Freispruch und Junggesellenabschied
Nein, liebe Leserin, lieber Leser, wenn Sie jetzt glauben, einen Artikel über meine kriminelle Vergangenheit lesen zu können, muss ich Sie enttäuschen. Der Freispruch
bezieht sich auf das Ende meiner LehrzeitLesen Sie auch:
Lehrjahre, oder: Fernmelderlehrling bei der Post, die mein Lehrherr offiziell durch Freisprechung
für beendet erklärte. Nach dreieinhalb Jahren wurde aus Fernmeldelehrlingen Junghandwerker, und alle wurden damals, zum 1. Oktober 1968 in ein Beschäftigungsverhältnis bei der Post übernommen.
Als das Ende der Lehrzeit näher rückte, überlegten wir uns, was wir zur Feier des Tages machen könnten und wer von uns zu dieser Feier eingeladen werden sollte. Wir, das waren die Lehrlinge eines Jahrgangs, die, zu einem Lehrtrupp
zusammengefasst, gemeinsam in Fernmeldetechnik ausgebildet wurden. Im Herbst 1968 wurden wir im Außendienst praxisorientiert eingesetzt, um das Fernmeldenetz zu erweitern und, wenn nötig, instand zu setzen. Unser Ausbilder, Herr Albrecht, fuhr den grauen Opel-Blitz, der für diese Wochen unser Transportmittel für Mensch und Material wurde.
Herr Albrecht war ziemlich schwerhörig, wir mussten recht laut und klar mit ihm sprechen und ihn auch dabei ansehen, damit er verstand. Während der Fahrt saßen wir aber in der Doppelkabine des alten Blitzes hinter ihm und machten unsere Späße, wohl wissend, dass er uns jetzt nicht verstehen würde. Dabei loteten wir auch Grenzen aus, wie es wohl alle jungen Menschen tun. Da keine Reaktion vom Fahrer kam, waren wir sicher, dass er unsere Späße zu seinen Lasten nicht mitbekommen hatte. Eigentlich war das nicht böse gemeint, denn wir mochten ihn recht gern, weil er ein verträglicher Mensch war. Deshalb luden wir ihn auch zu unserer Feier nach dem Freispruch
in das Steckenpferd
am Hauptbahnhof ein.
Am 30. September 1968 war es dann so weit, beide Lehrtrupps des Jahrgangs 1965, also zwanzig frisch gebackene Junghandwerker versammelten sich in der Kantine der Lehrwerkstatt am Holstenhofweg. Im Rahmen einer Feierstunde wurde nun das Ende unserer Lehrzeit verkündet. Die Ansprache hielt Herr Waller, den wir hinter vorgehaltener Hand Mandra
nannten, der mit dem dritten Auge auf der Stirn. Die Comic-Figur Mandra
und ihre Abenteuer verfolgte ich in der Hamburger Morgenpost, morgens in der Bahn. Während der Feier wurden wir einzeln aufgerufen und nahmen unsere Lehr- und Prüfungszeugnisse in Empfang. Anschließend erhielt ich einen Arbeitsvertrag als vollbeschäftigter ständiger Arbeiter (Fernmeldehandwerker) im Fernmeldebau und Werkstättendienst
bei der Deutschen Bundespost, beginnend am 1. Oktober 1968.
Am Nachmittag fuhren dann alle ehemaligen Lehrlinge zusammen mit ihrem letzten Ausbilder per U-Bahn Richtung Hauptbahnhof und kehrten im Steckenpferd
ein. Herr Albrecht war natürlich eingeladen. Irgendwann am späten Abend, nach ein paar Bierchen
erzählte er uns etwas über seine Schwerhörigkeit als Folge seiner Soldatenzeit während des Zweiten Weltkriegs. Auch kam nun heraus, dass er unsere Albernheiten hinter seinem Rücken während der Fahrt im Opel-Blitz sehr wohl verstanden hatte. Das war uns etwas peinlich, wurde von ihm aber großzügig verziehen.
Zu Hause war die Freude über meinen erfolgreichen Lehrabschluss groß, brachte ich doch von nun an Geld nach Hause. Meine Eltern waren darüber besonders erfreut, mein Vater sprach jetzt immer wieder davon, dass ich jetzt ja auch finanziell in Lage wäre, Verantwortung für eine Familie zu übernehmen. Überhaupt war das Wort Verantwortung
in den vergangenen Monaten über Gebühr beansprucht worden. Aber ich will den Ereignissen nicht vorgreifen und erzähle der Reihe nach.
Ein Jahr zuvor hatte ich einen ehemaligen Schulkameraden wiedergetroffen, der von seiner Idee zu einem Klassentreffen erzählte und mich bat, doch zu den Ehemaligen
in meiner Nähe Kontakt aufzunehmen. So traf ich Barbara aus meiner alten Schulklasse und wir waren uns sympathisch und aus den zarten Banden wurde etwas Festes
.
Im Jahr darauf, zu Beginn des Sommers gestand sie mir ihre Schwangerschaft, was nun? Beide waren wir noch in der Ausbildung und weder wirtschaftlich noch von unserer Reife nicht in der Lage, über Familiengründung nachzudenken. Wir hatten uns in eine katastrophale Lage gebracht und in meinem Kopf tobte es; Panik, Chaos, Fracksausen, Endzeitstimmung. Die Zukunft erschien mir bedrohlich, und voller Beklemmung fragte ich mich: was soll jetzt werden, wie geht es weiter?
Ich will nicht behaupten, dass ich mir über Lebensplanung Gedanken gemacht hatte, ich war doch gerade erst 19 Jahre alt geworden, ließ mich treiben, war aber voller Neugier auf das Leben. Ich hatte mir als Nahziel vorgenommen, in diesem Jahr meine Lehre zu beenden, hoffte danach auf eine feste Anstellung, dann eigenes Geld zu verdienen, um wirtschaftlich unabhängig, sobald ich volljährig war, das Elternhaus verlassen und selbstbestimmt leben zu können. Eine feste Bindung einzugehen, gar die Verantwortung für eine Familie zu übernehmen, gehörte für mich nicht zu dem, was man Lebensplanung
nennt, falls sich das Leben überhaupt planen
lässt.
Auf dem Weg zur Selbstständigkeit hatte ich mir für diesen Sommer vorgenommen, das erste Mal in meinem Leben allein in den Urlaub zu fahren. Dazu hatte ich von meiner mageren Ausbildungsvergütung, die im vierten Lehrjahr 182.- D-Mark betrug, etwas beiseite gelegt. Meine schwangere Freundin zeigte keinerlei Interesse, mit mir an die See zu fahren. Für einen Urlaub zu zweit, mit der Freundin, hätte das Wenige, was ich sparen konnte, aber auch nicht gereicht.
Urlaub machen, das kannte ich bisher überhaupt nicht. Ich erinnere mich an das einzige Mal, als ich mit den Eltern einen Tagesausflug an die Ostsee, nach Scharbeutz unternahm. Außerdem natürlich auch an die Male, als ich als Verschickungskind
Lesen Sie auch:
Verschickung nach Heiligenhafen in einem Heim mehrere Wochen untergebracht war und furchtbar unter Heimweh gelitten hatte. Als Urlaub
konnte ich das damals nicht empfinden, im Gegensatz zu meinen Eltern, die glaubten, oder sich einredeten, mir damit etwas Gutes zu tun. Ausdruck meines damals empfundenen Heimwehs und Ausgestoßenseins zeigte sich morgens, wenn mein Bett einmal wieder nass war und ich dafür mal wieder PrügelLesen Sie auch:
Vater und Sohn, ein schwieriges Verhältnis bezog.
Anfang August nahm ich dann einen Teil des mir zustehenden Urlaubs und fuhr per Bahn nach Westerland auf Sylt. Ich hatte dort vor, einen schönen Badeurlaub an der Nordsee zu verbringen und wollte in einer Jugendherberge unterkommen. Meine schwangere Freundin und mein Vater brachten mich zum Abschied an die Bahn, dann dampfte ich mit der Eisenbahn nach Sylt. Damals noch mit den typischen Abteilwagen und einer kohlebeheizten Dampflokomotive vorneweg. Von Westerland ging die Reise mit der Inselbahn nach List weiter, dem Käseschieber
, auch Rasende Emma
genannt, die noch bis 1970 dort fuhr. Der Triebwagen war ein alter Borgward-Lastwagen, wie er in Bremen Anfang der 1950er Jahre gebaut wurde, dahinter war das Abteil für die Fahrgäste auf dem Fahrgestell montiert. Der Fahrer hatte aber kein Lenkrad, saß vorn in der Lkw-Kabine und ließ den alten Diesel heulen.
Mein Zug von Hamburg war ab Hauptbahnhof erst am späten Nachmittag gefahren und in Westerland musste ich noch über eine Stunde auf dem Koffer sitzend auf den Käseschieber
warten, der mich zur Jugendherberge nach List bringen sollte. Blümchen pflücken während der Fahrt verboten
wäre ein passendes Motto dieser Fahrt gewesen, gemächlich zuckelte die kleine Schmalspurbahn mit ihren Fahrgästen nach Norden. Als ich am Lister Bahnhof ausstieg, war die Sonne bereits untergegangen. Mein Klopfen an der Tür der Jugendherberge wurde nicht mehr gehört, es war nach 22 Uhr, als ich dort mit meinem Koffer ankam. Was nun? Wo sollte ich die Nacht verbringen? Ich sah keine andere Möglichkeit, als in den Dünen ein windgeschütztes Plätzchen für die Nacht zu beziehen. Mehre Kleidungsstücke übereinander gezogen, sollte vor der Kälte und dem ständigen Wind schützen. Gegen vier Uhr bin ich von einem klappernden Geräusch aufgewacht, es waren meine eigenen Zähne, wie vor Kälte klappernd aufeinander schlugen. Mit Bewegung am Strand, Kniebeugen und Laufen wurde es mir wieder einigermaßen warm. Als ich dann gegen acht Uhr wieder an der Jugendherberge war, erfuhr ich vom Herbergsvater, dass er mich sehr wohl gesehen und auch mein Klopfen gehört hatte, aus erzieherischen Gründen
die Tür aber geschlossen ließ. Wer nach Zehn kommt, bleibt draußen
, war sein Motto, ohne Ausnahme
. Jedoch habe ich das Frühstück dort noch eingenommen, aber bleiben wollte ich hier nicht, wo es wie Zuhause
war, mit erzieherischen Maßnahmen
, denen ich ja gerade in diesem Urlaub erstmals hätte entkommen können.
Bei diesem, aus einer anderen Zeit übrig gebliebenen Komisskopp
und seinen festen Regeln wollte ich nicht diesen Urlaub verbringen. Also fuhr ich mit der Rasenden Emma
an das südliche Ende der Insel. Kurz vor Hörnum gab es das Schullandheim Puan KlentLesen Sie auch:
Sylter Krabben, das ich 1961 auf einer Klassenfahrt kennengelernt und mich sehr wohlgefühlt hatte. Möglicherweise gab es hier ein Unterkommen, alternativ in der Jugendherberge, die es in Hörnum nach der Beschreibung des Lister Herbergsvaters geben sollte. In Puan Klent wollte man mich aber nicht haben, nur Gruppen und Schulklassen wurden nach vorheriger Anmeldung aufgenommen und die Jugendherberge wurde erst 20 Jahre später in der alten Marinekaserne eröffnet. Es blieb mir nur der Weg zurück nach List und sicher freute sich der hinterlistige Herbergsvater schon auf mein Kommen.
Die Kaserne stand leer und ich fand eine eingeschlagene Scheibe, sodass ich den Fensterriegel öffnen konnte. Nicht gerade komfortabel, diese Unterkunft, aber immer noch besser als nach List in die Jugendherberge zu gehen. Außerdem tat das Alleinsein gut, um die Gedanken und das Chaos in meinem Kopf zu ordnen. Etwas zu Essen konnte ich in Hörnum kaufen, kochen konnte ich allerdings nicht, musste mit der Kaltverpflegung vorliebnehmen. So verbrachte ich eine ganze Woche mit Baden, Wattwandern, Faulenzen in Hörnum. Dann musste ich in mein Elternhaus zurückkehren. Diese Woche Urlaub war mein Abschied vom Junggesellendasein.
Von nun nahm der Druck beständig zu, ich sollte eine Entscheidung treffen, wie mein Leben weitergehen sollte. Wie stellst du dir das vor?
, war immer wieder die Frage. Besonders mein Vater machte ordentlich Wind
, er sorgte beispielsweise dafür, dass ein Verfahren beim Amtsgericht eingeleitet wurde, an dessen Ende ich vorzeitig für volljährig und geschäftsfähig erklärt wurde. Ich erinnere mich deutlich an eine Szene, meine schwangere Freundin war bei mir und der Freund und Arbeitskollege meines Vaters zu Besuch. Der nahm sich uns getrennt zur Brust
und las uns gehörig die Leviten. Er sprach von der Verantwortung, die jetzt zu übernehmen sei, von Hochzeit als einzige Möglichkeit des weiteren Lebens, schon um dem Kind einen Namen zu geben
. Damit umschrieb er seine Sorge, das Kind könnte unehelich zur Welt kommen und dieser Zustand dürfte nach dem gesellschaftlichen Verständnis auf keinen Fall eintreten, was würden denn die Nachbarn sagen?
. Ich sollte mich endlich mal erklären und auch Charakter
beweisen. Barbara war nach ihrer Standpauke völlig aus der Fassung und weinte den ganzen Nachmittag bitterlich.
So wurden wir von den Eltern verheiratet, genau so, wie wir vorher von den Eltern auch gelebt
wurden. Mein Canossagang
zu den Schwiegereltern in spe war Ende des Sommers. Ich traf meinen zukünftigen Schwiegervater im Wohnzimmer. Er saß im Wohnzimmer am Fenster im Doppelripp-Unterhemd und löste Kreuzworträtsel. Ohne aufzuschauen, hörte er sich meine Erklärungsversuche an und sagte. Das lässt sich doch auch wegmachen
, das Kind, meinte er. Er war der Einzige, der uns nicht unter Druck setzte und mit diesem, vielleicht herzlos erscheinendem Satz uns beiden eine Entscheidung überließ. Er war der Einzige, der uns wie Erwachsene und nicht wie dumme Gören behandelte. Dieses Verhalten begründete bis zu seinem frühen Tod unser gutes Verhältnis zueinander.
Die Entscheidung für das Kind und gegen ein Wegmachen
fiel einsam, das heißt ohne mich, wie so viele andere einsame Entscheidungen meiner Frau später in der Ehe, ich fühlte mich wie ein Möbel
. Meine Schwiegermutter in spe bestand darauf, dass ihre Prinzessin
auch kirchlich getraut wurde. Am liebsten wäre es ihr gewesen, hätte sie in Weiß
geheiratet. So ließen wir zu, was die Eltern sich ausgedacht und gewünscht hatten und heirateten am 18. Oktober 1968, knapp drei Wochen nach meiner Freisprechung
, um zehn Uhr standesamtlich im Ortsamt Fuhlsbüttel, am Nachmittag kirchlich in der Broder-Hinrich-Kirche in Langenhorn. Meine Frau in einem hellblauen duftigen Kleidchen und im achten Monat schwanger. Ich empfand es als eine Farce, eine Posse, die wir aufführen mussten, damit meine Schwiegermutter sich ein paar Tränchen aus den Augen pressen konnte. Dass sie auf dieser kirchlichen Posse bestand, habe ich ihr nie verziehen, unser zukünftiges Verhältnis blieb frostig.
Nach der Hochzeit wurden wir frisch Vermählten im Hotel Tomfort untergebracht, dort verbrachten wir unsere Hochzeitsnacht
. Doch wo sollte das Paar jetzt wohnen? Meine Eltern hatten im Haus am meisten Platz und in meinem Kinderzimmer ein Ehebett für uns aufgestellt. Jetzt, mit dem Trauschein durfte das sein, vorher hätte es meinen Eltern als Kuppelei
ausgelegt werden können und das war damals noch strafbar! Als Kuppelei
wurde dem Gesetz nach der außereheliche, auch vorehelicher Geschlechtsverkehr verstanden, Unzucht
genannt. Erst im Juli 2017 forderte eine, vom damalige Bundesjustizminister eingesetzte Kommission, den § 180 StGB zur Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger, im Volksmund Kuppeleiparagraf
genannt, gänzlich zu streichen; er gehöre als alter Zopf endlich abgeschnitten
.
Jetzt, mit dem Trauschein, boten uns meine Eltern die sechseinhalb Quadratmeter an, um dort in ihrem Haus zusammen zu wohnen. Eine andere Möglichkeit ergab sich für uns nicht. Unser Sohn wurde am 1. Dezember, es war ein Sonntag, geboren. Er hatte sich viel Zeit gelassen, der berechnete Geburtstermin lag eine ganze Woche vorher. In der Nacht des 30. November kündigte sich der Nachwuchs durch heftiges Treten an und ich brachte meine Frau ins Allgemeine Krankenhaus Heidberg, wo die Geburt eingeleitet wurde. Als ich am Sonntagmorgen auf der Station anrief, um mich nach dem Zustand meiner Frau zu erkundigen, beglückwünschte mich die Krankenschwester mit den Worten: Herzlichen Glückwunsch, Sie haben einen dicken Sohn bekommen
. Am Nachmittag konnte ich ihn bewundern, es fühlte sich an, wie in einem Theater. Ich musste mich bei einer Schwester mit Schürze und weißem Häubchen anmelden und vor einer Fensterscheibe warten, bis auf der anderen Seite ein Vorhang aufging und mir mein Kind gezeigt wurde. Tatsächlich, ein ganz schöner Brocken und mit ganz vielen schwarzen Haaren auf dem Kopf. Auch sah ich dort eine Verformung an dem kleinen Köpfchen, die mich beunruhigte. Das kommt von der Saugglocke, mit der er
, erklärte mir die Krankenschwester, geholt
wurdedas bildet sich ganz schnell wieder zurück, machen Sie sich keine Sorgen
. Dann ging der Vorhang wieder zu. Diese kleinen Händchen anfassen? Ich hätte es zu gern gemacht, es blieb mir versagt.
Auf dem Rückweg brachte ich meinen Schwiegereltern, Fritz und Else die frohe Botschaft. Mein Schwiegervater war entzückt, ich kam nicht daran vorbei, mit ihm auf den neuen Erdenbürger anzustoßen. Mit Koks. Das war kein Brennstoff für den Ofen, hatte auch nichts mit Kokain zu tun, in ein Schnapsglas kam ein Stück Würfelzucker, darauf eine Kaffeebohne, dann wurde mit Rum aufgegossen. Es gab mehr als einen …
Nach einer Woche kamen Frau und Kind nach Hause und das Drama begann. Meine Eltern hatten im Obergeschoss unseres Hauses, die Zimmer neu aufgeteilt. Mein Kinderzimmer wurde für uns Frischvermählte zum Schlafzimmer, der große Raum, der mal das Zimmer meiner Schwester gewesen war, wurde zum Kinderzimmer, dahinter lag das Schlafzimmer meiner Eltern. Wurde der kleine Mann in der Nacht wach und schrie, wegen Hungers, oder weil er die Windeln voll hatte, rief das sofort nicht nur uns, sondern auch seine Großeltern auf den Plan. Da standen wir zu viert um das Bettchen herum, das Kind wurde auf den Arm genommen, um herauszubekommen, was ihm fehlen würde. Und wir bekamen dabei Hilfe. Auf uns unerfahrene junge Eltern prasselten jetzt die Erziehungsregeln nach Johanna Haarer nieder: Man soll das Kind schreien lassen, das kräftigt die Lungen
. Oder: Wer sein Kind bei jedem Schreien auf den Arm nimmt, verzieht es, das ist später nicht mehr gutzumachen.
Wir hörten noch viele dieser gutgemeinten
Ratschläge, allesamt aus dem Buch Die Mutter und ihr erstes Kind
der Johanna Haarer. Einer herzlosen Mutter und Kinderärztin, die mit ihren Thesen Hitler in die Hände spielte, der sich eine Jugend hart wie Kruppstahl, flink wie Windhunde und zäh wie Leder
wünschte, in einer Rede, die er am 14. September 1935 vor 50.000 Hitlerjungen hielt. Um eine Generation aus Mitläufern und Soldaten heranzuziehen, forderte das NS-Regime damals von den Müttern, die Bedürfnisse ihrer Kleinkinder gezielt zu ignorieren und sie mit Liebesentzug und auch Gewalt zu bestrafen. Aber diesen geschichtlichen Hintergrund kannte ich damals noch nicht, darauf bin ich erst sehr viel später durch die Arbeit in der Erinnerungswerkstatt gestoßen.
Mich beseelte aber damals schon der Wunsch, es anders und besser zu machen, als meine Eltern. Meine Kinder sollten zur Durchsetzung des elterlichen Willens keine Prügel bekommen, ich wollte vielmehr der Freund
meines Sohnes werden, weniger der allmächtige Vater. Deshalb verlangte ich auch nicht, das er mich Vater, oder Vati nennt, wir hatten doch alle einen Vornamen, bei dem wir uns nannten, warum sollten die Kinder das nicht auch machen dürfen?
Dort in dem Durchgangszimmer spielte sich alles unter den wachsamen Augen meiner Eltern ab, beispielsweise das tägliche Baden des Kindes. War ich aufgewachsen mit einer Waschküche, darin ein kohlebeheizter Waschkessel für Badewasser und Wäsche, gab es seit dem Anbau des Hauses 1960 einen strombetriebenen Durchlauferhitzer. Jeden Abend trug ich eimerweise frisches warmes Badewasser für unser Kind in den ersten Stock und goss es in die Kinderbadewanne aus Kunststoff. Nach dem Baden trug ich das Wasser wieder herunter in die Waschküche. Alles unter den Augen meiner Eltern und nicht ohne deren Kommentare zu allem, was wir taten, anzuhören. Nichts war in Ordnung, wir machten so ziemlich alles falsch.
Ganz in der Nähe, dort wo Schleswig-Holstein anfing, waren auf den ehemaligen Getreidefeldern des Dorfes Glashütte ab 1965 Wohnungen gebaut worden. Ich hatte eine Annonce in der Tageszeitung gelesen, in der Mieter für freie Wohnungen gesucht wurden. An einem Wochenende gingen meine Frau und ich dorthin und trafen uns mit einem Vertreter der Interwohnbau
in Glashütte. In der Mittelstraße 10a, dritter Stock rechts, war eine Zweizimmerwohnung freigeworden, sie war hell und freundlich, groß genug für uns drei und vor allem schien sie mir bezahlbar. Da wir unseren Trauschein und meine Volljährigkeitserklärung des Amtsgerichts, außerdem noch die Gehaltsabrechnung meines Arbeitgebers vorlegen konnten, bekamen wir die Wohnung am selben Tag zugesprochen und ich unterschrieb für uns beide den Mietvertrag. Das Absurde daran war, dass ich aufgrund der vorzeitigen Volljährigkeit nun allein geschäftsfähig und de facto sogar der Vormund
meiner Frau geworden war, heute ist das unvorstellbar!
Was erhob sich für ein Geschrei, als ich meinen Eltern eröffnete, dass wir am 1. Januar, also in knapp zwei Wochen eine eigene Wohnung beziehen würden. Das schafft ihr nie!
, brüllte mein Vater, schon finanziell nicht!
! Auf den Gedanken, uns finanzielle Hilfe zu gewähren, kam er nicht. Den Mietvertrag machst du sofort rückgängig
, herrschte er mich an, ich komme auch mit und mache den Vermieter zur Schnecke
, ereiferte er sich weiter. Als ich ihn ruhig anschaute und ihn darauf hinwies, dass ich voll geschäftsfähig und volljährig bin, erkannte er wohl erst die ganze Tragweite der von ihm selbst beim Amtsgericht angeleierten Maßnahmen.
Nun, wir haben es geschafft, entgegen seiner Prognose, oder eben deswegen, aus Trotz, um es ihm zu zeigen, dass er mit seinen Prognosen so oft daneben gelegen hat. Unsere Ehe hat immerhin dreizehn Jahre gehalten. Mit meinem 30. Geburtstag kam für mich die Wende, das war in der Rückschau der Tag, an dem ich erwachsen wurde. Bis dahin bin ich von anderen gelebt worden, danach habe ich angefangen selbst zu leben.
Als ich meinen Eltern 1980 erzählte, wir würden uns scheiden lassen, erhob mein Vater schwere Vorwürfe gegen mich. Wenn wir euch damals nicht geholfen hätten
, war einer dieser unbeendeten Sätze; was genau er damit meinte, blieb mir rätselhaft, von wessen Hilfe sprach er? …