Norddeutsche Bergtouren
Anfang 1986 trat ich dem Deutschen Alpenverein bei, der Sektion Hamburg. Erstaunlich, dass hier im Norden gleich zwei Sektionen existieren konnten, Niederelbe und Hamburg, die damals bereits viele Mitglieder hatten. Auch in Kiel und Cuxhaven gab es Bergsteiger, spöttisch als Flachlandtiroler
bezeichnet, die in den Alpenvereinen ihrer Städte organisiert waren.
So lernte ich Claus kennen, der berüchtigt war für seine geführten Touren. Im April 1986 durfte ich als Neuling im Alpenverein an einer seiner norddeutschen Bergtouren
teilnehmen. Treffpunkt war am frühen Vormittag nördlich von Neßmersiel an der Strandstraße, die zum Fähranleger der Baltrumfähre führt. Die Fahrzeuge blieben in Neßmersiel und wurden im Ort abgestellt. Alle Teilnehmer, die Gruppe umfasste ungefähr zehn oder zwölf Personen, waren pünktlich, denn es wurde grundsätzlich nicht auf Nachzügler gewartet. Wer zu spät kommt ...
Claus war ein großer Kerl mit gewaltigem Brustkorb und mächtiger Stimme, Leiter der Bergsteigergruppe und später Vorsitzender der Hamburger Sektion. Er führte seine Gruppe jetzt in das Wattenmeer und herüber zur Insel Norderney. Zwei Stunden vor Niedrigwasser ging es los, und er stampfte mit mächtigen Schritten und in kurzen Hosen schnell voran. Das Wetter war recht wechselhaft, sonnige Abschnitte wechselten mit Schnee- und Hagelschauern, insgesamt war es noch sehr kalt. Aber diese Gymnastik
sorgte für gute Durchblutung und wir froren nicht. Die erfahrenen Wattläufer hatten leichte Turnschuhe, Neoprensocken, Skiunterwäsche und leichte Regenbekleidung für diese Touren empfohlen, man war ja in Bewegung und die Regenpelle hielt den Wind ab, sodass die Bekleidung als Kälteschutz völlig ausreichte.
Das Fahrwasser wurde gequert, dort lief das Wasser immer noch kniehoch ab und es war sehr schlammig, dann befanden wir uns wieder auf dem hohen Watt und erreichten die Insel Norderney an ihrem östlichen Ende. Dort befand sich das Wrack eines Löffelbaggers, der vor Jahren hier ein auf Grund gelaufenes Schiff bergen wollte und sich selbst nicht mehr aus dem Sand befreien konnte. Im Schutze des rostigen Schiffsrumpfes verspeisten wir unsere mitgebrachte Verpflegung und Claus drängte dann zum Aufbruch mit den Worten: Die Flut kommt und wir wollen doch nicht zurückschwimmen — oder
? So waren wir kurz nach Einsetzen der Flut wieder am Hafen von Neßmersiel. Das war meine erste norddeutsche Bergtour
, mit dem Deutschen Alpenverein. Für uns, die wir für unsere kurze Urlaubszeit in den Bergen ganzjährig trainieren mussten, waren diese Touren mit schwerem Gepäck in schwerem Gelände willkommene Trainingseinheiten und natürlich auch großartige Erlebnisse in einer einmalig schönen Landschaft.
Ein paar Jahre später war ich wieder einmal zu Fuß auf Norderney, diesmal ohne Claus, nur mit einer kleinen Gruppe. Es war geplant, ein ganzes Wochenende auf Baltrum zu verbringen, Norderneys östlicher Nachbarinsel. Das war ein richtiger Familienausflug, die Frauen und einige Kinder gingen mit. Der schwere Rucksack enthielt Zelt, Schlafsack, Isoliermatte, Verpflegung für zwei Tage, den Kocher, Brennstoff und die Kleidung zum Wechseln. Wir waren beim NTB, dem Niedersächsischen Turnerbund, auf dessen Zeltplatz angemeldet. Die Strecke durch das Watt war für alle ohne Probleme zu bewältigen. C.F., Hansi und ich hatten uns aber etwas Besonderes vorgenommen. Als wir auf dem Zeltplatz ankamen, überließ ich das Gepäck meiner Freundin Dörthe, sie durfte auch das Zelt allein aufbauen, denn ich hatte keine Zeit dafür. Mit den anderen beiden machte ich mich sofort wieder auf den Weg zurück durch das Wattenmeer über die Steinplatte nach Neßmersiel, wir überquerten am Staubecken den Spülkanal für die Fähre und machten uns auf den Weg nach Norderney.
Zu dritt und nur mit leichtem Gepäck waren wir sehr schnell und kurz nach dem Einsetzen der Flut bereits an Land und am Wrack des Löffelbaggers. Raus aus den nassen Sachen und rein in die mitgebrachte leichte Bekleidung, Wanderschuhe und Anorak als Windschutz, begannen wir unsere Wanderung rund um Norderney. Immer am Strand entlang wurde hier kein Kompass gebraucht, der Weg nach Westen zum Ort Norderney war nicht zu verfehlen. Im Ort gab es eine Eisdiele, an der wir uns erfrischten, um dann auf der anderen, der südlichen Seite wieder in Richtung Baggerwrack zu laufen. Der Plan war, einmal von Niedrigwasser zu Niedrigwasser um die ganze Insel zu laufen, um dann nach Baltrum zurückzukehren.
Am Bagger angekommen, hatten wir noch eine ganze Stunde Zeit zum Vertrödeln, konnten im Sand liegen und uns die Sonne auf den Bauch scheinen lassen. Zwei Stunden vor Niedrigwasser war Umziehen angesagt und wir machten wir uns auf den Weg zurück durch das Fahrwasser mit dem schlammigen Untergrund an das Ufer des Fährhafens von Neßmersiel. Von hier passierten wir wieder den Spülkanal der Fähre und machten uns zum zweiten Mal an einem Tag auf den Weg nach Baltrum. Eine Stunde später, in der Dämmerung, kamen wir am Zeltplatz an und wurden von unseren Lieben mit heißem Ostfriesentee und Küstennebel
begrüßt.
Nach einem langen Tag, wir waren 17 Stunden unterwegs gewesen und hatten fast 70 Kilometer zu Fuß zurückgelegt, habe ich wirklich gut geschlafen. Den Sonntag konnten meine Freundin und ich auf Baltrum verbummeln, am Strand etwas laufen, zum Baden war es leider noch zu kalt, es war erst Mai.
Nachsatz
Am 1. Januar 1986 wurde das gesamte Wattenmeer von Borkum bis Wangerooge zum Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer erklärt. Der heute einzig genehmigte Weg durch den Nationalpark Wattenmeer zu einer der Inseln führt aus der Erholungszone – Zone III
von Neßmersiel nach Baltrum und ist nicht markiert. Alle Touren, die vom Festland zu den Ostfriesischen Inseln durchgeführt wurden, waren damit nach dem 1. Januar 1986 de facto illegal und werden deshalb in diesem Bericht nicht weiter erwähnt. Ich kann aber sagen, dass ich alle Ost- und Nordfriesischen Inseln kennengelernt habe.
Auf der Rücktour von Wangerooge waren zwei junge Leute mit, die gegen jeden Rat Surfanzüge aus Neopren zum Wattlaufen angezogen hatten. Sie waren, wieder am Festland angekommen, so erschöpft und fertig, dass wir ihnen eine längere Ruhepause zugestanden. Der Schäfer am Deich hatte unsere Fahrzeuge gesehen und uns bei der Polizei als Umweltfrevler
denunziert. Die Polizei hatte offensichtlich kein Interesse, das weiter zu verfolgen und sich mit ihrem Auftauchen vor Ort sehr viel Zeit gelassen. Ich unterstelle einmal, dass gerade diese Leute im Umgang mit dem Tidenkalender geübt waren und wussten, wann sie erscheinen mussten, um Wattwanderer zu erwischen. So haben wir ein Bußgeld für die lange Pause gezahlt, die wir am Deich gemacht haben. Wären wir gleich gefahren, wie alle anderen, wäre das wohl nicht passiert.
Claus war inzwischen erster Vorsitzender des Alpenvereins, Sektion Hamburg geworden und wollte mich aufgrund dieser Verwarnung veranlassen, Widerspruch gegen den Bescheid einzulegen. Er beabsichtigte damit, sich als Interessenverband an dieses Verfahren zu hängen, um die Einrichtung von weiteren Wegen durch den Nationalpark zu erreichen. Das hätte der Verein aber schon lange vor dem 1. Januar 1986 in den damals laufenden Verfahren machen müssen. Deshalb war ich nicht bereit, auf meine Kosten für den Verein die Kastanien aus dem Feuer
zu holen. Weitere Erlebnisse dieser Art und vereinsinterne Intrigen veranlassten mich später, dem Verein den Rücken zu kehren und zu dem Schwur, niemals mehr in meinem Leben einem Verein angehören zu wollen.
Angesichts der vielen jungen Menschen, die nach 2014 aus reiner Abenteuerlust nach Syrien fuhren, um dem IS beizutreten, stelle ich mir heute die Frage, ob die Einführung der Nationalparks Wattenmeer eine wirklich so gute Idee war. Ohne Frage müssen solche sensiblen Landschaften vor Zerstörung geschützt und als Lebensraum anderer Lebewesen erhalten werden. Anderseits sehe ich unser damaliges Tun als ein dringend notwendiges Ventil, dass wir unsere Abenteuerlust ausleben konnten. Wo bleiben die jungen Leute heute? In den vielen Jahren, als wir wattwandern gingen, habe ich nur wenige Gleichgesinnte getroffen, die zu Fuß zu den Inseln gingen. Die meisten benutzten die Fähren, oder das Flugzeug - gut für das Klima. Nach Einführung des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer hatte ich vor Neßmersiel ein hier noch erwähnenswertes Erlebnis: Drei Reisebusse spuckten eine Menge Menschen aus, die sich um einen Mann mit weißer Mütze sammelten. Der Wattführer stampfte voran, mit einer Forke bewaffnet und die vielen, die ihm folgten, pflügten eine 300 Meter breite Schneise in die geschützte Landschaft, die nach nach der nächsten Ebbe zu sehen war. Sieht so der Naturschutz aus, den sich Verbände und Politiker bei Einführung der Nationalparks gewünscht haben?