhr ich nur, dass in Berlin in der Stalinallee die Bauarbeiter gegen das um 10% erhöhte Arbeitspensum bei gleichem Lohn tagelang gestreikt und russische Panzer die sogenannten Krawalle
blutig beendet hätten. Nach und nach sickerte mehr durch den Eisernen Vorhang und ließ einen politischen Aufstand gegen das Regime erkennen. Die anschließenden Verfolgungen durch die Ulbrichtdiktatur konnte ich mehr erahnen als wissen. Dennoch entstand in mir ein Riesenrespekt vor diesen unerschrockenen Kerlen auf dem Bau, die den politischen Koloss Sowjetunion und die SED-Führungsclique in seinem Trabanten DDR — mit Walter Ulbricht, dem Genossen Ziegenbart mit seiner unverwechselbaren Fistelstimme, an der Spitze — herausgefordert hatten, obwohl sie eigentlich voraussehen konnten, dass er im Kalten Krieg kein Pardon geben würde.
So geschehen auch im Jahre 1956 beim blutig niedergeschlagenen Volksaufstand in Ungarn mit tausenden Toten, wo Imre Nagy, der Regierungschef, der dem Kommunismus ein menschliches Gesicht geben wollte, (nachdem ihm schon der Gulaschkommunismus
geglückt war) belogen, gefangen und hingerichtet wurde. Wie die meisten Deutschen war auch ich ungeheuer wütend auf die skrupellosen sowjetischen Führer im Kreml, die jedes kleine Abweichen von ihrer politischen Linie mit eiserner Faust zerschmetterten. Viele ungarische Freiheitskämpfer konnten vor den Häschern des Regimes ins Ausland fliehen. Wenn wir einen von ihnen in den Kneipen gewahr wurden, konnte der sich vor anerkennendem Schulterklopfen und Freibier nicht retten.
1968 wurde in der damaligen Tschechoslowakei der Prager Frühling
durch den Warschauer Pakt mit Panzern zermalmt, Truppen der deutschen Volksarmee nahmen auch daran teil. Was wir in der Bundesrepublik Deutschland als fürchterliche Schmach empfanden, wurde in der DDR als Sieg des Sozialismus gefeiert. Alexander Dubček, die politische Leitfigur, hatte unwahrscheinliches Glück, indem er nicht den Tod fand, sondern nur degradiert und auf einen unbedeutenden Posten in der Forstverwaltung abkommandiert wurde. Viel später jedoch rehabilitiert.
Lech Walesa, Führer der Gewerkschaft Solidarnosc in Polen, der auch zur Leitperson eines Volksaufstandes geworden war, kam ebenfalls mit dem Leben davon. Zwar ließ ihn Präsident Jaruzelski (immer mit Sonnenbrille) Anfang der 1980er Jahre inhaftieren und das Kriegsrecht verhängen (kam damit angeblich dem Einmarsch der Roten Armee zuvor), konnte aber nicht verhindern, dass er später sogar Staatspräsident und Nobelpreisträger wurde.
Unsere Volksvertreter im Bundestag hatten, wie gesagt, den 17. Juni zum gesetzlichen Feiertag erhoben. Seine Bedeutung war den meisten Deutschen in der Bundesrepublik nicht immer so bewusst, wie es hätte sein müssen. Zwar wurde er auf politischer Ebene immer mit zum Teil großen Reden und Veranstaltungen begangen, aber die große Masse der Bevölkerung verwendete ihn gerne zum Ausruhen, Vergnügen und zu Ausflügen ins Grüne, denn die Jahreszeit ist günstig.
Fast hätte ich an eine Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit in meinem Leben nicht mehr geglaubt. Aber der 17. Juni blieb ein geistiges Mahnmal und ein wichtiges Symbol der Hoffnung. Wie gut. Die Hoffnung ging in Erfüllung. Der 09. November 1989 hat gezeigt, dass diktatorische Regime gegen das Volk nicht dauerhaft bestehen können.
Behalten wir den 17. Juni 1953 gut in Erinnerung. Er hat uns die Hoffnung bewahrt.