Dauerwelle bei Fliegeralarm
Kaum jemand wird heute noch wissen, was ein Welle-Kabelträger
ist. Allerdings, wenn jemand meiner Generation angehört und zudem noch weiblichen Geschlechts ist, hat sie vermutlich schon einmal Bekanntschaft mit diesem Gerät gemacht. Sie hat sicherlich dabei keine Todesängste ausgestanden wie ich dazumal
vermutlich im Jahre 1943.
Ich hätte es auch vergessen, wenn ich nicht gerade das Elektromuseum in Rendsburg besichtigt hätte, ein Geheimtipp
unter Museumsfreunden. Zuerst dachte ich ja, ganz unemanzipiert: Das ist doch nur etwas für technisch begabte Menschen, also für Männer. Aber ich versichere, der Rückblick auf die Kinderzeit
von Licht, Wärme, Antrieb, Medizin, Schallübertragung, Funk und Fernsehen ist eines der interessantesten Kapitel des Fortschritts im zwanzigsten Jahrhundert. Gerade für uns Senioren, die in ihrer Lebenszeit die rasante Entwicklung selbst miterlebt, bewundert und genossen haben.
Schon der wunderschöne Bau des Museums in Rendsburg des Jugendstilarchitekten Fritz Höger ist sehenswert. Im Haus gibt es Gute Stuben
im Jugendstil, in die der Strom gerade Einzug
gehalten hat, Keller mit verschiedenen Waschhilfen und Waschmaschinen der letzten hundert Jahre, die meine Generation noch in ihrer Hausfrauenpraxis erduldete und manchmal auch genoss, wie die elektrisch erzeugte Wärme, das Telefon, Schallplatte und Fernsehen und den Blick in die Zukunft. Kurz: den elektrischen Fortschritt im Wandel der Zeit; alles höchst interessant. Ja – und dann sah ich bei den Haarpflegewerkzeugen, die auch einen elektrisch gewandelten Fortschritt hinter sich haben, den bereits erwähnten Kabelträger
.
Flugs sah ich mich zurückversetzt in eine Zeit, in der ich, damals war das fortschrittlich, mit diesem Gerät verbunden war. Ich war im wörtlichen Sinne mit ihm verbunden
. Hingen doch an diesem schirmständerartigen Gerät meterlange elektrische Kabel, die alle an meinen Haaren befestigt wurden. Die Haare, kurz geschnitten, moderne sportliche Frauen trugen Bubikopf
, wurden zu kleinen Strähnen eingerollt, mit einer chemischen Dauerwellflüssigkeit
getränkt, wie ein Bonbon mit einem Papierchen umwunden zusammengedrückt an besagten Kabeln befestigt.
Durch das Kabel floss nun der fortschrittliche elektrische Strom, der im Haarbonbon leise vor sich hinschmorend das Haar kräuselte, in verschiedener einstellbarer Stärke. Stark
nannten wir damals Negerkrause
. Letzteres fand ich aber nicht so gut, es ließ sich mit mehreren Haarwäschen aber wieder entkräuseln.
Die ganze Prozedur nahmen die Frauen auf sich, um in
zu sein, wie man heute sagen würde. Seit 1936 war nämlich die Olympiarolle
modern. Das war eine nach außen gedrehte Haarrolle, für die man wellbare
Haare benötigte. Diese ließen sich nun mit Hilfe der Elektrizität herstellen und waren weitaus dauerhafter als die hausgemachten Kräusel, die mittels Stäbchen, Papierröllchen oder Haarnadeln in Zuckerwasser aufgedreht wurden.
Im Jahre 1943 saß ich in einem Frisiersalon direkt am Bahnhof in Münster. Den Salon kannte ich nicht, war niemals vorher dort, daher vermute ich, dass ich einen Zug verpasste und die Wartezeit nutzbringend mit meiner Verschönerung ausfüllen wollte.
Als man meine Haare gerade mit den schwarzen Kabeln verbunden und elektrisch angeschlossen hatte, ertönte das uns inzwischen bekannte laute Jaulen der Alarmsirenen, was Fliegeralarm bedeutete. Die Sirene war direkt auf dem Bahnhof installiert, da Bahnhöfe natürlich das beliebteste Ziel von Bombenangriffen waren.
In Münster hatten wir damals schon etliche Bombenangriffe erlitten, mit zerstörten Häusern und vielen Todesopfern. Wir hatten es uns auch bereits angewöhnt, bei Alarm so schnell wie möglich in den Luftschutzkellern zu verschwinden. Nur, Fliegeralarm am helllichten Tage war noch durchaus ungewöhnlich, Angriffe erfolgten bis dahin immer abends und nachts.
Trotzdem, oder auch gerade deswegen war der Salon im Nu von allen Kundinnen samt Bedienpersonal geräumt. Vermutlich waren sie alle in den unterirdischen Kellern des Bahnhofs verschwunden. Da ich aber die einzige Kundin war, die gerade unter der Haube
saß, einem großen Metallhelm mit Löchern, mit den Kabeln verbunden, sah ich mich nun allein auf weiter Flur. Zwar hatte die junge Friseuse den Strom ausgeschaltet, sonst wären vermutlich alle meine Haare abgeschmort, und auf meinen Protest hin erklärt, sofort wiederzukommen, aber ich wusste, dass dies gelogen war. Das Auswickeln der etwa zwanzig Haarpäckchen und Abwickeln von den Strippen dauerte mehrere Minuten, wie ich aus Erfahrung wusste.
Mich überkam die pure Angst, während ich festgezurrt an den schwarzen Strippen auf das Kommen der Flugzeuge wartete. Nirgendwo hin konnte ich unterkriechen, nicht einmal auf den Erdboden konnte ich mich werfen. Und der Bahnhof war das Lieblingsziel der Bomber! Zum Glück erfolgte an diesem Tag kein Angriff; ein feindliches Geschwader hatte nur
unseren Luftraum überflogen. Doch ich habe mir geschworen: Nie wieder Dauerwelle, so lange es Flugzeugangriffe gibt!