Tuberkulose oder Typhus?
Nach dem Krieg brach über Deutschland die Tuberkulose wie die Pest herein. Sicher war zum Teil auch der Hunger und die Unterernährung mit daran schuld, außerdem ist diese Krankheit äußerst ansteckend.
Wir waren erst wenige Wochen in unserem
vorpommerschen Dörfchen, als es meine Nichte auch erwischte. Der Arzt kam erst am Nachmittag, wies sie aber sofort ins Krankenhaus ein. Wie vieles nach dem Krieg war dieses auch erst ein Provisorium, das man in der ehemaligen Westkaserne in der Kreisstadt Demmin untergebracht hatte. Wegen der Ansteckungsgefahr durfte man dort natürlich keinen Besuch abstatten. So konnte meine Schwester ihre Tochter auch nicht direkt besuchen. Aber immerhin benachrichtigte man die Patienten und die durften, wenn sie dazu überhaupt in der Lage waren, ans Fenster kommen und man konnte sich dann wenigstens ein paar Worte zurufen. Und weil ja damals alles knapp war, wohl auch die Ernährung im Krankenhaus, war dann auch das erste, was das Mädchen mit Tränen in den Augen meiner Schwester zurief: Mutti, ich habe solchen Hunger!
Welche Mutter weint da nicht mit ihrem Kind mit? Aber auch wir hingen ja am Knabbertuch und hatten selbst kaum was zu essen.
In der Nacht war es noch einmal richtig kalt, die Pfützen auf den Straßen waren gefroren und es war ziemlich glatt. Trotzdem wagte ich am kommenden Morgen ganz früh den Weg ins Nachbardorf zum Bäcker. Vielleicht, dachte ich, vielleicht habe ich ja Glück und kann ein Brot ohne Lebensmittelkarten kaufen, wie gesagt - vielleicht. Ich hatte zwar nichts zum Tauschen anzubieten, aber als ich meine Geschichte kurz erzählte, bekam ich ein ganzes Weißbrot ohne Marken zum normalen Preis. Nachmittags gingen dann meine Schwester und ich wieder nach Demmin zum Krankenhaus, um das Brot ihrer Tochter zu bringen.
Nach einigen Wochen hatte meine Nichte das Gröbste überstanden und sollte nach Haus entlassen werden. Aber wie sie nach Haus kommen würde, darum mussten wir uns kümmern.
Krankentransporte wie heute kannte man noch nicht und Autos durften Deutsche damals nicht besitzen. Im Ort gab es eine Bauersfamilie, die einen gepolsterten Kutschwagen besaß. Die Bäuerin lieh uns den Wagen, sie war als mitfühlend und hilfsbereit im ganzen Dorf bekannt. Und unser Quartierswirt
, lieh uns eines seiner Pferde, um das sich übrigens mein Neffe Otto schon seit längerer Zeit kümmerte.
Am Entlassungstag spannten wir ganz früh das Pferd ein und fuhren durch den neblig-trüben Morgen nach Demmin. Ein bisschen mulmig war uns schon, der Krieg war zwar schon seit gut einem Dreivierteljahr beendet, trotzdem war es doch immer noch eine wilde
Zeit. Aber es ging alles gut und wir kamen mit unserer Genesenden auch wieder wohlbehalten zu Haus an. Also, wir waren heilfroh, brachten die Nichte ins Bett und wollten den Wagen sogleich wieder zurückbringen. Da drängelte meine Schwester, wir sollten doch wenigstens noch Mittag essen, es gäbe Schlunzsuppe
und wenn die kalt ist, schmeckt sie doch überhaupt nicht mehr! Ihre Schlunzsuppe
bestand eigentlich nur aus Wasser, Kartoffelstückchen und einer Prise Salz und trotzdem, bei ihr schmeckte sie immer sehr gut! Wir folgten ihr.
In unserem Dorf wohnte damals auch eine Lehrerin aus Riga. Sie war dort zuletzt Krankenschwester in irgendeinem Krankenhaus und musste ihre Heimatstadt so überstürzt verlassen, dass sie nichts weiter mitnehmen konnte außer das, was sie am Leibe trug, das war die Rotkreuztracht. Da sie niemanden weiter hatte und allein lebte, kam sie gern mal zu uns und durfte auch an unserem Mittagstisch Platz nehmen. Ein Teller Suppe oder ein paar Pellkartoffeln waren für sie immer übrig. Da sie wusste, dass unsere Nichte entlassen werden sollte, kam sie nach der Schule vorbei, um uns zu helfen und blieb natürlich auch zum Mittagessen.
Wie wir nun alle um den Tisch herum sitzen und essen, hörten wir plötzlich ein Pferdegetrappel - aber wie! Ich dachte, da reitet ja wohl gleich jemand die Stufen hoch und ins Haus hinein! Und so war es auch. Vater ließ den Löffel fallen und raus! Da stand ein Kosakenoffizier, sein Rappe war nicht mehr schwarz, der glänzte vor Schweiß. Vater konnte ihn in der Diele abfangen. Der glaubte nun wohl, den Bauern vor sich zu haben. Als Vater ihn auf Russisch anredete, fiel er fast aus den Wolken. Kurz und gut, er musste wohl gehört haben, dass wir hier ein Pferd und einen Wagen hätten und wollte beides konfiszieren. Vater versuchte ihm aber wortreich klarzumachen, dass er kein Recht hätte, dies zu verlangen, rief mir aber durch den Türspalt im ostpreußischen Plattdütsch zu, ich soll dem Bauern sagen, dass er seine Pferde sofort verschwinden lassen solle. Warum im ostpreußischen Platt? Viele Russen sprachen recht gut Deutsch, aber Plattdütsch verstand sicher keiner. Ich also rüber zum Bauern und der bestimmte sofort, dass Otto, mein Neffe und sein Freund Kurt, der sich auch gern bei uns zum Mittagessen einstellte, mit den beiden Pferden schnell über das Feld zum ausgetrockneten Wasserloch reiten sollten. Da der Russe noch immer in der Diele stand und Vater weiter mit ihm diskutierte, bekam der nichts von dieser Aktion mit.
Nun ging es natürlich noch um den Wagen, den hätten wir nicht mehr verschwinden lassen können, deshalb sagte Vater schnell, damit hätten wir vor einer halben Stunde eine Typhuskranke aus dem Krankenhaus abgeholt. So recht glaubte er das wohl nicht, wollte Vater beiseite schieben und ins Zimmer gehen. Da trat wieder unser Schutzengel in Aktion!
In dem Moment, wo er zur Türklinke griff, wurde die Tür von innen geöffnet und heraus kam unsere Lehrerin in voller Rotkreuzuniform. Verdutzt fragte er auf Russisch, ob sie Krankenschwester sei. Da sie aus Riga kam, sprach sie natürlich auch perfekt Russisch und sie antwortete kurz und selbstbewusst mit Da
(ja)! Und dann fragte er weiter, was sie denn hier mache. Sie hatte natürlich den Dialog mit angehört, den Vater mit dem Kosaken geführt hatte, griff sofort den Faden auf und erklärte, dort drinnen läge eine Typhuskranke, die sie betreue und sie lächelte vieldeutig. Den Russen begleitete ein großer Hund, der auf dem Boden lag und hechelte. Ob er beißen würde, fragte die Lehrerin und beugte sich über ihn, der sah sie treu an und dann streichelte sie ihn.
Als der Kosak dies sah, brüllte er sie an, sie solle den Hund in Frieden lassen, machte kehrt, zog den Rappen aus der Diele, rauf auf das schwitzende Pferd und ritt wie der Leibhaftige vom Hof. Jetzt wollte er weder Pferd noch Wagen. Der Hund stand noch in der Diele. Ein Pfiff und raus war auch der.
Nach einer Schrecksekunde schnappten wir uns den Wagen und zogen ihn schnell zu der Eigentümerin rüber. Scheunentor auf, ruck zuck wieder zu, und weg war der Wagen. Das sollte uns nicht noch einmal passieren!
Unsere Schlunzsuppe haben wir dann doch kalt essen müssen, aber sie hat uns nach diesem Vorfall köstlich geschmeckt.