Ende 1943 Heimatlos:
Forst in der Lausitz 1944 – Ein Tagebuch
Ich habe 2001 meine Erinnerungen an den Juli 1943 aus der Sicht eines Kindes aufgeschrieben und sie neben das Tagebuch meiner Mutter gestellt.
Muttis Tagebuch, 31. Januar 1944:
Viel hat sich ereignet!
Bis zum September blieben wir in Siek. Dann brachten wir Dich nach Güstrow und Hartmut nach Forst.
Am 11. Dezember 1943 holte Mutti Dich nach Forst, weil Vati auf Urlaub kam. So verlebten wir trotz der Enge unseres Zimmers ein schönes gemeinsames Weihnachtsfest, das für Dich sogar überwältigend war, weil der Weihnachtsmann direkt kam und es doch allerlei Schönes gab. Dein Gedicht sagtest Du sehr nett und ohne Scheu auf.
Am 26. Dezember fuhr Vati nach Wien ab und wir Drei nach Güstrow, wo wir auch vierzehn schöne Tage verlebten. Auf dem Rückwege waren wir noch bei Ristows in Frankfurt an der Oder, wo Du wie überall verwöhnt wurdest. Und dann kam Dein Geburtstag mit einer großen Puppe von Tante Traute. O wie warst Du selig! Sie hieß sofort Inge, wie Deine schöne Puppe in Wandsbek hieß. Und Du betreust sie, wie ein Kind betreut wird.
Du übst viel Schreiben, Druckschrift malst Du schnell und schön nach. Man merkt, die Schulzeit kommt näher! Du bist jetzt 119 cm lang und wiegst 21 Kilogramm.
Meine Erinnerungen an Forst:
Der Weg in die kleine Stadt Forst ging durch einen Wald, und wenn Mutti und ich diesen Weg nahmen und niemand in der Nähe war, wollte ich wie ein Baby auf den Arm genommen werden, und ich fühlte mich dann auch wie ein Baby. Aber sehen durfte das niemand, ich war ja schon groß, so groß, dass ich sogar zur Schule angemeldet wurde, in die gleiche Schule, in die Hartmut ging.
Eines Tages hatte Hartmut sein Pausenbrot für die Schule vergessen, und Mutti und ich entschlossen uns, es ihm hinterherzubringen. Auf dem Weg zur Schule überzeugte Mutti mich, dass ich groß genug sei, allein in die Klasse zu gehen und zu erklären, dass ich das Frühstücksbrot für Hartmut nachbrächte.
Ich hatte ein bisschen Angst davor, denn immer wieder passierte es mir, dass irgendwelche Großen lachten, wenn ich etwas sagte. Da ich aber nun doch schon groß war, überwand ich meine Scheu und wollte lediglich, dass die Klassentür offenblieb, während ich ins Klassenzimmer stiefelte und Mutti draußen auf dem Flur blieb. Und so sagte ich brav mein Sprüchlein auf, dass ich das Frühstücksbrot für Hartmut nachbrächte. Aber o Unglück, ich hatte es geahnt: Ein Riesengelächter erhob sich von all den vielen Jungens und sogar von dem Lehrer, so dass ich machte, dass ich davonkam in Muttis Arme, die aber auch lachte. Was war so zum Lachen gewesen?
Viel später erklärte Mutti mir den Anlass des Gelächters: Die fünfjährige Itte im Klassenzimmer: Ich möchte meinem Sohn das Frühstücksbrot bringen!
Tagebuch 1946, letzter Eintrag 22. Juni 1946
Am 1. April 1946 zogen wir wieder nach Wandsbek in eine richtige Wohnung, lange nicht so schön wie unsere frühere, aber doch eine Wohnung. Und wir bemühen uns, sie langsam wieder auszustatten.
Hier gehst Du in dieselbe Schule, in der Hartmut einst war.
Nun will ich Dein Tagebüchlein beenden.
Kleine Maus, damit hast Du nun für alle Zeit das Wichtigste aus Deinen acht ersten Lebensjahren vor Dir. Ich denke, dass es Dir und später Deinen Kindern viel Freude machen wird, zu lesen, wie Du als Kind warst.
In Liebe: Deine Mutti.