Meine Kindheitserinnerungen an das Kriegsende 1945
… aufgeschrieben 2001. Parallel dazu die authentischen Tagebuchaufzeichnungen meiner Mutter.
Aufdruck auf Postkarten 1944/45:
Der Führer kennt nur Kampf, Arbeit und Sorge. Wir wollen ihm den Teil abnehmen, den wir ihm abnehmen können.
Tagebuch meiner Mutter vom 14. April 1945: (In Güstrow bei ihren Eltern)
Im Januar hörte dann für alle Kinder die Schule auf wegen der Kriegsereignisse. Alle Schulen wurden Lazarett und Lager für die Flüchtlinge aus dem Osten.
Du hattest bis dahin sehr gut in der Schule gelernt (Beginn im September 1944), warst die Klassenbeste, alles begreifst Du spielend, kannst schon recht flüssig lesen und vieles schreiben, das ganze Alphabet habt Ihr gehabt!
Anfang Februar kam Vati sechs schöne Tage, Ende Februar nochmal drei Tage und Mitte März zweieinhalb Tage. Du hast ihn so recht genossen, hast mit ihm gespielt und geschmust, es war so schön.
Dann musste er wieder weg, nach Ungarn. Zuletzt schrieb er aus der Gegend von Brünn.
Und jetzt ist es ganz schwer für uns alle, und wer weiß, wie das alles endet, denn die Russen stehen überall an der Oder und in Schlesien und die Engländer und die Amerikaner an der Elbe. Wir erwarten täglich, dass sie auch uns hier besetzen.
Wer weiß, was dann wird und ob wir Vati nochmal wiedersehen! Wir haben nun hier viel Alarm, oft Tag und Nacht.
Aber Du erfasst Gott sei Dank die Schwere nicht so und bist vergnügt und spielst und tobst den ganzen Tag. Dich, Ebba, Charlotte und ein Nachbarsmädchen unterrichte ich drei Mal in der Woche, damit Ihr weiterkommt. Das macht uns allen Spaß. Und Ihr lernt gern und gut, Du aber bist die unbestritten Beste. Was die Anderen sich erarbeiten müssen, fliegt Dir zu.
Und nun tue ich das Büchlein wieder in den Keller. Wenn noch eine Eintragung hineinkommt, so wird sie hoffentlich von anderen Zeiten berichten, gebe Gott, von besseren. Gott behüte dich, mein geliebtes Kind!
9. Mai 1945:
Ab heute ist Friede, der Krieg ist zu Ende, aber wir haben ihn verloren. Nun müssen wir warten, was uns die Zeit bringt! Die letzten Tage viel kaufen, teils auch ohne Geld. Die großen Lager wurden freigegeben, jeder holte, was er bekam.
Am ersten Mai gegen sechzehn Uhr fiel der erste Schuss, wir flohen alle in die Keller und harrten mit Beben der nächsten Stunden.
Hitler war am 30. April gefallenSo informierte das Reichspropagandaministerium die Bevölkerung, Lügen bis zur letzten Stunde, in Wahrheit begingen der
FührerAdolf Hitler und seine Frau Eva Braun im Führerbunker unter der Neuen Reichskanzlei Selbstmord und entzogen sich damit einer weltlichen Gerichtsbarkeit., die Russen und Amerikaner trafen sich an der Elbe, Berlin war nahezu ganz von den Russen erobert.Es kam nun für uns darauf an: Würde Güstrow laut Befehl verteidigt werden oder kampflos übergeben? Es fielen von Zeit zu Zeit Schüsse. Gegen Abend legten wir uns im Keller schlafen, ChaisenPolsterstühle nannte man Chaisen, das Sofa Chaiselongue (frz. chaise longue
langer Stuhl, gepolsterter Stuhl, der lang genug ist, um die Beine zu stützen). und Betten waren unten, gekocht wurde in der Waschküche.Aber es ging ruhig ab. Kurz vor Mitternacht rollten russische Panzer durch. Dann waren wir unter russischer Herrschaft. Uns ging es noch ganz gut, einige Plünderer kamen, aber nicht viele. In manchen Häusern war es schlimmer. Viele mussten ihr Heim räumen für die Besatzung. Langsam kehrt normales Leben ein. Die meisten Russen sind anständig. Nur zu kaufen gibt es kaum was. Ein Brot erstehen bedeutet drei Stunden Anstehen. Milch gibt's etwas, sonst kaum was. Alle Läden sind leer.
Hoffentlich wird bald alles besser, und Vati kommt gesund wieder. Gas gibt’s wieder, dreimal am Tag, Wasser manchmal, Strom noch nicht. Ihr spielt den ganzen Tag in der Sonne auf dem Hof und seid fein verbrannt.
Meine Erinnerungen an diese Zeit:
Im Sommer nähte Großmutti für mich ein rotes RöckchenLesen Sie auch den Zeitzeugenbericht von Liesel Hünichen: Die knallrote Schürze
, das mir sehr gefiel. Erstaunlicherweise hatten in diesem Sommer viele kleine Mädchen rote Röckchen, und die Erklärung fand ich auch bald:
Niemand hängte mehr die Hakenkreuzfahnen raus, seit der Krieg zu Ende war. Und so wurde der rote Stoff zu Röckchen verwertet, nur das schwarze Hakenkreuz konnte man nicht zu was Anderem umnähen. Für große Mädchen reichte deshalb der Fahnenstoff nicht, weil da immer Streifen schwarz vorgekommen wären. Und das mochte niemand leiden.
In der Vierzimmerwohnung wohnten nun Großmutti und Großvati, außerdem Mutti mit Hartmut und mir, dann kam noch Tante Ellen mit ihrer kleinen Hilde dazu. Tante Ellen sah gar nicht wie eine Mutti aus, eher wie ein großes Mädchen. Aber Hilli war ihre Tochter, und der Vati von Hilli war im Krieg vermisst, und niemand wusste, ob er noch lebte, wie das bei vielen Vatis so war. Ich wusste, dass Hillis Vati Maler war, denn zwei schöne Bilder von ihm hingen in der Großeltern Wohnung. Hillis Vati war Muttis Bruder. Diese Bilder vermittelten mir zeitlebens ein Heimatgefühl, ein Zuhause, so dass ich sie nach dem Tode meiner Eltern mitnehmen durfte. Die Gemälde, eine westpreußische Landschaft und Dorfkirche, machten viele Umzüge mit sogar bis Argentinien.
Als die Russen kamen, liefen alle in den Keller, auch die anderen Muttis und meine Freundinnen aus demselben Haus. Es geschah wieder einmal, dass ich einen Mann weinen sah. Diesmal war es Großvati, und ich wusste nicht, warum er weinte. Denn es fielen keine Bomben, alle waren wir bloß im Keller.
Viele Jahre später erfuhr ich von Mutti den Grund seiner Tränen: Ein Russe hatte Ellen aus dem Keller hinauf in die Wohnung geholt, und Großvati folgte den Beiden. Vor der Wohnungstür wollte er dem Russen verwehren, mit Ellen in die Wohnung zu gelangen, aber der Russe drohte ihm mit Erschießen. Und als Ellen zu ihrem Schwiegervater sagte: Behalte dein Leben, dein Tod würde doch nichts an seiner Absicht ändern können, bitte, geh wieder in den Keller!
folgte Großvati ihrer Bitte.
Durch diesen Bericht wurde mir auch Jahre später eine Äußerung klar, die mich lange Zeit als Siebenjährige bedrückt hatte. Ich bekam den Satz mit: Ellen will unbedingt das Kind loswerden!
Und ich dachte voll Schrecken, dass die kleine Hilli verschwinden sollte. Aber Gott sei Dank blieb sie immerzu da. Und warum Tante Ellen immer wieder von hohen Lastwagen herabsprang, obwohl es nichts nützte
, verstand ich auch nicht. Auch da kam die Erklärung viele, viele Jahre später:
Ein Notgesetz erlaubte es den vergewaltigten FrauenSexuelle Gewalt im Zweiten Weltkrieg umfasste Zwangsprostitution in nationalsozialistischen Lagerbordellen, in Armeebordellen der deutschen Wehrmacht und der Armee Japans sowie Massenvergewaltigungen, die Soldaten der Achsenmächte und der Alliierten im Zweiten Weltkrieg jeweils an Frauen gegnerischer Staaten begingen. Siehe Wikipedia.org, ihr Kind abzutreiben. Ellen war zu dieser Zeit bereits im fünften Monat.
In die Großfamilie zogen dann noch ein russischer Offizier, seine Frau und seine beiden Kinder ein. Das war aufregend! Die Frau war wunderschön, hatte rote Lippen und hieß Nina Kargina. Der Mann hieß Kargin, denn die Russen hängen bei Frauennamen immer ein kleines a
an. Vera war erst vier Jahre alt, aber ich und meine beiden Freundinnen sollten sie immer in den Hof runternehmen und mit ihr spielen. Und es dauerte nicht lange, da verstand Veras Offiziersvati seine Tochter nicht mehr, weil die natürlich deutsch mit den deutschen Kindern sprach, und der Vater konnte nur russisch. Dann war da noch das Baby Alexej. Der Offizier saß auch manchmal in der Küche und brachte mir russische Wörter bei, das gefiel mir sehr. Aber ich habe kein einziges Wort behalten.
Die Russenfamilie bewohnte die zwei Zimmer, die ineinander gingen und hatten damit auch den Balkon, der nach hinten zum Hof hinaus zeigte. Ich bewohnte mit meinem Bruder Hartmut das kleine Zimmer, aber manchmal schlief ich im Zimmer von Großmutti und Großvati auf zwei zusammengerückten Sesseln, was immer besonders lustig war, wenn die Sessel nachts auseinander rutschten, weil ich so wühlte. Und Tante Ellen und Hilli schliefen auch irgendwo, es war wunderbar gemütlich, nie war man allein, nie brauchte man sich zu fürchten.
Wir waren elf Personen.