Start ins Leben 1939 in einem kleinen Eifeldorf
Kapitel 7
Weißer Sonntag 1947 in der Eifel
Nach einem frühen Wintereinbruch 1946/1947 folgten Frost und eisige Kälte. Die Böden froren bis zu 50 Zentimeter tief. Schnee fiel nur wenig, aber die eisige Kälte machte Menschen und Tieren zu schaffen. Unser Dorf Eicherscheid war noch vom Krieg gezeichnet, die Häuser notdürftig hergerichtet. Die Menschen wohnten beengt. Gegenseitig half man sich, was den Wohnraum betraf. So wohnten mehrere Familien auf engstem Raum.
Hunger und Kälte waren die Menschen gewohnt. Jeder versuchte auf seine Weise, Nahrung zu beschaffen. So war es ein Glück, dass die Kartoffeln vor der Flucht nicht mehr geerntet werden konnten. Das hat viele vor dem Hungertod bewahrt. Der Frühling zeigte sich schon Ende März, es wurde wärmer.
Am Weißen Sonntag, dem Sonntag nach Ostern, sollte ich mit zur Mit ihrer Erstkommunion bestätigen katholische Kinder zum ersten Mal selbst, dass sie an Gott und an die Katholische Kirche glaubenErstkommunion gehen. Es war die erste nach Kriegsende. Es sollte auch ein Neuanfang sein. Die Kirche war notdürftig renoviert und es konnten wieder Gottesdienste stattfinden. Der Kirchturm war allerdings noch nicht wieder aufgebaut, nur mit Holz repariert worden.
Ich war sieben Jahre alt und in der dritten Klasse wegen der frühen Einschulung nach dem Krieg. Es fehlte damals ein Kind, um die Schule eröffnen zu können. Das war ich dann. Es zog sich wie ein Faden durch meine Schulzeit. Immer und überall war ich die Jüngste.
Wenn unsere Lehrerin besondere Aufgaben verteilte, war immer der Spruch: die drei Ältesten nach vorne
. Ich kam nie dran. Das fand ich ungerecht. Später in der Berufsschule änderte sich das. Damit ging es mir besser.
Die Vorbereitungen zum Weißen Sonntag begannen schon Monate vorher. Wir Kinder mussten die zehn Gebote auswendig lernen, den Katechismus lernen und Lieder üben.
Unser Pfarrer Jansen legte großen Wert auf Pünktlichkeit und Anwesenheit. Die erste und letzte Ohrfeige in meiner Schulzeit habe ich in der Kirche bekommen, weil ich das Kreuzzeichen mit der linken Hand gemacht habe.
Wir haben für eine gute Tat Adressen von Kindern aus der DiasporaDiaspora (altgriechisch für Zerstreuung
) bezeichnete ursprünglich eine Gruppe von Menschen, die ihre Heimat unfreiwillig verlassen mussten und über mehrere fremde Länder verstreut wurden, beziehungsweise das Gebiet, in dem diese Gruppe dann als Minderheit lebte. Lange Zeit bezog sich der Begriff vor allem auf das Exil des jüdischen Volkes.Siehe: Lexikon der alten Wörter und Begriffe bekommen. Dort wohnen arme Kinder, die nichts zu essen haben, wurde uns im Unterricht erzählt. Ich wusste nicht, wo die Diaspora sein sollte, was sollte man da hinschicken? Wir hatten ja selbst nur das Nötigste.
Mutter kam auf die Idee, wir packen ein Stück Speck ein, von unserer Hausschlachtung. Damals hatten wir schon ein kleines Schweinchen mit Küchenabfällen und Getreideschrot groß gezogen.
Ich habe noch einen kleinen Brief dazu geschrieben und eingepackt. Die Pakete wurden zum Pfarrer gebracht und an ihren Bestimmungsort weitergeleitet.
Einige Wochen später bekam ich ein Päckchen von einer Ilse Scheelke aus Pinneberg zugeschickt. Sie bedankte sich für unser Päckchen und hatte Buntstifte und ein Malbuch für mich im Paket.
Was war das denn? Ich hatte noch nie solch schöne Buntstifte besessen. Das sollen arme Menschen sein? Wir haben uns dann gegenseitig Karten geschrieben, bis ich ihre Adresse verloren hatte. Die letzte Karte kam von Ilse. Ich habe dann nochmal einen Versuch gestartet, aber die Karte kam als unzustellbar zurück. Schade, das war das Ende unserer Brieffreundschaft.
Nun kam der Weiße Sonntag. Ich trug ein weißes Kleid, das meine Mutter genäht hatte. Woher der Stoff kam, weiß ich nicht. Dazu trug ich aus dem gleichen Stoff einen Haarkranz. Von meiner Tante hatte ich eine Silberkette mit einem Kreuzanhänger bekommen. Die habe ich stolz getragen.
Nur die schwarzen Schuhe, für Jungs gemacht, passten leider nicht dazu. Aber meine Eltern konnten keine passenden Schuhe für mich bekommen. Ich fühlte mich damit nicht wohl, aber barfuß konnte ich schließlich auch nicht gehen.
In Zweierreihen stellten wir uns vor der Kirche auf und zogen feierlich in die Kirche ein. Wir durften vor der Feier nichts essen oder trinken. Alle mussten nüchtern sein, sonst durften wir nicht zur Erstkommunion gehen. Aber an Hunger waren die meisten Kinder gewöhnt, und so lief die Feier ohne Zwischenfälle ab.
Nach der feierlichen Messe ging es nach Hause. Ein großes Fest, wie es heute ausgestattet wird, gab es nicht. Wir Erstkommunionkinder haben vom Pfarrer eine Konserve bekommen. Huhn mit Reis. Das wurde für uns Kinder warm gemacht. Wie es geschmeckt hat, weiß ich nicht mehr.
Die Erwachsenen haben ein Schinkenbrot gegessen. Meine Tante Anna, so nannten wir Kinder sie, war aus Rheinbach angereist und hatte die Halskette mitgebracht. Wie sie das geschafft hat, weiß ich nicht mehr. Es gab noch keinen Busverkehr in der Eifel. Auf der Flucht hat sie uns bis zum Ende des Krieges bei sich wohnen lassen. Eigentlich war sie keine richtige Tante, aber wir Kinder liebten sie.
Von meiner Erstkommunion gibt es sogar Bilder. Mein Vater hat nach dem Krieg seine Kamera aus dem Schutt geborgen und wieder funktionstüchtig gemacht. Ein Stativ wurde aufgestellt, darauf die Kamera aufgebaut. Etwas wie eine Glasscheibe wurde eingelegt und Vater verschwand mit seinem Kopf unter einem schwarzen Tuch. „Alle auf die Kamera schauen und lächeln, gleich kommt ein kleines Vögelchen“, sagte er zu uns. Dann drückte er auf den Auslöser, nahm das dunkle Tuch vom Kopf und lachte. Ich wartete noch immer auf das kleine Vögelchen.
Am nächsten Tag ging es wieder zur Schule, ich hatte das Gefühl, einen schönen Tag erlebt zu haben und fühlte mich erwachsener. Jetzt konnte ich mich in die Gemeinde einbringen und durfte Aufgaben übernehmen. Zum Beispiel bekam ich vom Pfarrer ein kleines Heft mit dreißig Namen aus der Gemeinde. Alle vier Wochen, sonntags, ging ich zu den Gemeindemitgliedern und sammelte für die Diaspora. Es waren nur Groschen, die ich säuberlich in das kleine Heft eintrug. An jeder Tür sagte ich den gleichen Spruch auf: Schönen Sonntag, ich sammle für die Diaspora
. Am Ende habe ich die Summe addiert und beim Pfarrer abgegeben. Das habe ich bis zum vierzehnten Lebensjahr gemacht.