Anno 1941 – Ein ganz gewöhnlicher Sonntag
Wir hatten gerade unsere Schulzeit beendet und machten unser Pflichtjahr
Das Pflichtjahr wurde 1938 von den Nationalsozialisten eingeführt. Es galt für alle Frauen unter 25 Jahren und verpflichtete sie zu einem Jahr Arbeit in der Land- und Hauswirtschaft
.
Die Mädchen und Frauen sollten so auf ihre zukünftigen Rollen als Hausfrau und Mutter vorbereitet werden. Darüber hinaus konnte so in vielen Haushalten die fehlende Arbeitskraft der Männer, die als Soldaten im Krieg waren, kompensiert werden. Ausgenommen waren Frauen mit Kindern und Frauen, die ohnehin in diesen Bereichen arbeiteten. Ohne den Nachweis über das abgeleistete Pflichtjahr konnte keine Lehre oder anderweitige Ausbildung begonnen werden.. Weil meine zwei Freundinnen und ich gerne in der Stadt bleiben wollten, hatten wir uns rechtzeitig um eine Stelle bei Familien mit Kindern beworben und auch gefunden.
Immer wenn wir zusammen einen freien Sonntag hatten, unternahmen wir auch etwas gemeinsam. Es waren Ende Juni schon schöne warme Tage und wir beschlossen, am Sonntag, dem 22. Juni 1941 einen Ausflug ins Billetal zu machen. Es ging früh los, denn wir wollten ja einen langen Tag genießen, baden, sonnen und ...mal abwarten, was sich so ergab.
Wir waren mit unseren Fahrrädern schon früh am Vormittag in der Nähe von Reinbek angekommen, als sich die Bahnschranke für den Zug Hamburg - Berlin schloss, und wir warten mussten. Der Zug kam ziemlich langsam angezockelt. Wir wunderten uns, denn hier hätte er normalerweise schon eine höhere Geschwindigkeit haben müssen. Aber es war kein Personenzug, sondern ein ... Urlauberzug?! Junge Soldaten saßen oder standen in den offenen Waggontüren und winkten uns fröhlich zu und wir winkten zurück. Manche warfen uns kleine, in Papier gewickelte Steinchen zu. Wir kannten das. Auf den Zettelchen stand dann: Dienstgrad, Name, Feldpostnummer und die Bitte: Schreib doch mal!
Wir sammelten eifrig, der Zug war durch, und nun würden wir ja auch gleich weiterfahren können. Aber die Schranke ging nicht hoch. Der nächste Urlauberzug kam und noch ein Zug und noch ein Zug. Als sich reichlich Menschen zu Fuß und mit Rädern vor der Schranke angesammelt hatten ging die Schranke hoch. Alle konnten die Gleise überqueren und dann ging die Schranke sofort wieder runter. Wir warteten und einige Mädchen noch mit uns.
Der nächste Zug kam! Vom Schrankenwärter wurden wir sehr unfreundlich aufgefordert: Nun fahrt endlich mal weiter.
Wir kannten uns in dieser Gegend sehr gut aus und suchten uns einen Platz am Wasser, wo wir auch die Bahnlinie sehen konnten.
Es kamen noch sehr viele Züge an diesem Sonntag. Urlauberzüge, der planmäßige D-Zug nach Berlin, Güterzüge mit geschlossenen Waggons auf denen mit weißer Farbe geschrieben stand: RÄDER MÜSSEN ROLLEN FÜR DEN SIEG
, offene Waggons mit Geschützen, Panzern und dazwischen immer wieder Züge mit Soldaten.
Irgendwann wurden wir müde. Der Sonntag war mit einem Male so - bedrückend. Wir machten uns auf den Heimweg und fuhren immer an der Bille entlang - bloß keine Züge mehr sehen müssen.
Zuhause meinten meine Eltern, …was — so früh schon zurück?
Ich erzählte ihnen von den vielen Zügen mit Urlaubern
und — überhaupt - von diesen vielen Zügen?!
Urlauberzüge? — In welche Richtung fuhren die denn?
, fragte mein Vater. … die Strecke nach Berlin
, sagte ich.
Jaaa
, sagte mein Vater, das waren keine Urlauberzüge nach Berlin. Die fahren weiter. Die müssen nach Moskau! Wir haben Krieg mit Russland.
O, Gott - da war aber doch dieser Nichtangriffspakt!?
Es war also kein ganz gewöhnlicher Sonntag, dieser 22. Juni 1941 …