Leben auf engstem Raum
Unser Haus mit sechs Zimmern durften wir im und nach dem Krieg nicht allein bewohnen, wir mussten an Hamburger Ausgebombte und an Flüchtlinge aus den Ostgebieten Zimmer vermieten. Das war auch in Ordnung. Es gab aber Dinge, die wir nicht so einfach hinnahmen – nicht konnten und auch nicht wollten.
Unser Haus war nicht für 13 Personen gedacht. Es gab nur eine Toilette, die alle benutzen mussten. Das hatte aber einen ganz gravierenden Haken, den mein Vater sofort erkannte. Mit den zwei Hamburger Rentnern gab es keine Probleme, sie zogen noch vor Ende des Krieges wieder in eine eigene Wohnung. Aber als bei uns immer mehr Flüchtlinge zwangseinquartiert wurden, schaffte das unser Brunnen nicht mehr.
Man muss wissen, dass es damals in Garstedt noch keine örtliche Wasserversorgung gab – sie wurde erst 1959 gebaut – und an Abwasser war noch gar nicht zu denken. Unser Brunnen neben dem Haus war mit Pumpe und großem Kessel im Keller unsere einzige Frischwasserquelle. Nebenbei bemerkt, mein Großvater war Wünschelrutengänger, der vielen Menschen gesagt hat, wo sie ihren Brunnen bauen sollten, und mit Erfolg. Daran hat sich unser Brunnenbauer nicht gehalten.
Mein Großvater konnte auf unserem unterirdischen Brunnen stehen, die Wünschelrute schlug nicht aus. Mein Vater beauftragte unseren Nachbarn, den Tischler Wilhelm Timm, ein Klo zu bauen mit Herzchen in der Tür. Das kleine Häuschen wurde auf unserer Jauchekuhle mit einem Tonrohr installiert. Das Nachbargrundstück war damals noch der Garten des Strohdachhauses, das zirka 100 Meter entfernt war. Man konnte also in Ruhe dort sitzen, die Tür offen lassen und in den Garten sehen.
Die Geschichte wird erst komisch, weil wir, also unsere Familie, dieses Klo benutzten – aber ein Teil unserer Einwohner nicht daran dachte, das auch zu tun. Da hat mein Vater am Tage die Klotür im Hause abgeschlossen. Übrigens war es selbstverständlich, dass wir das neue Klo bezahlen mussten. Auch einen weiteren Kochherd für die Einwohner mussten wir stellen und bezahlen! Und Geschirr hatten die meisten Einwohner auch nicht, von Betten ganz zu schweigen. Aber wenn man sie fragte, wie viele Betten sie zu Hause hatten, dann gaben sie zur Antwort: Jeder hatte sein eigenes.
Und wir mussten ihnen Betten stellen – wir hatten nur sechs, fünf für die Familie und eines für Oma, wenn sie zu Besuch aus Dänemark kam. Und jetzt sollten wir ihnen allen ein Bett stellen mit Matratzen! Wie sollten wir das machen?
Es wurde von den Einheimischen viel verlangt, oft mehr als sie geben konnten. Dass es dabei zu Spannungen kommen konnte - oder besser – musste, ist doch nicht verwunderlich! Und von der Miete konnte man nichts kaufen, erstens weil es nichts gab und zweitens, weil die Mieten lächerlich klein waren.
Eine Frau mit zwei Kindern wohnte bei uns. Der haben wir ein Stück Land, das wir von unserem Onkel gepachtet hatten, abgegeben. Sie hat es mit Freuden angenommen und das Gärtnern bei uns gelernt. Dafür war sie uns immer dankbar und als sie auszogen im eigenen Garten am Reihenhaus praktiziert.
Einmal fanden sie und mein Vater ein angeschossenes Reh, das noch lebte, aber nicht mehr laufen konnte. Sie kam ganz aufgeregt bei uns an, verlangte ein großes Messer und holte unseren Nachbarn dazu. Sie haben das Tier von seinen Qualen erlöst, und es gab bei den drei Familien mitten in der schlechten Zeit Rehbraten. Das erzähle ich heute zum ersten Mal.
Eine alleinstehende Frau, die ein kleines Zimmer bei uns hatte mit fließend Wasser, da dort ein Waschbecken installiert war, hat uns eine lange Zeit bestohlen. Erstens verbrauchte sie Strom, der ihr nicht zustand, und von den Vorräten im Keller hat sie sich bei uns und bei den anderen Einwohnern bedient. Wir haben es aber irgendwann bemerkt und konnten es ihr beweisen. Sie wurde bestraft und dann bei einem alten Ehepaar einquartiert. Nach 14 Tagen kam der alte Mann zu uns und fragte, ob sie uns auch bestohlen hätte. Der Erfolg war, dass sie zu ihrer Tochter ziehen musste, da sie unbelehrbar war. Ob das gut gegangen ist, weiß ich nicht.
Der Vater der Kinder, die mit ihrer Tante bei uns wohnten, da die Mutter verstorben war, kam aus belgischer Kriegsgefangenschaft zurück. Es war natürlich unmöglich, dass die beiden Erwachsenen in einem Zimmer schliefen, das ließen moralische Bedenken damals nicht zu. Deshalb schlief der Mann auf dem Flur, wo ihn alle Mitbewohner sehen konnten - das war erlaubt! Später haben sie noch geheiratet und ein ganz glückliches Miteinander gefunden.
Als sie 1951 auszogen, weil die Räume für vier Personen zu klein waren, bekamen wir eine Familie mit fünf Personen hineingesetzt – so konnte es damals zugehen, ohne dass sich jemand darüber aufregte.
Diese neue Familie bestand aus großen Menschen, der älteste Sohn war mit 15 Jahren schon einmeterneunzig, so groß wie sein Vater. Auch die Frau war bestimmt einmeterachtzig groß und die beiden anderen waren auch nicht klein. Wir haben es alle mit Humor getragen und mit dieser Familie oft und gern gefeiert. Leider haben wir keinen Kontakt mehr mit ihnen, obwohl uns der Älteste im vorigen Jahr besuchte. Er wollte einfach mal wieder das Haus sehen, wo er einmal gewohnt hat. Leider hat er die Verbindung nicht wieder aufgenommen.
Heute wohnen mein Mann und ich in unserem Haus allein. Die oberen Räume hatten wir 1959 zu einer Wohnung ausgebaut. Dort wohnten meine Eltern. Wir haben sie nicht vermietet, da unsere Tochter mit Mann und drei Kindern aus Süddeutschland ab und zu Urlaub bei uns machen.
Dann ist Leben in dem sonst so stillem Haus!