Start ins Leben 1939 in einem kleinen Eifeldorf
Kapitel 2
Das Zünglein an der Waage
Im Mai 1945 kehrten wir in unser zerstörtes Eifeldorf Eicherscheid zurück.
Das Erste, was wir sahen, war ein großes Geschütz am Ortseingang auf einer unserer Wiesen. Es sah sehr bedrohlich aus. Durch die Kriegshandlungen war Eicherscheid zu 80 Prozent zerstört worden. Am 30. Januar 1945 hatten die Amerikaner unser Dorf vom Nazi-Terror befreit und die Wehrmachtssoldaten vertrieben oder gefangen genommen. Die Kirche war als Frontkino
für die amerikanischen Soldaten eingerichtet worden, aber der Kirchturm war eine Ruine. Alles Vertraute war nicht mehr da, mutlos standen wir vor dem zerstörten Elternhaus.
Mein Großvater machte uns Mut und meinte Die Hauptsache, wir sind wieder in der Heimat, alles andere wird sich finden
. Nach und nach kamen immer mehr Menschen zurück. Trümmer wurden beseitigt und die Häuser, die noch vorhanden waren, notdürftig hergerichtet. Es war ein Glück, dass die Kartoffelernte 1944 nicht stattgefunden hatte, weil wir evakuiert wurden. Die Kartoffeln blieben den Winter über in der Erde und deshalb wurde die Kartoffelernte im Frühjahr gemacht. Das hat viele vor dem Hungern bewahrt. Gleichzeitig wurden wieder neue Kartoffeln ohne Vorbereitung des Bodens gepflanzt. Meine Mutter meinte später im Herbst bei der Ernte, So gute Kartoffeln hatten wir noch nie
.
Mein Vater war noch immer vermisst, wir bekamen nie ein Lebenszeichen, wussten aber, dass er in russischer Gefangenschaft war. Im September sollte der Schulbetrieb wieder aufgenommen werden. Der Ortsvorsteher kam zu meiner Mutter und fragte Möchtest du deine Tochter nicht auch einschulen, uns fehlt ein Kind zur Einstellung einer Lehrerin
. Und so kam es, ich wurde mit fünf Jahren, am 1. September 1945 eingeschult, ich war das Zünglein an der Waage
. Nun brauchte ich auch ein neues Schulkleid. Es gab aber keine Stoffe zu kaufen und so kam meine Mutter auf eine Idee, es gab ja noch die Hitlerfahne mit dem Hakenkreuz. Jeder Haushalt bekam im Krieg solch eine rote Fahne ins Haus. Meine Eltern haben sie nie benutzt, deshalb war sie wohl noch zu gebrauchen.
Das Kleid hat Mutter daraus genäht und mit einem weißen Kragen geschmückt. Aus einem Schieferdachziegel hat Großvater mir eine Schultafel gemacht. Die Tafel hatte einen Holzrahmen, daran wurden ein Schwamm und ein kleines Stück Stoff befestigt. Einen alten Lederschulranzen von meinem Vater konnten wir noch aus den Trümmern retten. So ausstaffiert ging es mit meiner Mutter am ersten Tag zur Schule. Wir waren neun Kinder, sechs Buben und drei Mädchen. Die Jahrgänge eins bis vier wurden in einem Raum unterrichtet. Die anderen Klassenräume mussten noch instandgesetzt werden. Im November konnte der Unterricht der Oberstufe begonnen werden.
Ich hatte Probleme in der Schule, das Stottern, das sich im Krieg durch die vielen Bombenangriffe gefestigt hatte, wurde ich nicht los. Der Satzanfang bereitete mir große Schwierigkeiten. Logopädie
war damals ein Fremdwort, es gab niemanden, der mich unterstützen oder heilen konnte, ich musste mir selbst helfen. Dann bemerkte ich, wenn ich die ersten Wörter im Satz singe, geht der Rest wie von selbst. Anfangs haben alle Kinder gelacht, dann fanden sie es sogar lustig. Die Lehrerin Frau Lauer hat mich ermutigt weiterzumachen. Bald konnte ich sprechen ohne zu stottern und die Schule begann mir Spaß zu machen.
Eine Rechenmaschine stand im Klassenzimmer, von einem Schreiner gemacht. Mit einhundert Garnrollen, gesammelt in der Gemeinde und farblich gekennzeichnet, haben wir anschaulich das Rechnen gelernt. Ein großer Säulenofen sorgte für Wärme im Klassenraum. Wir Kinder haben das Brennholz mit zur Schule gebracht. Das Leben für uns Kinder fing so langsam an sich zu normalisieren.
Anfang November bekam meine Mutter eine Nachricht, dass ihr Mann, mein Vater, Alois Fink in Berlin sei und auf einen Transport nach Hause vorbereitet würde. Die Freude im Haus war unbeschreiblich groß. Die Großeltern sorgten gleich für genug Essen, ihr Sohn war bestimmt in einem schlechten Zustand. Damit sollten sie Recht behalten. Am 7. November 1945 stand plötzlich, ausgemergelt und zerlumpt, ein fremder Mann vor unserer Haustür. Meine Mutter weinte und rief Papa ist da!
Das sollte mein Vater sein? Er hatte keine Ähnlichkeit mit dem Bild an der Wand. Ich habe mich zuerst vor ihm gefürchtet. Es hat eine gewisse Zeit gedauert, ehe ich begriffen habe, dass nun mein Vater wieder da ist und wir wieder eine Familie sind.
Mein Vater hatte immer Hunger, auch nachts stand er auf und ging in die Speisekammer. Zum Glück hatten wir genug Kartoffeln, morgens, mittags und abends gab es Kartoffeln. Wir hatten weder fließend Wasser noch Strom, das Wasser holten wir aus unserem Hofbrunnen. Für Brot wurde Getreide mit der Handmühle gemahlen, mit Sauerteig angesetzt und im Steinofen gebacken. Mein Vater hat mit uns Kindern nie über seine Kriegserlebnisse geredet. Aber er hat ein Gedicht für uns hinterlassen, Heimkehr 1945
. Seine Gefühle von der Sehnsucht nach der Heimat hat er aufgeschrieben.
Heimkehr 1945
Einst stand ich am Meeresstrand,
fern im Osten, in weitem Land.
Stürmisch die Wogen schlugen,
grau die Wolken zogen.
Westwärts, mit all meinem Sehnen
fielen der Heimweh Tränen
in den toten Sand
dem weißen in Rußland.
Wenn ich des Abends müd mich auf mein Lager legte,
kroch ich unter mein zerrissenes Mantelkleid
und träumte von der Heimat, die so weit.
Mein Vater sah ich hinterm Pfluge ziehn
und Frau und Kinder zur Kirche gehen,
die Nachbarn auch im Sonntagsstaat
wohl dem, der seine Heimat hat.
Und all die einst zu froher Stunde
sich freuten mit mir in froher Runde,
zogen im Geist an mir vorbei,
als wenns gestern noch gewesen sei.
Ich zog durchs Dorf mit meinen Musikanten
und hinter uns die Schultrabanten.
Mein Heimatdorf in Frühlingspracht,
auf Feld und Flur die Sonne lacht.
Dort vorm Haus der Fliederbaum,
doch alles, alles, war nur ein Traum!
Mutlos starrt ich durch den Stacheldraht den grauen
werd ich die Heimat noch mal schauen?
Ich kehrte heim, geschlagen und zerschlissen
die Hoffnung aus dem Herz gerissen
’s Dörflein ward zernarbt, zerschunden
und blutet noch aus tausend Wunden.
Zum Kirchlein führt mich dann mein Gang,
dort war der alte Küster, der noch sang.
Die andern waren stur und schwiegen,
wem sollt noch was am Singen liegen!
In mancher Stube war noch des Krieges wogen,
Sorg und Leid, Schmerz und Trauer eingezogen.
Und um viele, die mit mir fortgegangen,
Frau und Kinder, Braut und Eltern bangen.
Und immer härter ward das Geschick,
nie kehrten sie zurück.
Nach langer Fahrt, kehrt ich über den deutschen Rhein,
wollts nicht fassen, meint es könnt nicht sein!
Das die Heimat und die Freiheit mich empfangen
und Lagerleben und Kommandoton vergangen.
Doch die Zeit, die blieb nicht stehn,
das Leben musste weitergehen.
Mit Gottvertrauen, Hoffnung, neuem Mut fing dann
das Leben wieder von neuem an,
doch wer spricht heut noch davon
von dem Schicksal meiner Generation.
Im November kam ein Transport mit holsteinischem Rindvieh in unser Dorf. Es sollte ein Neuanfang sein. Einzelne Tiere waren gut und zu gebrauchen, aber der größte Teil, 70 bis 80 Prozent der Tiere nur noch für den Schlachthof. Viele junge Menschen haben sich dann mit Schmuggeln über Wasser gehalten. Die Nähe zu Belgien und Holland wurde genutzt, was jedoch, wenn man erwischt wurde, im Gefängnis endete. Mein Vater hat das Schmuggeln nie mitgemacht, er hatte zu viel Angst, erwischt zu werden. Die Hilfe untereinander war in unserem Dorf großgeschrieben, aber es fehlten überall die Männer, und die Frauen mussten ihre Kinder allein durchbringen. Mein Vater hat, als er wieder bei Kräften war, vielen geholfen.
Es sind auch bei der Feldarbeit noch Unglücke passiert, wenn Fuhrwerke auf Minen gefahren sind. Die Eifel war bis 1945 ein Kampfgebiet, es wurde noch lange nach Kriegsende nach Bomben abgesucht.
Jetzt erinnern noch viele Soldatengräber mit den Gefallenen aller Nationen an diesen sinnlosen Krieg. Die 1934 von den Nazis errichtete Ordensburg Vogelsang, Hitlers Kaderschmiede, steht noch heute zur Besichtigung und zur Mahnung in der Eifel.
Unser Dorf Eicherscheid hat heute die doppelte Einwohnerzahl. 2007 wurde eine Goldmedaille auf Bundesebene verliehen. Im September 2021 gab es eine 600-Jahrfeier in Eicherscheid, die unter Corona-Bedingungen gefeiert wurde. Aus Schutt und Asche ist wieder ein schönes und liebenswertes Dorf entstanden. Ich fahre gern mit meiner Familie in die alte Heimat in Urlaub.