Teil 9 - Moisburg, 1880-1888
Kapitel 4
Missionsfest und Missionskongress
Auch ein Missionsfest feierten wir im Sommer. Jeden dritten Sonntag, wenn vormittags Abendmahlsfeiern gewesen, hatte ich von Anfang an nachmittags Missionsstunde im Konfirmandenzimmer gehalten, wobei die Gesänge von den Klängen des von Dickkopf gegründeten Posaunenchores begleitet wurden, die allerdings mehr gut gemeint als harmonisch waren. Ich hatte ihn von Dickkopf übernommen, konnte mich aber nicht dazu verstehen, selbst wie er zu blasen. Die Leitung ließ ich nach wie vor in den Händen des Schmieds Albers. Elly hielt sich bei den Übungen des Chores, die in meiner Stube stattfanden, die Ohren zu, gewann aber doch mit der Zeit mehr Interesse für ihn und versuchte, seine Leistungen zu lieben. Der Verein krankte aber von vornherein daran, dass die Rekruten, besonders die unter der unverheirateten Jugend, fehlten. Außer Albers gehörte ihm nur noch ein zweiter Ehemann, Albers' Lehrling, und ein Knecht aus einem Außendorf an, der später nach Hermannsburg zog. Ein anderer hatte sich schon um die Zeit, wo ich nach Moisburg kam, in die Elstorfer Gemeinde verheiratet und blieb mit der Zeit auch weg. So schlief der Verein, trotz aller Bemühungen, ihn am Leben zu erhalten, ein. Den ersten Sommer führte er noch ein wenn auch kümmerliches Dasein. Ich ging auch mit ihm eines Sonntagsnachmittags zu einer Zusammenkunft verschiedener Vereine in dem angrenzenden Bremen-Verdenschen, aus dem auch Albers stammte, und hoffte davon neue Anregung. Sie kam aber nicht. Aber als ich in diesem Sommer den Gedanken eines mit Missionsfestes aussprach, fand ich bei den Posaunisten und anderen freudigen Widerhall. In Gemeinschaft mit Kastropp bereitete ich es vor. Doch wurde beschlossen, es in Hollenstedt zu halten, da Elly sich nicht getraute, die Bewirtung der Gäste zu leisten. Vormittags sollte die Feier in der Hollenstedter Kirche sein, nachmittags, nachdem wir im Gasthaus in Hollenstedt Mittag gegessen, in dem Gehölz zwischen Hollenstedt und Moisburg. Kastropp unternahm es, Festprediger für den Vormittag zu laden, den alten Hoppe aus Artlenburg, der einer seiner Vorgänger in Elstorf gewesen und immer noch in geistiger Verbindung mit dieser seiner hiesigen Gemeinde sich hielt. Für den Nachmittag lud ich Brauer und Bartels ein. Es waren wunderhübsche Tage, die ich mit den alten Freunden verlebte. Es war wirklich eine Erquickung nach langem Entbehren. Auch mit Elly verstanden sie sich gut und sie mit ihnen. Auch der alte Hoppe sagte mir nach Jahren noch, wie wohl sie ihm gefallen. Das Fest selbst verlief schön. Der Besuch war allerdings nicht sehr stark, die Zuhörerschaft aber von Anfang bis zum Ende sehr aufmerksam. Kastropp schrieb mir nachher noch, er hätte kaum je ein Missionsfest gefeiert, das sich von Anfang bis zu Ende so auf der Höhe gehalten.
Fräulein Pommer verließ uns im August. Gleichzeitig aber kam Schwester Gretchen [Margarethe], die zuvor Tante Anna Roon auf einer Reise nach Tirol begleitet hatte, auf einige Wochen zu uns und brachte neuen Sonnenschein ins Haus. Sie war damals auf der Höhe ihrer Jugendblüte und mit ihrer anmutsvollen Erscheinung und ihrem frischen fröhlichen Wesen elektrisierte sie alles. Der Oberamtmann Wilhelmi war förmlich verliebt in sie. Uns interessierten natürlich auch ihre Reiseschilderungen.
Ein Höhepunkt dieses Sommers war noch der Kongress für Innere Mission in Bremen, Anfang September [1881]. Schon die Aussicht, die alte Hansestadt kennen zu lernen, reizte mich. Außerdem hoffte ich interessante Bekanntschaften zu machen und Anregungen für mein Amt zu empfangen. Freiquartier hatte ich erhalten bei einer Witwe Corssen in der Neustadt, einer liebenswürdigen alten Dame mit einer geistig angeregten Tochter. Das Quartier teilte mit mir Budy, Pastor aus Schwanebeck bei Berlin, Schwiegersohn Straubes und Herausgeber des von diesem begründeten Werderschen BibellesezettelsDer Werdersche Bibellesezettel wurde ab 1857 von Pastor Karl Straube herausgegeben, der in Werder (Kirchenkreis Luckenwalde) erster Pfarrer war und dort eine christliche Vereinstätigkeit begründete. Der Bibellesezettel war eine Anleitung zum Lesen und Verstehen der Bibel. Die Auflage erreichte 1869 180.000 Exemplare.Klick hier zum Internet [9a]. Seine Frau hatte mit Elly die Freytagsche Schule in Cöslin besucht. So gab es gleich wieder Beziehungen. Wie ich ihm bei einer Konferenz behilflich war, den Bibellesezirkel für das kommende Kirchenjahr zu verteilen, so habe ich in der Folgezeit lange Jahre hindurch den Bibellesezettel für meine Konfirmanden, aber auch für andere Gemeindeglieder, von ihm bezogen und mich dadurch mit ihm in Verbindung gehalten. Er war etwas früher angekommen als ich und berichtete mir noch von dem Begrüßungsabend, an dem er teilgenommen. Am anderen Morgen war Eröffnungsgottesdienst im Dom, bei dem Kübel die Predigt hielt über den Wahlspruch des im Frühjahr zuvor heimgegangenen WichernJohann Hinrich Wichern (1808-1881) war ein Theologe, Sozialpädagoge, Gründer der Inneren Mission der Evangelischen Kirche, des Rauhen Hauses in Hamburg und Gefängnisreformer.Siehe Wikipedia.org [10]: Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.
Dann folgte die erste Hauptversammlung im Saalbau des Doms, wobei Beyer, Konsistorialrat in Wiesbaden, der spätere Hof- und Domprediger in Berlin, den Vortrag hielt über ein allgemeiner lautendes Thema, das jedenfalls die christliche Beeinflussung des Volkslebens betraf. Am Abend war Gottesdienst in der Friedenskirche mit Predigt von Lohmann, dem früheren Leipziger Geistlichen, unter dessen Leitung ich seinerzeit an der Sonntagsschule von Thorberg gearbeitet hatte - ich benutzte einen der folgenden Tage die Gelegenheit, ihn zu begrüßen, und er erinnerte sich meiner - über den Text der Vormittagspredigt, in dem er uns zu einem Ährenlesegang
einlud. Hinterher ging ich mit Budy zu Zauleck, dem er befreundet war, bei dem wir noch mehrere jüngere Geistliche trafen. Wir tranken bei ihm Tee. Dann legte er uns einen Bibeltext vor (Lukas 10, 17 bis 20), über den er am nächsten Sonntag predigen wollte, um die Eindrücke des Kongresses bei seiner Gemeinde zu vertiefen. Er käme in diesen Tagen aber nicht dazu, sich auf die Predigt vorzubereiten, darum möchten wir ihm behilflich sein. So gab er eine Auslegung, und wir trugen jeder an seinem Teile bei. Der folgende Tag war für die Spezialkonferenzen bestimmt. Ich nahm an einer Konferenz für Jünglingsvereine teil, in der ein Referat von Buchrucker und Muncher, der am Erscheinen verhindert war, vorgelesen wurde, an einer für Kindergottesdienst, in der Dibelius, und einer über Prostitution, in der Wilhelm BaurWilhelm Baur (1826-1897) war ein evangelischer Theologe und Volksschriftsteller.Siehe Wikipedia.org [11] vortrug. An diesem Tage fand auch gemeinsames Mittagessen im Parkhaus statt, bei dem natürlich verschiedene Tischreden stiegen.
Erinnerlich ist mir, dass Wilhelm Baur - von Budy Wilhelm Frauenlob genannt - auf die Frauen toastete, ferner ein etwas platter Toast von Otto Funcke, in dem er der Stadt Bremen ziemlich derbe Wahrheiten sagte, und einer von Dalton, der besonders das Interesse für die evangelische Kirche im russischen Reich erwecken wollte.
Die Abendpredigt hielt Uhlhorn in der Liebfrauenkirche. Budy war Zeuge gewesen, wie er, der an diesem Tage erst aus Hannover eingetroffen war, sich mit KögelRudolf Kögel (1829-1896) war ein evangelischer Theologe und Kanzelredner.Siehe Wikipedia.org [12] begrüßte, der ihn gleich nach dem Text seiner Predigt gefragt hatte. Er hatte aber nicht wieder denselben wie Kögel und Lohmann, sondern: Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.
Nach dem Gottesdienst ging ich mit Mayer-Salzhausen, dem Onkel von Freund Wagner, mit dem ich zusammengetroffen war, in den Ratskeller und wartete in einer der dortigen gemütlichen Kojen auf Onkel Bernhard [Rogge], mit dem ich schon nach Tisch bei einer Tasse Kaffee mich zusammengefunden hatte, und der dann mit seinem Freunde ThikötterJulius Thikötter (1832-1913) war ein evangelischer Geistlicher und ein produktiver theologischer Schriftsteller.Siehe Wikipedia.org [13] und dem Oberhofprediger Kretzschmar aus Gotha auch eintraf. Oberschulrat Böckler fand sich noch herzu, und da gab es dann neben einem guten Tropfen auch eine recht angeregte Unterhaltung.
Am letzten Konferenztage endlich war die zweite Hauptversammlung mit einem Vortrage des nachmaligen Generalsuperintendenten HesekielJohannes Hesekiel (1835-1918) war evangelischer Theologe.Siehe Wikipedia.org [14] in Posen, damals noch Pastor in Magdeburg-Sudenberg über Armenpflege und einem Korreferat von Landrat Elvers-Wernigerode. Hier traf ich mit Freytag zusammen, der mir aus dem Friederikenstift erzählte. Auch Uhlhorn durfte ich begrüßen. Am Abend war ich wieder in Moisburg, wo ich dann den Schwestern natürlich von meinen Erlebnissen und Eindrücken berichten musste.
Inzwischen kam der Herbst [1880] heran, wo Elly, wie ausgemacht war, mich wieder verlassen sollte. Tante Anna [von Roon geb. Rogge], die sich sehr an sie gewöhnt hatte, wollte sie im Winter wieder einige Zeit für sich haben, und da Elly unser Mädchen angelernt und demselben besonders auch das Kochen beigebracht hatte, glaubte man, mich ihm aufs erste überlassen zu sollen. Ohnehin meinte man, dass ich mich eher zu heiraten entschließen werde, wenn ich nicht die Schwester bei mir hätte. Ehe aber Elly nach Crobnitz zurückkehrte, wünschen die Eltern sie eine Zeit bei sich zu haben. So kam denn Vater, den es ohnehin danach verlangte, mich einmal auf der eigenen Pfarre zu sehen, in den letzten Tagen des September nach Moisburg. [Mein Bruder] Georg [Dittrich] war mit ihm. Derselbe war von Thorn, wo ihn heiratssüchtige Frauenzimmer verfolgt hatten, nach dem Westen versetzt, wo er in Höxter, Paderborn und Lippstadt fortfuhr, Herzen zu brechen. Zwischendurch war er übrigens auch zur Zentralturnanstalt kommandiert gewesen. In Hamburg trafen sich beide. Sie waren etwas ironisch gestimmt, als ich sie von Buxtehude abholte. Vater war aber doch überrascht von der idyllischen Lage der Pfarre. Auch sonst äußerte er sich befriedigt. Wir hatten nach einem regnerischen Spätsommer noch einige schöne Tage. Georg reiste Sonntag früh wieder ab. Vater feierte das Erntedankfest mit uns und ging am Nachmittag mit uns zu Kastropps, von denen Elly sich zugleich verabschiedete. Die andere Pastorenfamilie, mit der wir gute Nachbarschaft gehalten, Rakenius in Buxtehude, hatte uns schon Anfang September verlassen, da er zum Superintendenten in Lesum ernannt worden war.
Mittwoch früh fuhr Vater mit Elly ab, und ich blieb allein mit meiner Anna zurück und fing an, mich einzuwintern. Gerade am Morgen der Abreise war das Wetter ziemlich unfreundlich. Ich hatte mir zum ersten Mal einheizen lassen und machte mich an meine Arbeit zum Konvent, die mir als dem Inhaber der weitaus kleinsten Pfarre der Inspektion übertragen worden war.
[10] Johann Hinrich Wichern (1808-1881) war ein Theologe, Sozialpädagoge, Gründer der Inneren Mission der Evangelischen Kirche, des Rauhen Hauses in Hamburg und Gefängnisreformer.
[11] Wilhelm Baur (1826-1897) war ein evangelischer Theologe und Volksschriftsteller.
[12] Rudolf Kögel (1829-1896) war ein evangelischer Theologe und Kanzelredner.
[13] Julius Thikötter (1832-1913) war ein evangelischer Geistlicher und ein produktiver theologischer Schriftsteller.
[14] Johannes Hesekiel (1835-1918) war evangelischer Theologe.